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Ferienheime für Kinder

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Textdaten
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Titel: Ferienheime für Kinder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 364–365
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ferienheime für Kinder.

Hochsommer ist’s. Eine schwere, träge Gluthhitze lagert über den hohen Häusern, den engen Höfen und den spärlichen Gärtchen der inneren Stadt. Müde und verdrossen kauern die Kinder in schmutzigen Winkeln, sie athmen die dunstige Luft, sie schlucken den dicken Staub, der sich in der Atmosphäre aufgesammelt hat, und ihre Wangen, auf denen ohnedies schon schlechte Ernährung und mangelhafte Reinlichkeit geschrieben stehen, sind noch bleicher und eingefallener als sonst. Tag um Tag verlungern sie so in der ungesundesten Umgebung – denn es sind Ferien, die Schulen haben sich geschlossen, und die Eltern dieser Kinder haben keine Zeit und kein Geld, ihnen die Ferien durch freundliche Theilnahme zu vergolden. Von den geistigen Anstrengungen des Lernens mögen diese Kinder sich vielleicht erholen, sofern sie dessen überhaupt bedürfen; von den üblen Folgen der Großstadtluft, der Enge und Feuchte ihrer Wohnung, der ganzen Kümmerlichkeit ihres Daseins erholen sie sich nicht – und dessen bedürfen sie gewiß.

In dieses Elend tönte vor nunmehr bald zwei Jahrzehnten das erlösende Wort herein: Ferienkolonien! Der Schweizer Pfarrer Bion war es, der zuerst 1876 eine Anzahl Züricher Stadtkinder hinausführte in die würzige Luft des Kantons Appenzell, damit sie dort neue Lebenskraft schöpfen könnten. Seitdem sammeln sich alljährlich, wenn die Ferien in den Volksschulen begonnen haben, auf gar vielen städtischen Bähnhöfen große Gruppen kleiner Leute, dort Knaben, hier Mädchen, von Lehrer oder Lehrerin überwacht, ein jedes Kind mit einem Päckchen „Nothwendigstem“ unter dem Arm. Auch einige Herren, anscheinend aus den wohlhabenden Ständen, bewegen sich unter den erwartungsvollen Scharen, Mitglieder der Komites, die sich gebildet haben, um die Mittel für die Aussendung dieser Kolonien aufzubringen. Und bald führt der Bahnzug die Glücklichen einem bescheidenen Landort entgegen, wo sie bei einfacher guter Kost sich der mühelosen aber nichtsdestoweniger nothwendigen Arbeit des Luftschnappens mit Hingebung zu widmen haben.

Das Ernst Wagner-Haus zu Grünhaide im Sächsischen Vogtlande.
Zeichnung von R. Püttner.

Diese Ferienkolonien oder „Sommerpflegen“, wie man sie auch genannt hat, gehören zu den erfreulichsten Erscheinungen in der praktischen Wohlthätigkeit der Gegenwart, und sie haben eine Ausdehnung angenommen, die dem Gemeinsinn unserer großstädtischen Bürger alle Ehre macht, wenn auch noch nicht alle Wünsche befriedigt werden können und manches bleiche Geschöpfchen von dem entscheidenden Schul- oder Komitevorstand mit schwerem Herzen auf „ein andermal“ vertröstet werden muß. Während in Deutschland 1878 zwei Städte 151 Kinder aussandten, waren es im Jahre 1890 nicht weniger als 20.586 Kinder, die von 115 Städten in die Ferienkolonien geschickt wurden. Nimmt man die Kinder hinzu, die nicht durch freiwillige Vereinigungen, sondern durch Stadtbehörden u. dergl. in See- oder Soolbäder gesandt wurden, so stellt sich die Zahl der Pfleglinge in dem letztgenannten Jahre auf nahezu 26.000. Die erforderlichen Mittel für die von Vereinen ausgesandten Kinder sind durchgehends durch freiwillige Leistungen aufgebracht worden. Sie betrugen im Jahre 1886 rund 300.000 Mark, 1890 schon 446.000 Mark. Außer diesen unmittelbar verwendeten Summen haben aber auch viele Vereine theils aus ihren regelmäßigen Beiträgen theils aus besonderen Stiftungen eigene Vermögen begründet, deren Gesamtbetrag im Jahre 1890 sich bereits auf 3.157.380 Mark belief.

Die üblichste Art und Weise, unsere Kolonisten unterzubringen, ist bis jetzt noch die, daß kleine Trüppchen von 12 bis 25 Kindern unter Führung eines Lehrers oder einer Lehrerin sich in einem geeignet gelegenen Landort bei einem guten Wirthe einquartieren, welcher die Verpflegung gegen einen mäßigen Satz übernimmt. So natürlich dieses Verfahren ist und so gute Erfolge man damit erzielt hat, es haften ihm doch auch Uebelstände an. Insbesondere ist es, auch bei weitem Entgegenkommen der Quartierwirthe, immer noch verhältnißmäßig theuer. Ferner entsprechen die Räumlichkeiten, welche der Besitzer eines ländlichen Gasthofs für einen solchen Zweck zur Verfügung stellen kann, vollends bei der starken Belegung, nicht immer den gesundheitlichen Anforderungen, die man an sie stellen muß, soll der Zweck des Landaufenthalts an den kränkelnden Pflänzchen des Stadtbodens erreicht werden. Endlich ist auch die Ueberwachung vielfach erschwert, da die Kinder zur Nacht doch meist in verschiedene Zimmer vertheilt werden müssen. Und was erst mit den müßigen Seelen anfangen, wenn ein heimtückischer Landregen sie unter das Dach bannt! – So kam man denn im Laufe der Zeit auf den Gedanken, eigene Häuser zu bauen oder zu erwerben und sie zur Aufnahme der Sommerpfleglinge einzurichten. Die guten Erfahrungen, die man damit gemacht hat, werden mehr und mehr zur Nachahmung reizen; und wenn wir im folgenden zwei Anwesen dieser Art dem Leser näher vor Augen führen, so möchten auch wir zu weiterem Fortschreiten auf dieser Bahn anregen.

Auch im Schoße des Vereins für Ferienkolonien zu Leipzig war der Wunsch nach der Erwerbung eines eigenen Besitzthums längere Zeit lebendig gewesen, ohne daß sich Mittel und Wege zur Ausführung gezeigt hätten. Da kam plötzlich Hilfe. Im Jahre 1888 starb der Geheime [365] Medizinalrath Professor Dr. Wagner, und aus seinem Nachlaß floß den Ferienkolonien das hochsinnnige Vermächtniß von 30 000 Mark zu. Noch in demselben Jahre erwarb der Verein zu Grünhaide im Sächsischen Vogtland, nur zwanzig Minuten von dem Luftkurort Reiboldsgrün entfernt, ein stattliches zweistöcklges Wohnhaus mit zugehörigen Wirthschaftsgebäuden, Wiesen und Feldern und ließ es alsbald für seinen Zweck herrichten, so daß in ihm noch im Jahre 1888 fünfzig Kinder Aufnahme und Verpflegung finden konnten. Und als die günstigen Erwartungen, welche man daran geknüpft hatte, sich bestätigten, da schritt man im Jahre 1890 zur Erweiterung der Anstalt, indem man gegenüber dem alten Hause, nur durch die Landstraße von ihm getrennt, im Barackenstil ein neues Gebäude errichtete, das dem edlen Spender jenes ersten Heims zu Ehren den Namen „Ernst Wagner-Haus“ erhielt. Nunmehr können hundert Kinder gleichzeitig in Grünhaide versorgt werden, und unser Gewährsmann versichert uns, daß die eigene Wirthschaftsführung es ermögliche, für denselben Preis, der sonst in Gasthöfen bezahlt würde, beinahe die doppelte Anzahl von Kindern in mindestens ehenso guter und reichlicher Weise zu verköstigen.

Grundriß des Ernst Wagner-Hauses.

Sehen wir uns das zweite, neuere Gebäude noch etwas näher an, denn seine Bauart und Einrichtung dürfte überall da Interesse haben, wo ähnliche Einrichtungen angestrebt werden! Es hat nur ein Geschoß und ruht auf gemauerten Pfeilern, so daß die Luft zwischen Diele und Erdboden freien Durchzug hat. Es besteht aus einem Mittelbau und zwei sich anschließenden Flügeln. Den Mittelbau nimmt zum größten Theile der bis zum Dache reichende 9 Meter breite und 10 Meter tiefe Speisesaal ein, hinter welchem noch eine zum Aufenthalt bei regnerischem Wetter günstige offene Halle gelegen ist. Jeder der beiden Flügel enthält einen 16 Meter langen und 7 Meter breiten luftigen Schlafsaal, der tagsüber von der Sonne ganz durchfluthet und außerdem durch besondere Vorrichtungen am Dache gelüftet wird. An die beiden Schlafsäle schließt sich an der Hinterseite des Hauses je ein für den Führer oder die Führerin bestimmtes Zimmer, während der Vorderseite der beiden Flügel je eine vor Regen geschützte, mit Bänken versehene Veranda entlang läuft. Geräumige Spielplätze, durch einen Zaun begrenzt, umgeben das Haus auf allen Seiten. Der Kostenaufwand betrug rund 17000 Mark.

Wie in Leipzig, so legte auch in Dresden die zunehmende Menge der verpflegungsbedürftigen Kinder den Wunsch nach einem eigenen Anwesen nahe; hatte doch der „Gemeinnützige Verein zu Dresden“ im Jahre 1892 nicht weniger als 669 Knaben und Mädchen zu versorgen! So entschloß sich denn der genannte Verein, aus eigenen Mitteln ein „Sommerheim für Kinder“ zu bauen. Er erwarb zu diesem Zwecke für den Preis von 4000 Mark in der Nähe des an der Dresden-Chemnitzer Bahn gelegenen Dorfes Klingenberg eine 8500 Quadratmeter große Parzelle des Grüllenburger Forsts, die durch ihre hohe, gegen Norden geschützte und landschaftlich schöne Lage, durch die unmittelbare Nachbarschaft ausgedehnter Waldungen besonders geeignet schien, als Baugrund für ein „Sommerheim“ zu dienen. Im Anfang des Jahres 1891 wurde der Bau begonnen und bereits im Juni vollendet.

Wir können ihn kurz charakterisieren als eine Verdoppelung des Grünhaider Neubaus. Er besteht im wesentlichen aus zwei 35 Meter voneinander entfernten, ebenfalls auf Steinsäulen ruhenden Fachwerkbaracken, deren jede zwei sonnige und luftige Schlafsäle für je 25 Kinder, einen geräumigen gemeinsamen Tagraum (Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer), zwei Führergelasse und zwei Kleiderkammern enthält. Zwischen beiden Baracken liegt das Wirthschaftsgebäude mit Küche, Speisekammer, Keller, Baderaum, Wohnzimmern für die Wirthschafterin und die Dienstboten und endlich, für vorkommende Nothfälle, zwei Krankenzimmern. Ein breiter, bedeckter, nach Süden offener Gang verbindet die drei Gebäude, der zugleich bei ungünstigem Wetter den Kindern einen erträglichen Aufenthalt bietet. Hiezu kommt noch ein Thorwärterhäuschen, das auch während des Winters von dem Hausmann und seiner Familie bewohnt wird, und ein Waschhaus mit anstoßendem Holz- und Kohlenschuppen. Die Gesammtkosten des Baus betrugen 44 966 Mark. Die innere Einrichtung, welche 8227 Mark kostete, ist durchweg einfach praktisch, aber freundlich und gefällig, immer darauf berechnet, die Kinder zu einem gewissen Sinn für Anmuth zu erziehen, ohne sie zu verwöhnen. Doch fehlt auch künstlerischer Schmuck nicht ganz. Auf der Rückwand des bedeckten Ganges hat der Historienmaler Rödig eine Reihe von humoristischen Bildern angebracht, wie die Kinder willkommen geheißen werden von „Frau Sonne“ und „Vater Wald“, wie sie gewogen werden vor und nach der Sommerpflege u. dergl. m. Die Wände der Hauptgebäude dagegen hat Maler Schultz mit Arabeskenschmuck und allerlei Sinnsprüchen geziert.

Die Aufsicht in dem Sommerheim führt eine Oberin nebst drei Lehrern oder Lehrerinnen, die Verpflegung liegt in den Händen der Inspektorin, der zwei oder drei Hausmädchen beigegeben sind. Eine fest bestimmte Kostordnung schreibt auf drei Wochen für jeden Tag Art und Menge der Speisen vor.

Im Sommer des Jahres 1892 hat das Klingenherger Heim zweimal je hundert und einmal fünfzig Kinder beherbergt, wobei sich alle seine Einrichtungen aufs beste bewährt haben. Durch eine frische Gesichtsfarbe und stattliche Gewichtszunahme quittierten die Kinder auch äußerlich dankend das Empfangene.

Ein sehr kluger und beherzigenswerther Gedanke ist übrigens mit diesem Sommerheim des Dresdener Gemeinnützigen Vereins noch erprobt worden. Um das Heim außerhalb der doch verhältnißmäßig kurzen Ferienzeit nicht leer stehen zu lassen wurde beschlossen, es während der ganzen wärmeren Jahreszeit für blutarme und schwächliche, überhaupt der Erholung bedürftige Kinder gegen eine Vergütung von 10 Mark für die Woche offen zu halten. Die Anstalt dient also außerhalb der großen Sommerferien gleichsam als Genesungshaus für solche Kinder, die durch ihr Befinden am Schulbesuch verhindert sind; und diese können den herrlichen stärkenden Aufenthalt in Luft und Licht genießen, ohne daß die Eltern selbst genöthigt sind, mit ihnen aufs Land hinauszugehen. Anmeldungen für eine derartige Aufnahme in das Sommerheim sind an die Geschäftsstelle des „Gemeinnützigen Vereins“ in Dresden (an der Kreuzkirche 15,I) oder an Herrn Dr. Richard Schmaltz (Pragerstraße 30) zu richten.

So mögen denn diese Beispiele, denen sich noch andere von Hamburg, Bremen, Barmen, Landsberg a. d. W. etc. anreihen ließen, ihre gute Wirkung thun! Zur Schaffung eines eigenen Heims bedarf es naturlich einer einmaligen größeren Ausgabe, für welche Deckung gesucht werden muß, sei es durch Rücklagen aus den laufenden Einnahmen, sei es durch besonderen Anruf der Mildthätigkeit. Wenn aber die Ueberzeugung sich Bahn bricht, wie viel mehr auf diesem Wege zu erreichen ist, so wird es gewiß nirgends an offenen Herzen und offenen Händen fehlen!

Das Sommerheim bei Klingenberg in Sachsen.

Zeichnung von R. Püttner.