Flucht in die Finsternis/II
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Als der Zug den Bahnhof verließ, verweilte Robert am Fenster seines Abteils und nahm ohne Rührung von der gegenüber im blaßrötlichen Grau verdämmernden Insel und vom Meere Abschied, auf dessen fernsten Wellen ein violetter Nachglanz der versunkenen Sonne schwamm. Zwischen ärmlichen Weinbergen keuchte der Zug langsam aufwärts, dem Karstland entgegen, und fuhr bald durch einen langen Tunnel in die abendliche Felsenlandschaft ein, deren Horizont nur die Ahnung, aber nicht mehr das Bild der See in sich faßte. Nun erst streckte sich Robert, den das Umherwandern in den unebenen und schlecht gepflasterten Straßen der alten Hafenstadt ermüdet hatte, auf sein Lager hin und suchte im Herzen nach dem frohen Vorgefühl, das ihn noch heute morgen während seines Spazierganges bewegt und beinahe beglückt hatte. Aber was er fand, war nicht Freude mehr, sondern eine sonderbare Bangigkeit, als fahre er einer bedeutungsvollen, ernsten Entscheidung entgegen. Kündigte die Nähe der Heimat in so unerwünschter Weise sich an? Sollte es ihm bestimmt sein, ebenso bedrückt, wie er fortgereist [17] war, wieder heimzukehren, und brach nun nach manchen guten und freien Stimmungen der letzten Monate jenes Unbegreifliche, kaum in Gedanken, nimmer in Worte zu Fassende über ihn herein, das dunkel drohend noch Schlimmeres anzumelden schien?
Hatten die Ärzte sich geirrt oder ihn mit Absicht getäuscht, die von einer sechsmonatigen zerstreuenden Reise vollkommene Genesung für ihn zu erwarten behaupteten? Doktor Leinbach, sein Freund aus Jugendtagen, war freilich immer geneigt, Beschwerden, die man ihm klagte, leicht zu nehmen, und es konnte kaum als sehr beruhigend gelten, daß er alle irgendeinmal schon am eigenen Leib verspürt haben wollte. Aber daß auch Otto, wenn er ihn für ernstlich krank gehalten, die Verantwortung auf sich genommen hätte, den einzigen Bruder für ein halbes Jahr, ohne jede Begleitung, in die Welt hinauszuschicken, das war in keinem Fall anzunehmen. Zugleich aber mußte Robert sich fragen, und nicht zum erstenmal, ob er sich dem Bruder auch ohne Rückhalt aufgeschlossen und nicht vielmehr in sonderbarer Scheu noch in der letzten Unterredung ihm gegenüber seinen Zustand als harmloser dargestellt, als er selbst ihn empfunden hatte, in der unbewußten Hoffnung, auf diese Art ein gelinderes Urteil zu erfahren?
[18] Urteil: dies war das Wort, das sich ihm innerlich aufdrängte; und es war das richtige. Denn von Jugend auf hatte er sich dem älteren Bruder gegenüber bei äußerlich glänzenderen Eigenschaften als einen Menschen von geringerem Wert erkannt, und er verhehlte sich nicht, daß sein eigener bürgerlicher Wandel von Otto zwar mit Nachsicht, oft aber mit Ungeduld und Unmut betrachtet wurde. Und Robert begriff das sehr gut. Ottos pflichtenschweres Dasein, der Ernst seines Berufes, bei dessen Übung es um so wesentliche Dinge wie um Leben und Gesundheit ging, sein sicheres und zugleich opfervolles Ruhen in der Familie, all das stellte sich für Robert in so hehrem Lichte dar, daß ihm dagegen seine eigene Existenz, wenn sie auch in den Rahmen eines Amts gespannt war, oft genug wie ohne rechte Würde und ohne tieferen Sinn erschien.
Von seinem Bruder als ein Genesener, ja als ein Gebesserter vielleicht, mit Herzlichkeit begrüßt zu werden, dünkte ihn das Beste, was die Heimat zum Empfang ihm bieten konnte. Und daß die freudige Erwartung eines guten Wiedersehens sich allmählich in eine immer unruhevollere Bangigkeit gewandelt hatte, das mußte verborgene Ursachen haben, denen Robert zögernd, aber widerstandslos nachgrübelte. Und er fühlte, wie aus den Gründen seiner Seele dumpf, doch unverscheuchbar, eine Erinnerung [19] emportauchte, als wollte sie sich nicht länger in ihrem jahrelangen trügerischen Schlummer halten lassen; ein Wort fing an in ihm zu klingen, das sich vorerst seinen eigenen Sinn nicht einzugestehen wagte; und mit Absicht flüsterte er dieses Wort einmal, zehnmal, fünfzigmal vor sich hin, als vermöchte er es auf diese Weise seiner Bedeutung wie seiner Kraft zu berauben. Und wirklich begann es allmählich leerer und nichtiger zu werden, war am Ende nichts als ein zufälliges Nacheinander von Buchstaben, willkürlich aneinandergereiht, nicht sinnvoller als unter dem heimrasenden Zug das Singen der Räder, mit dem es sich vermischte und in dem es sich endlich für den mählich Entschlummernden völlig verlor.
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