Fürchterliche Kinder
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Mit dem Sammelnamen „enfants terribles“ d. h. genau verdeutscht: „fürchterliche Kinder“ – bezeichnen die Franzosen eine besondere Gattung kleiner Menschen, über deren oft drolligen Fürwitz Nichtbetheiligte wohl scherzen und lachen können, der aber für die Betheiligten nicht selten unangenehme, ja wohl gar peinvolle Lagen heraufzubeschwören vermag.
Alles, was mit derartigem Fürwitz und seinen etwaigen Folgen zusammenhängt, pflegt nicht ohne gute Lehre zu sein für den, der sich die kleine Mühe geben will, ein wenig darüber nachzudenken! Er wird dann nämlich fast ausnahmslos zu dem Ergebniß gelangen müssen, daß nicht den Kindern, sondern den Großen die Schuld beizulegen ist. Er wird einsehen lernen, daß wir, die Erwachsenen, im Verkehr mit Kindern größtentheils nicht achtsam genug sind – auf uns selbst, daß wir zuerst darnach trachten müssen, unsere eigenen vielfachen Unarten abzulegen, ehe wir ein mustergültiges Betragen von den Kleinen erwarten oder gar verlangen können!
Wer sich mit Kindern umgibt – sei es mit eigenen oder mit fremden – möge doch stets bedenken, wie unverhältnißmäßig groß die Beobachtungs- und Einprägungsfähigkeit der Kleinen ist, und wie der Nachahmungstrieb in ihnen nie ruht noch rastet.
Wenn ich einen Vater oder eine Mutter über die Unarten ihrer Kinder klagen und seufzen höre; wenn gar das Wort fällt: „sie sind gar nicht mehr zu bändigen“, so bedaure ich die armen Kleinen, möchte aber den Eltern rathen, ihr Erziehungswerk in andere, berufenere Hände zu legen, wenn sie nicht ganz von vorn, d. h. mit sich selbst, wieder anfangen wollen. Und dazu dürfte es alsdann wohl leider zu spät sein!
Wie der Arzt auch wohl für die Gesunden Verhaltungsmaßregeln gibt, so könnte ein Seelenarzt rathen: Beobachtet im Verkehr mit Kindern die gewissenhafteste Strenge gegen Euch selbst; haltet Eure Mienen, Eure Worte, Eure Handlungen stets im Zügel! Befleißigt Euch der lautersten Wahrheit und zeigt eine ruhige, womöglich heitere Festigkeit im Wollen!
Hat der Erziehende sich selbst in der Gewalt, so wird er mit dem Kinde oder den Kindern, die seiner Obhut von Gott oder von Menschen anvertraut sind, gar wenig Arbeit und Mühe haben.
Es wird ihm im Gegentheil eine stets wachsende Freude aus dem Umgange mit den Kleinen erblühen, und er wird aus voller Seele den göttlichen Ausspruch unseres Herrn und Heilands nachempfinden: „Lasset die Kindlein zu mir kommen; denn ihrer ist das Himmelreich“.
Wenn wir die Geschichten sogenannter „fürchterlicher Kinder“ überdenken, wie sie uns im Laufe der Zeit zu Ohren gekommen sind, oder wie wir sie selbst miterlebt haben, so ist – unserer Ansicht nach – den Kindern die Schuld an denselben kaum je beizumessen.
Greifen wir nur ein Paar Beispiele zur Erläuterung heraus; alle buchstäblich wahr.
Einer Frau wird unerwarteter Besuch angemeldet: er kommt ihr ungelegen; sie spricht es unverhohlen in der Gegenwart ihres Töchterchens aus, läßt aber trotzdem dieser ersten Unvorsichtigkeit die zweite größere folgen, der anmeldenden Dienerin zuzurufen: „Es wird mir sehr angenehm sein!“
Das Kind staunt, verhält sich aber still. Als es indeß jetzt gewahrt, daß seine Mutter der Eintretenden mit den Worten entgegengeht: „Wie freue ich mich, Sie zu sehen!“ da ist es aus mit seiner Fassung.
„Mutter“, sagt es, „Du hast ja eben noch gesagt, der Besuch sei Dir sehr unangenehm!“
Namenlose Verlegenheit der beiden Erwachsenen. Es ist ein „fürchterliches Kind!“
Aber, so fragen wir, wem ist die Schuld an den Worten des Kindes und an dem peinlichen Auftritte beizulegen, den sie unfehlbar zur Folge haben mußten? Dem Kinde oder seiner Mutter?
Jedenfalls waren es für die betheiligten Erwachsenen Augenblicke, die sie kaum je wieder vergessen dürften. –
Ein zweites Beispiel, aus vielen willkürlich herausgenommen:
Mann und Frau unterhalten sich über einen gemeinsamen Bekannten.
„X. ist nicht mein Mann,“ meint der Hausherr [206] unbedachter Weise in Gegenwart seines kleinen Knaben, „er hat einen zu gewaltigen Nagel im Kopfe.“
Das Kind sagt nichts dazu. Niemand ahnt, daß es überhaupt auf die Unterhaltung der Eltern geachtet hat. Aber als einige Tage später Herr X. bei den Eltern vorspricht und sich zu ihnen an den Tisch setzt, da schiebt der Kleine sich eine Fußbank an den Stuhlrücken des Gastes, steigt hinauf und späht aufmerksam nach den Haaren desselben.
„Fritz, was machst Du da?“ ruft der Vater vollkommen ahnungslos über das Vorhaben seines Söhnchens. Er hatte ja selbst längst vergessen, was er neulich über Herrn X. gesagt, wie konnte er vermuthen, daß seine Aeußerung bei Fritzchen haften blieb!
Der aber legt eine bessere Gedächtnißprobe ab. „Papa,“ ruft er sehr ernsthaft, „ich möchte gern den gewaltigen Nagel sehen, der dem Onkel X. – wie Du gesagt hast – im Kopfe steckt.“
Baff! … Herr X. wußte ja nun ganz genau, wie seine „Freunde“ über ihn dachten! Vielleicht hat das „fürchterliche Kind“ ihm durch seine Worte geholfen, den „Nagel“ loszuwerden, von dem die Rede war. Wir wissen es nicht, – nur das Eine steht fest: Herr X. empfahl sich und ward in jenem Hause nicht mehr gesehen.
Trotz alles Peinlichen, das diesen beiden Geschichten und zahllosen ähnlichen zu Grunde liegt, gehören sie doch in gewißem Sinne immerhin noch zu der harmloseren Gattung. Sie sind schon alt! Aber auch in diesen Stücken scheint uns die Neuzeit leider überlegen zu sein.
Wir wollen nicht behaupten, daß Vorfälle der Art, wie wir sie eben erzählt haben, nicht mehr vorkämen – wir glauben sogar, daß sie sich in unzähligen Veränderungen und Abstufungen noch täglich um uns her wiederholen. Aber wir glauben kaum, daß das, was heutzutage „fürchterliche Kinder“ zu leisten im Stande sind, von früher her zu berichten sein dürfte.
Für diese Behauptung sei es uns gestattet, drei Belege anzuführen, deren Wahrheit wir verbürgen können.
Neulich begegnet ein Vater, während der Schulzeit, seinem hoffnungsvollen Sprößling auf der Straße; die Cigarre im Munde, ein Spazierstöckchen in der Rechten, schlendert der „Schulschwenzer“ daher. Der Vater stellt ihn zur Rede, das Söhnchen ertheilt ungebührliche Antwort.
„Solche Worte hätte ich meinem Vater nicht sagen dürfen,“ ruft der betrübte Mann aus.
„Ja,“ meint das Söhnchen, „Dein Vater wird auch vermuthlich ein ganz anderer Mann gewesen sein, als der meinige.“
Nicht wahr – das gibt zu denken?!
Ein anderer Familienvater sieht sich genöthigt, auf offener Straße seinem Knaben eine wohlverdiente Züchtigung zu ertheilen. Der Bestrafte sieht einen Polizisten vorübergehen. Er ruft ihm zu:
„Verhaften Sie diesen Herrn! Ich bestreite ihm das Recht, mich zu mißhandeln!“
Und nun zum Schluß Nummer drei.
Irgendwo feierte jüngst der Gymnasial-Oberlehrer Dr. *** sein Hochzeitsfest. Am Vorabend desselben erschien in seinem Hause eine „Deputation“ der Quinta, um dem Herrn Doctor, ihrem Ordinarius, als Zeichen besonderer Werthschätzung eine Festgabe zu überreichen. In wohlgesetzten Worten redete der „junge Herr“ den Gefeierten an, und es fehlte nicht viel an einem Ausbruch allgemeinster Rührung. Da plötzlich schlug bei dem Dr. *** die Stimmung in’s Gegentheil um; denn Demosthenes der Kleine[1] knüpfte an seine Glückwünsche „im Namen seiner Commilitonen“ (Mitschüler) die Hoffnung an, „daß der Herr Doctor den Schritt, welchen er zu thun im Begriffe stehe, auch reiflich erwogen haben werde.“
Ich glaube, das ist doch noch nicht dagewesen!
Anmerkungen der Vorlage
- ↑ Demosthenes war ein atheniensischer Redner des Alterthums.