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Flucht in die Finsternis/X

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« IX Flucht in die Finsternis XI »
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X

Eine Reihe von guten Tagen brach für Robert an. Er nahm seine Berufsarbeiten mit Eifer auf, pflegte einen angenehm zerstreuenden Verkehr mit den alten Bekannten und fand sich täglich für ein Stündchen im Hause des Bruders ein, wo er mit den Kindern scherzte und mit Marianne plauderte. Als diese einmal darüber klagte, daß Otto trotz seiner angestrengten Praxis sich auch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit keine Unterbrechung gönne, benützte Robert gerne die Gelegenheit, dem Bruder wegen einer solchen, auch nicht eben vernünftig zu nennenden Lebensweise freundschaftliche Ratschläge zu erteilen, die zwar geduldig angehört, aber nicht im geringsten befolgt wurden.

Eines Abends im Kaffeehaus wurde in Roberts Gegenwart zufällig der Affäre Rolf Erwähnung getan. Man sprach davon, daß gegen den flüchtigen Anwalt tatsächlich eine gerichtliche Anzeige nicht vorgelegen oder daß sie zurückgezogen worden war; die prächtige Wohnung sei freilich unter der Hand schon für die allernächste Zeit weitervermietet [95] worden. Bei dieser Nachricht wurde Robert von einem unverhältnismäßigen Mitleid erfaßt, und er schien sich mit einem Male hart, ja geradezu verworfen, weil er sich um die beiden Damen, die gewiß ein Lebenszeichen von ihm zu erwarten berechtigt waren, überhaupt nicht mehr gekümmert hatte. Das Gefühl seiner Versäumnis verfolgte ihn in den Schlaf, und am nächsten Morgen fragte er telephonisch an, wann er sich persönlich nach dem Befinden der Damen erkundigen dürfe. Er erkannte die Stimme Paulas erst, als sie ihn mit völliger Unbefangenheit für den Abend desselben Tages um seinen Besuch bat.

Der große Salon, in den er um die sechste Stunde eintrat, sah unwirtlich, beinahe traurig aus. Die Möbel waren mit grauem Leinen überzogen, der Lüster mit weißem Organtinstoff verhängt, wodurch Robert sich an jenen verflossenen Traum von der Sedanschlacht erinnert fühlte. Auf dem geschlossenen Flügel standen allerlei Kunstgegenstände aus Glas, Porzellan und Bronze, offenbar zum Verpacktwerden hergerichtet; aus den Wänden ragten Nägel hervor, und Bilder lehnten verkehrt an den Wänden. Paula trat ein, in hellem Kleid, klaräugig und heiter; und da Robert darauf gefaßt gewesen war, sie trübselig, in dunkler Gewandung und ernst wiederzufinden, erschien sie ihm ganz besonders strahlend, so daß [96] Überraschung sich in seinen Mienen spiegelte. Sie reichte ihm so unbefangen die Hand, als hätte sich seit der letzten Begegnung nicht das geringste verändert. „Es sieht ja nicht besonders schön aus bei uns“, sagte sie einfach, „aber Sie wissen ja wahrscheinlich, daß wir übersiedeln.“

„Bald?“ fragte Robert. – „Vor Neujahr wird sich’s kaum machen lassen. Aber einige Gegenstände, die wir nicht mehr brauchen können, möchten wir womöglich schon früher loswerden. Doch lassen wir das. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Beinahe hätte ich Ihnen geschrieben. Aber es ist mir lieber so.“ – „Wenn ich gewußt hätte, daß mein Besuch – –“ Sie ließ ihn nicht zu Ende reden. „Es hat sich ja allerlei ereignet“, sagte sie, „seit wir uns zuletzt gesprochen haben; aber es scheint wirklich, daß gewisse Ereignisse von den Unbeteiligten schwerer genommen werden, als von den eigentlich Betroffenen. Das Peinlichste an Unglücksfällen ist im Grunde immer die Verlegenheit der andern.“

Robert wollte eben etwas erwidern, als Frau Rolf eintrat, von jener Atmosphäre des Gleichmaßes umgeben, in die anscheinend weder äußere noch innere Stürme Unruhe zu bringen vermochten. Es habe ihr recht leid getan, bemerkte sie, daß sie dem Herrn Sektionsrat auf dem Semmering nicht mehr persönlich hatte adieu sagen können … Und etwas zögernd [97] fügte sie hinzu: „Aber Sie werden ja allerlei gehört und gelesen haben …“

Paula, leicht errötend, unterbrach sie: „In den Zeitungen hat eine Menge dummes und unwahres Zeug gestanden.“ Robert wollte abwehren, Paula aber fuhr fort: „Richtig ist eigentlich nur, daß der Vater abgereist ist und wahrscheinlich nicht mehr in die Stadt zurückkommen wird. Aber eine zwingende Notwendigkeit dazu besteht keineswegs. Es wäre ihm eben nur peinlich, grade hier in anderen, gegen früher erheblich geänderten Verhältnissen weiter existieren zu müssen. Er gehört nun einmal zu den Menschen, die ein neues Leben nur in einer neuen Umgebung beginnen können. Bei mir ist das anders; – bei uns“, fügte sie mit einem liebevollen Blick auf die Mutter hinzu.

„Ich danke für Ihr Vertrauen“, entgegnete Robert leise.

„Und jetzt“, sagte Paula im Ton endgültiger Erledigung, „genug von uns. Wie geht’s denn Ihnen?“ Sie erkundigte sich, wie er sich nach einer so langen Urlaubspause wieder in Gebundenheit und Beruf hineingefunden. Ihm war es willkommen, sich aussprechen zu dürfen, und er berichtete lebhaft von seiner neuen Arbeit, die sich mit Fragen des musikalischen Unterrichtswesens beschäftige. Unwillkürlich fiel hierbei sein Blick auf das geschlossene Piano, [98] und als Paula bemerkte, es sei darauf schon lange nicht gespielt worden, schlug Robert, vorerst ohne sich niederzusetzen, ein paar Töne an; sie klangen etwas dumpf, und das Porzellan zitterte leise mit. Paula begann die Gegenstände von dem Klavierdeckel wegzuräumen, und unter Roberts Beihilfe stellte sie Tassen, Teller, Uhr, Armleuchter und Vasen auf den Boden hin. Dann setzte sich Robert an den geöffneten Flügel und hub in seiner Art zu phantasieren an, bis er aus einer Tanzweise, in die er unversehens geraten war und die er dem Moment nicht recht angemessen fand, sich in eine melancholische, in Chopinsche Modulationen verklingende Melodie rettete. Die Frauen schwiegen, nachdem er geendet; er sah sie nicht, da sie hinter ihm in einer Ecke des Zimmers saßen, doch er fühlte, daß ihnen sein Spiel gefallen hatte. Paula erhob sich, trat zu ihm und fragte ihn, ob ihm selbst ein guter Flügel zu Gebote stände. „Ich habe einen vortrefflichen gehabt“, erwiderte er. „Aber im vorigen Frühjahr habe ich ihn, sowie manches andere, verkauft. Sobald ich wieder eine Wohnung nehme, schaffe ich mir einen neuen an. Vorläufig hause ich nämlich noch immer im Gasthof.“ In den Augen Paulas schimmerte ein leises Lächeln auf, und er wußte, was es zu bedeuten hatte. In einem Blick, darin sie sich begegneten, wurde das Einverständnis zwischen ihr und ihm über allen [99] Zweifel hinaus klar, und als er sich verabschiedete, sagte Paulas Händedruck noch deutlicher, als es ihre Worte ausgesprochen hatten: Kommen Sie bald wieder.

Wie ist es nur zu verstehen, fragte er sich auf der Straße, daß ich ihrer in den letzten Tagen mit solcher Gleichgültigkeit gedacht habe, ja, daß sie neulich wie in einer Verkleidung durch meine Gedanken schwebte und ich diesem Maskenbild gradezu feindselig gegenüberstand? Es war wie eine unbewußte Scheu, ja, eine Angst, mich ihr wieder zu nähern; denn tief in mir schlummert offenbar noch die Furcht, daß es ihr als meiner Geliebten, als meiner Frau ebenso ergehen könnte wie anderen, die ich geliebt habe. Wie andern?! – Und er riß sich gleich wieder zurück. Wie ist es ihnen denn ergangen? Ich habe ihnen ja nichts zuleide getan; – darüber besteht nicht der geringste Zweifel mehr. Und doch laufen meine Gedanken immer aufs neue nach dieser Richtung hin, ohne Sinn und Zweck, wie auf ein totes Geleise. Auf ein totes Geleise, wiederholte er. Ja, das ist es. Und das Vergleichswort, das er gefunden hatte, beruhigte ihn beinahe.

Im Kaffeehaus hatte ihn Kahnberg mit Ungeduld erwartet. Der Dichter, der ihn neuerdings zum Vertrauten seiner Liebesschmerzen erwählt hatte, zog ihn in eine stille Ecke und sprach von den Eifersuchtsqualen, [100] die sein Herz durchtobten. Er stehe für nichts mehr ein, behauptete er, er wisse nicht, wie die Sache enden würde. „Heute nacht, während sie schlafend an meiner Seite lag“, bemerkte er in seiner indiskreten Art, die Robert verabscheute, „war ich so nahe daran, ein Ende zu machen – mit allem – mit ihr und mit mir –, daß ich kaum weiß, was mich schließlich davon abgehalten hat. Es sind Abgründe in uns, Herr Sektionsrat; glauben sie mir, Abgründe.“

„Darin bin ich kein Fachmann“, erwiderte Robert abweisend, „und ich weiß nicht recht, warum Sie grade mir die Ehre erweisen, mich in diese Dinge einzuweihen.“

„Das ist sehr einfach, Herr Sektionsrat. Weil Sie, wie Ihnen auf der Stirne geschrieben steht, ein Mensch sind, der viel erlebt hat und daher manches zu verstehen imstande ist, was andere vielleicht mit Schaudern erfüllen würde.“

„Das ist ein Irrtum, Herr Kahnberg, ich verstehe nicht das geringste von Abgründen. In meiner Seele herrschen höchst geordnete Verhältnisse.“

„Daran zweifelte ich nicht“, erwiderte Kahnberg etwas verletzt.

„Ich habe auch nicht recht begriffen“, fuhr Robert immer gereizter fort, „wie ich zu der Ehre kam, auf der Reise Ihr Drama zu empfangen – mit einer übrigens allzu schmeichelhaften Widmung. Auf diese [101] Weise werden Sie mich keineswegs zu Ihrem Komplizen machen. Verstehen Sie mich, Herr Kahnberg?“

„Ich höre mit wachsendem Erstaunen zu, Herr Sektionsrat.“

„Das merke ich. Aber Ihre Art, mir zuzuhören, verzeihen Sie, paßt mir nicht.“

„Ich bedauere in der Tat, Herr Sektionsrat –“

„Paßt mir nicht, Herr Kahnberg“, wiederholte er heftig und erhob sich. „Und wenn Sie das Fräulein umzubringen wünschen“, schloß er heiser, „so tun Sie es gefälligst auf eigene Rechnung und Gefahr. Womit ich die Ehre habe." Er nahm Hut und Stock und entfernte sich. Kaum, daß er auf der Straße stand, sagte er sich, daß er das Gespräch in törichter, ja geradezu verdachterweckender Weise geführt habe, und er beschloß, im Laufe der nächsten Tage die Gesellschaft Kahnbergs, wie überhaupt des ganzen Kreises, lieber zu meiden. Denn bei näherer Überlegung schien es ihm durchaus nicht ausgeschlossen, daß Kahnberg nur dazu ausersehen war, ihm eine Falle zu stellen. Und wenn es auch für ihn selbst feststand, daß er keinen Mord begangen hatte, und glücklicherweise auch, daß er nicht irrsinnig war; – eine andere, höchst bedenkliche Möglichkeit war nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen: daß nämlich irgendein anderer, zum Beispiel der [102] Vetter seiner verstorbenen Frau, Herr August Langer, der früher vom Kartentisch aus in höchst eigentümlicher Weise herübergeblickt hatte, ihn des Mords an Brigitte verdächtigte. Nicht minder denkbar war es, daß Alberta drüben in Amerika an irgendeiner Krankheit hinsiechte und daß ihr Geliebter oder Gatte sich einbildete, Robert hätte der Ungetreuen aus Rache ein schleichendes Gift eingegeben. Und was half es, selber gesund zu sein, wenn die Welt von Geistesgestörten wimmelte? Jetzt fehlte nur noch, daß das arme Geschöpf, mit dem er vor ein paar Wochen einen trübseligen Liebesabend verbracht, an den Resten des mitgenommenen Mahls erkrankt oder gar gestorben wäre. Wie sollte er sich dann von dem Verdacht des Giftmordes reinigen, – insbesondere, wenn man zugleich von irgendeiner anderen Seite mit wahnwitzigen Anschuldigungen gegen ihn heranträte?

Ein Kollege aus dem Ministerium begrüßte ihn und hielt ihn durch gleichgültige Fragen in der abendlich belebten Straße eine Weile fest. Robert stand Rede und Antwort, machte sogar eine spaßhafte Bemerkung über den Baron Prantner, und als der andere wieder verschwunden war, blickte Robert, wie aus einem bösen Traum erwacht, rings um sich her. Menschen gingen an ihm vorüber, elektrische Lampen leuchteten rechts und links, aus der gleißenden [103] Helle wuchsen die Häuser zum dunklen Nachthimmel auf. Das Gefühl einer ungeheuren Verlassenheit überkam Robert mit einemmal. Und plötzlich, erlösend, fiel ihm ein, daß Paula auf der Welt und daß er nicht mehr allein war. Rette mich, murmelte er vor sich hin, unwillkürlich mit gefalteten Händen, als wäre es ein Gebet an sie. Und er warf einen Blick empor, als flüchteten am nächtlichen Himmel die sinnlosen Wahngedanken in das Nichts zurück, aus dem sie gekommen waren.

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