Frau Stehles Antipathie

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Autor: Hermine Villinger
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Titel: Frau Stehles Antipathie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 84–92
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Frau Stehles Antipathie.

Novelle von Hermine Villinger.


Die Bewohner am Schloßplatz wurden seit einiger Zeit durch das tägliche Erscheinen eines großen zottigen Schäferhundes beunruhigt, der alle Anzeichen der Herrenlosigkeit und eines gänzlich herabgekommenen Zustandes an sich trug.

Er setzte sich gewöhnlich mitten auf die Straße, wo er in ein großes Jammergeheul ausbrach, als wollte er alle Menschen zu Zeugen seines abgrundtiefen Elends anrufen. Blieb jedoch ein Vorübergehender stehen und sah nach ihm hin, so ergriff das Tier schleunigst die Flucht. Gegen Abend verschwand er vom Schloßplatz, um am andern Tag zur Mittagsstunde wieder zu erscheinen.

„Polde,“ sagte Frau Stehle, die Kanzleidienersfrau, zu dem kleinen Burschen, der ihr die Kohlen trug, „geh’ mal ’naus und bring’ dem Hund ein paar Knoche, das Geheul kann man ja nimmer mit anhöre.“

Der Kleine trat mit seinem Vorrat auf die Straße und warf dem Hund einen Knochen hin. Das Tier sah ihn liegen, wimmerte leise und traute sich nicht von der Stelle. Ein zweiter Knochen flog heran, der den Hund fast traf; er machte Kehrt, wandte sich aber im nächsten Augenblick um und stürzte wie wütend auf den Knochen los. Während er ihn zerbiß und zernagte, zitterte er am ganzen Körper.

Das Kind warf ihm Knochen um Knochen hin; ein hartes Stück Brot, das unter dem Abfall gewesen, hatte es in die Tasche gesteckt. Als der Hund mit seinen Knochen fertig war, kam er um einen Schritt näher und sah den Kleinen fest an, beinahe herausfordernd, so daß der schnell in die Tasche griff und das Brot holte.

Es war aber so hart, daß es sich nicht zerbrechen ließ, der Kleine ging deshalb zum nahen Brunnen und weichte es ein wenig auf, sodann gab er die eine Hälfte dem Hund und steckte die andere in die Tasche. Das Tier war schnell fertig, setzte sich nieder und ließ den Blick nicht von des Knaben Händen.

Es entspann sich ein Kampf in der Brust des Kleinen; er wollte gehen, aber er brachte es nicht über sich, der Blick des Hundes schien ihn förmlich festzubannen – dieser Blick des Elends, des Hungers und der Not. Verstand er diese Sprache, der kleine blasse Mensch, mit den magern, vom Kohlentragen schwarz gefärbten Händen?

Eine Weile standen sie so, Aug’ in Aug’, der Hund und das Kind, wie gesonnen, einander auf ihre Ausdauer hin zu prüfen. Dann griff der Knabe mit einem Seufzer in die Tasche und warf dem Hund den Rest des Brotes hin. Der verschlang den Bissen, schluckte ein paarmal und legte sich dann nieder, die Schnauze auf die ausgestreckten Pfoten bettend; er schien genau zu wissen: es war nichts mehr zu erwarten.

„Polde, Polde,“ ließ sich die kräftige Stimme der Frau Stehle vernehmen, „Herr du meine Güte, in der Zeit hätt’ ich die Hund’ von der ganzen Stadt gefüttert; ’s ist halt kein Trieb in dir, kein Tummeleifer! Ich sag’ dir’s und du merk’ dir’s: wenn du nit bald deine Lahmheit ablegst, in vier Woche sind wir fertig miteinander.“

Sie gingen durch den Flur des Vorderhauses; im Hof zu ebener Erde lag die Wohnung. Polde fuhr in ein Paar Strohschlappen, und auch in diesen wagte er kaum fest auf den mit Sand bestreuten Dielen des schmalen Vorplatzes aufzutreten.

Die Frau war in die Wohnstube gegangen und hatte die Thüre offen gelassen; es war ein Eckzimmer mit drei Fenstern, die sämtlich weit offen standen. Infolgedessen war hier alles in Bewegung: die Vorhänge mit den wundervoll gehäkelten Einsätzen und Spitzen, die Enden der ebenfalls gehäkelten Tischdecke, wie gepeitscht zappelten sie um den Tisch herum; der Lampenschirm, eine Häkelei auf rosa Seidenpapier, knisterte wie ein kleines Holzfeuer. Der ganze Raum machte den Eindruck einer Häkelmusterausstellung, und jeder mußte es einsehen, daß auf diesem blütenweiß überhäkelten Kanapee unmöglich ein Mensch Platz nehmen durfte. Herr Stehle setzte auch nie den Fuß in dieses Zimmer, das er den „Luftballon“ nannte.

Frau Stehle suchte in der obersten Schieblade ihrer Kommode nach kleinem Geld.

„Erdöl, Schmierseif’, Stiefelwichs – zehn – zwanzig – dreißig – verstande, Polde?“

Er gab keine Antwort; mit vorgestrecktem Oberkörper stand er auf der Schwelle, nach jener Wand der Stube starrend, wo der große Schrank stand, ein schönes altes Möbelstück mit eingelegter Arbeit. In die kranken rotumränderten Augen des Kleinen war plötzlich Leben gekommen; er sah nichts mehr als diesen Schrank.

Da fuhr die Frau herum. „Ob du mich verstande hast?“

Der Knabe schaute sie mit einem so dummen Ausdruck an, daß sie ihn in heller Wut bei den Schultern packte.

„Jetzt sag’ mir nur eins: ob du überhaupt was in deinem Schädel drin hast, will ich wisse – hast was drin oder nit?“

„Den Schrank,“ stotterte er.

Sie lachte laut auf: „Den große Schrank? Ja, was thut denn der in deinem Kopf?“

Er wurde dunkelrot. „Möbelschreiner will ich werde!“

„Du! o lieber Polde, da muß man ein anderer sein; zum Straßekehrer, ja, da könnt’s knapp reiche, von dene tummelt sich auch keiner; alle Eimer im ganze Quartier könnt’ ich ausgeleert habe, bis so einer mit einem Eimerle zu Streich komme ist.“

Frau Stehle war der Schaffeifer in Person; wie ein Wirbelwind ging’s bei ihr treppauf, treppab; die Bureauzimmer, die Bureauöfen, das ganze Haus von oben bis unten hielt sie blank und rein. Dazwischen trieb sie ihr altes Geschäft weiter; sie war eine, wie sie von sich selbst sagte, weltberühmte Büglerin gewesen, und den liebsten ihrer Kunden lieferte sie nach wie vor eine Wäsche, die nicht ihresgleichen hatte.

Die rotwangige, rundliche, äußerst appetitliche Frau zählte jetzt vierzig Jahre; mit dreißig hatte sie sich verheiratet; kurz darauf war ihr die Mutter gestorben. Frau Stehle machte ihren Schmerz so gründlich ab wie ihre Putzereien; sie weinte zwei Tage und zwei Nächte lang, bis sie kein einziges trockenes Taschentuch mehr hatte; hierauf setzte sie das kleine Stübchen, das ihre Mutter bewohnt hatte, unter Wasser, bürstete und fegte wie besessen herum und erklärte: „So, das wird jetzt ’s Bubezimmer.“

Es blieb aber leer; da Frau Stehle nie Zeit zum Nachdenken hatte, machte sie sich auch keinen Kummer darüber.

„Ich hab’ genug Kreuz,“ konnte sie sagen, wenn sie ihren Mann die Treppe herunterkommen hörte – eins, zwei – eins, zwei – so bedächtig, daß ihr die Ungeduld in allen Gliedern zuckte. Und so war er im Sprechen, im Schaffen und im Denken; es pressierte ihm nie, er that seine Pflicht und damit war’s aus. Frau Stehle aber dachte manchmal bei sich selbst: Jesses im Himmel, wenn mein Mann einer wär’ wie ich eine bin, man thät ja auf uns deute!

Und so war sie den ganzen Tag hinter ihm her, schalt über sein langsames Thun und suchte ihm ihren Eifer einzutrichtern. Aber sie kam nicht durch; Stehle war ein breitspurig auftretender Mann mit kühn gedrehtem Schnurrbart und einer außergewöhnlich tiefen Baßstimme; jeder mochte ihn leiden, denn er hatte immer ein Späßchen zur Hand und eine ungemein behagliche Art, jedem, mit dem er zu thun hatte, etwas von seinem Seelenfrieden mitzuteilen. Nur bei der Frau gelang es ihm nicht; ja, so ungern er auch unerfreuliche Angelegenheiten ins Auge zu fassen liebte, er sah es kommen, bemerkte es an einzelnen Aeußerungen seiner Kollegen im Hintergebäude – mit seiner Herrschaft im Hause war es nicht mehr weit her.

„Jetzt sag’ mal, Stehle,“ rief ihm die Frau eines Tages schon auf der Treppe des Vorderhauses entgegen, so daß es die ganze Nachbarschaft hören konnte, „in wie viele Wirtschafte hast du heut’ wieder dein Mäpple spaziere trage?“

Da wußte er sich in seiner Verlegenheit nicht anders zu helfen, als indem er in ein Brummen ausbrach, in ein Brummen, das ungefähr dröhnte wie das nicht allzu ferne Grollen eines Gewitters. So ging er hinter der Frau her, den Gang entlang, und merkwürdig, mit keinem Wort begehrte sie mehr auf. „Ach Gott, Stehle,“ sagte sie, als sie in ihrer Wohnung waren, „um Gottes Wille, sei doch kein so Wüterich; das hört man ja bis in die Kaiserstraß’ – was solle denn die Leut’ von unsrer Eh’ denke, wenn du so wüst thust!“

[86] Da hatte er etwas gelernt: so oft er nun ein wenig lange ausgeblieben war oder sonst ein schlechtes Gewisien hatte, verlegte er sich aufs Brummen; die Frau hörte ihn schon in der Küche, wenn er die Treppe herunter stampfte, und es tönte den Gang entlang, als sei einer aus dem Bärenzwinger im Stadtgarten ausgebrochen. Die Fragen erstarben ihr auf den Lippen, und sie that alles, was er wollte, nur damit er still war. Er brachte es sogar so weit, daß ihm zuweilen gestattet wurde, eines der beiden Fenster im Schlafzimmer zu schließen; hier war sein Tisch mit dem Tintenzeug. Sonst, kaum war er bei der Arbeit gesessen, kam die Frau hereingestürzt: „Da drin ist wieder keine Luft!“ und riß das zweite Fenster auf.

Beklagte er sich: „Siehst denn nit, ich sitz’ ja mitte im Zug?* gab sie ihm zur Antwort: „Das muß einer aushalte könne, Luft muß sein.“

„Gott sei Dank,“ sagte er jeden Tag von neuem, so oft er sich an den blankgescheuerten Tisch in der Küche setzte, „Gott sei Dank, daß unser Küchele nur ein Fenster hat!“ –

„Frau Stehle,“ sagte der Polde, nachdem er seine zehn Eimer Kohlen in die verschiedenen Bureauzimmer geschleppt hatte, „Frau Stehle, er wartet –“

Sie stand in der Küche mit beiden Armen im Waschkübel.

„Wer wartet?“

„Der Schloßplatzhund.“

„Hab’ jetzt keine Zeit, du siehst – geh’ heim!“

Eine ganze Weile verging, da glaubte sie etwas wie einen Seufzer zu hören. „Herrgott,“ rief sie aus, „jetzt steht der Bub’ noch immer da – was willst denn noch?“

Keine Antwort.

„Entweder du redst oder du gehst!“ fuhr sie ihn an.

Er seufzte wieder, das Sprechen wurde ihm offenbar nicht leicht, endlich kam es ihm stockend über die Lippen:

„Er – er hat so – so traurige Auge.“

Frau Stehle fuhr mit dem rechten Arm aus der Seifenbrühe und riß den Küchenschrank auf.

„Da, in dem Schüssele links sind ein paar Sache, hol’s –“

Draußen im halbdunklen Gang beugte sich der Knabe rasch über die Schüssel und nahm einen Mundvoll von dem kalten Gemüse; es überkam ihn sogar einen Augenblick die Versuchung, sich mit dem Essen zu verstecken. Aber er überwand sich, indem er sich vornahm: die Hälft’ will ich ihm geben.

Er hatte eben angefangen, den Hund zu füttern, als an dem Haus neben dem Bureaugebäude ein Fenster geöffnet wurde.

„Du, Kleiner,“ rief ihn eine Frau an, „komm’ einmal her, ich hab’ auch was für das arm’ Tier.“ Dem Polde wurde eine ganze Schüssel voll Knochen und Fleischreste eingehändigt.

„So gute Sache,“ seufzte er in sich hinein, aber die Frau blieb am Fenster stehen und schaute zu, wie sich’s der Hund schmecken ließ; so ging Polde, der sich fürs Leben gern etwas genommen hätte, leer aus.

Die Nachbarn fuhren fort, von dem Abfall ihrer Mahlzeiten herzugeben; ein paar Dienstmädchen aus den nächsten Häusern kamen auch mit Knochen und Brotresten herbei. Der Hund aber wollte seine Mahlzeiten nur vom Polde verabreicht haben; er nahm nichts, wenn ihm ein andrer etwas hinwarf, sondern bellte jeden an und wies ihm die Zähne.

Polde saß nun jeden Nachmittag auf der Treppe des Bureaugebäudes und machte seine Aufgaben, und der Hund saß zufrieden mitten auf der Gasse, statt wie sonst heulend herumzuirren.

Frau Stehle fand einmal den Kleinen da draußen und schalt ihn tüchtig aus: „Was gehst du denn nit heim und machst deine Aufgabe in der warme Stub’, statt auf die naßkalt’ Trepp’ zu sitze?“

Das Kind sah nach dem Hund. „Er ist sonst so allein –“

„Dumm’s Zeug’,“ sagte Frau Stehle, „das ist kein Hund wert, daß einer nix lernt; wie kannst denn du da drauße dein Schriftlich’s mache – gelt, du machst’s nit?“

Polde wurde rot.

Sie wollte ihn in ihrer raschen Art von den Steinstufen wegreißen, da fuhr sie ordentlich zusammen, so eiskalt waren die Fingerchen, die sie in der Hand hielt. „Geh’ in die warm’ Küch’,“ sagte sie, „ich will dir’s erlaube, dein Schriftlich’s meintwege drin zu mache, aber wasch’ zuerst deine Händ’, sonst wird mir’s übel, wenn ich die schwarze Pfote alleweil sehe soll!“

Als er vor ihr herging, erschrak sie über seine fadenscheinigen Höschen, durch die man fast die blanke Haut durchschimmern sah. „Auf Weihnachte mach’ ich ihm einen Anzug,“ nahm sie sich vor.

Während er sein Schriftliches machte, bekam er ein Schüsselchen Kaffee und ein Stück Brot dazu. Er war so schnell damit fertig, daß Frau Stehle zu ihm sagte: „Man könnt’ ja meine, du bekommst den ganze Tag nix zu esse; so viel ich doch weiß, hat dein Vater einen schöne Verdienst; oder geht dir was ab?“

Das Kind wurde dunkelrot und schüttelte den Kopf.

Eben das ärgerte die lebhafte, gesprächige Frau so sehr an Polde: es war nichts aus ihm herauszubringen, nicht ein Lächeln, kein frohes Wort; nie daß er etwas von zu Haus erzählt oder eine genügende Antwort gegeben hätte, wenn sie nach den Seinen fragte.

„Der Bub’ hat keinen offene Blick,“ sagte sie zu ihrem Mann, „jetzt ist er schon bald ein Jahr im Haus, und ich weiß noch immer nit, was in ihm vorgeht – ist er gut oder ist er schlecht? nix weiß ich –“

„Du siehst’s ja, wie er mit dem Hund ist,“ sagte Herr Stehle, „das kann dir doch genug sein.“

Sie zuckte die Achseln. „Er ist halt mei Antipathie!“

Eines Abends, der Polde wollte eben die Küche verlassen, fiel es ihr auf, wie vollgepfropft der Schulranzen war, den er unter dem Arm trug.

„Was hast denn da drin?“ fragte sie und schnürte den Ranzen auf.

Ein paar große Stücke Steinkohlen gleißten ihr entgegen.

„Was,“ schrie sie auf, „nit emal ehrlich ist der Kerl? Seine Dummheit, seine Lahmheit, alles hab’ ich in Kauf genomme – aber nit emal ehrlich! Warum nimmst du Kohle?“ herrschte sie den Buben an, „hat’s dich deine Mutter geheiße? Red’ – die Wahrheit will ich wisse, red’, du verstockter Kerl, du hinterlistiger, jetzt redst einmal oder –“

Da gewahrte sie, wie er am ganzen Körper zitterte, da sah sie den Blick voll Todesangst, der von ihr zu ihrem Mann irrte, sich an dessen Gesicht wie hilfesuchend festklammernd.

„Polde,“ nahm Herr Stehle das Wort, „das war nit brav von dir, so was darf nimmer vorkomme, sonst müsse wir dir den Laufpaß gebe –“

„Von jetzt ab giebt’s keinen Kaffee mehr am Nachmittag,“ unterbrach ihn die Frau, „das ist deine Straf!“

„Den Kaffee hätt’ ich ihm gelasse,“ meinte der Mann, nachdem das Kind gegangen war.

„So? Natürlich, o ja, du, selber so ein Lahmhans – braucht’ ich überhaupt den Bube, wenn du dich tummeln wolltst und eine Stund’ früher aufstehe? Aber ein Mann und sich tummeln, ein Mann und sich eine Müh’ anthun – es ist einer wie der andre. Die Herre da drobe, Gott soll mich bewahre, mein halb’s Tagwerk hab’ ich vollbracht, rücke die erst an; aber in die Nacht ’nein bleibe, nur damit ich so spät wie möglich an meine Zimmerräumerei komm’, das ist ihr Hauptpläsir. So, und jetzt setz’ dich her und lies mir die Zeitung, denn seine Bildung muß der Mensch habe; ich flick’ derweil deine Socke und näh’ am Polde seinem Anzug, denn einen Anzug muß er habe, das laß ich mir nit wegdisputiere.“

Herr Stehle lachte und nahm die Zeitung zur Hand.

Am andern Morgen, als sie beim Frühstück saßen, kam der Polde in die Küche, viel eiliger als sonst: „Jetzt weiß ich auch, warum er so verhetzt ist.“

„Wer?“ fragte Frau Stehle.

„Der Schloßplatzhund,“ sagte das Kind, indem es seinen Morgenkaffee in Empfang nahm und schnell hinunter trank; das Brot wurde in die Tasche gesteckt.

„Ich bin ihm nach, gestern abend – an die Bahn rennt er, an alle Wäge hat er ’rumgeschnuppert und übers Gleis’ – immer hin und her; sie habe nach ihm geworfe und getrete, einen Klotz hat er an Kopf kriegt, daß er geblutet hat. Einer hat gesagt – das ist jetzt alle Abend dieselbe Geschicht’. Drum ist er so verhetzt,“ schloß der Polde.

So lange hatte er noch nie geredet.

„Jetzt wird mir’s immer besser,“ sagte Frau Stehle, „du laß’st einen ja gar nit zu Wort komme.“

„Hm,“ meinte Herr Stehle, „das ist ein arm’s Tier, ein [87] arm’s, der Hundefänger hat ihm auch schon aufgepaßt; ’s hat halt seinen Herr verlore.“

Der Polde stand mit einem Male dicht vor ihm.

„Kann man nix mache, daß er ihn wiederfindet?“

„Ha“, gab ihm der Bureaudiener zur Antwort, „eine Hundemark hat er, glaub’ ich, anhänge, aber man kommt ihm ja nit bei; auf der Mark könnt’s stehe, wem er gehört, nur lese müßt’ man’s könne –“

Polde war mit einem Male so viel flinker als früher; sonst hatte er sich recht Zeit gelassen mit seinen Kohleneimern, jetzt ging’s unter lautem Keuchen die Treppe hinauf; dann besorgte er noch seine Ausgänge, die er sich sonst auf den Nachmittag gespart hatte. Kaum war die Schule aus, war er auch schon auf dem Schloßplatz. Brachten die Leute in der Nachbarschaft nicht das Futter zur rechten Zeit, so ging Polde in die Häuser, um es zu holen. Mit jedem Tag warf er dem Hund die Brocken etwas näher; das Tier stutzte und besann sich; es ließ den Knaben locken, bitten und flehen, indem es ihn unverwandt anschaute, wie um auf den Grund seiner Seele zu dringen. Dann wagte es den Schritt und Polde buhlte am folgenden Tag um einen neuen. Hatte der Hund sein Futter bekommen, so saß er dem Knaben gegenüber, und ganz allmählich wurde der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner.

Es war ein naßkaltes, unfreundliches Wetter; Frau Stehle stand mit dunkelrotem Kopf in ihrer kleinen warmen Küche am Bügelbrett.

„Kannst jetzt das Büble nit reinkomme heiße?“ meinte der Mann, „’s steht immer drauße und friert.“

Frau Stehle wußte es wohl; es ließ ihr auch keine Ruhe, aber hatte es einen Sinn, sich anderer Leute Kinder ins Haus zu gewöhnen? Außerdem war es ihrer mitteilsamen Natur geradezu eine Qual, so ein verstocktes Geschöpf um sich zu haben.

Nichtsdestoweniger ging sie von Zeit zu Zeit unter die Hausthüre, um nach ihm zu sehen, und eines Tages gewahrte sie zu ihrem Schrecken, wie der Knabe ein Stück altbackenes Brot vom Futter des Hundes gierig in den Mund steckte. Sie wies ihn herein.

„Polde, jetzt sag’ mir einmal ehrlich, was habt ihr heut’ zu Mittag gegesse?“

Er machte wieder sein verstocktes Gesicht und schwieg. Aber sie war gesonnen, ihn endlich zum Reden zu bringen, und wappnete sich mit Geduld. Dreimal stellte sie dieselbe Frage an ihn:

„Was ihr heut’ gegesse habt?“

Endlich stotterte er: „Weiß nimmer.“

„Habe sie dir vielleicht nit genug gebe?“

„Doch.“

„Warum aber ißt du denn vom Hund seinem Sach’?“

„Ich hab’ nit von seinem Sach’ gesse.“

„Lügst wieder, ich hab’s doch gesehe.“

Er besann sich: „Versucht hab’ ich, ob’s nit zu schlecht für ihn ist.“

„Polde, ich will dir was sage: wenn du mir offe und ehrlich bekennst: ja, Frau Stehle, ich bekomm’ nit genug zu esse – dann kriegst wieder alle Tag deinen Nachmittagskaffee. Ueberleg’ dir’s, ich laß dir Zeit.“ Sie faßte einen frischen Stahl und wandte dem Polde den Rücken; als sie sich umsah, war er nicht mehr da.

„Jetzt weiß ich,“ sagte sie zu ihrem Mann, als er herunterkam, „jetzt hab’ ich’s heraus, der Bub’ wird ein Bösewicht, so bereitet sich der vor, mit Verdrucktheit; da hilft kein guter Wille, da hilft kein Mitleid; da wär’ ich dumm, ich geb’ ihm den Laufpaß.“

„Das thät ich nit,“ meinte der Mann, „ich weiß nit, mich erbarmt der Bub’; er will den Hund zähme wege der Hundemark, damit er sehe kann, wem er gehört. Da kann man sich doch nur wundre über so eine Geduld. Er hat mir’s selber gesagt.“

„So, warum sagt er denn mir nix?“

Herr Stehle unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge schwebte; er wollte die Frau nicht gegen das Kind aufbringen; es ging ihm, dem Mann, ja so besonders gut, seit ihre Gedanken sich so nachhaltig mit der Erziehung des Buben beschäftigten; es ging alles so viel glatter ab zwischen ihnen, beinahe friedlich.

„So,“ sagte sich Frau Stehle, „er will den Hund zähme, das soll mich denn doch wunder nehme –“

Sie ging vors Haus, um sich die Sache anzusehen.

Ein wenig Schnee lag auf den kahlen Aesten der Bäume drüben auf dem Schloßplatz; ein schneidender Wind kämpfte mit dem von Schneeflocken untermischten Regen, der prasselnd gegen die Straße schlug. Pfützen und Schmutz wohin das Auge sah, und kein Mensch weit und breit. Der Polde stand da, triefend vor Nässe mit eingebogenen Knieen, die vor Kälte schlotterten. Aber sein Gesichtchen sah ganz zufrieden aus; etwas unbeschreiblich Mitleidiges lag darin; er sah auf den Hund nieder, der so nahe bei ihm lag, daß er ihn hätte mit der Hand erreichen können. Allein Polde rührte sich nicht; fürchtete er durch eine Bewegung, durch ein Uebereilen das schwer errungene Vertrauen des Hundes zu verscherzen? Nicht einmal ein Zucken der tiefschwarzen Augenwimpern, die das einzig Schöne in des Knaben Gesicht waren, verriet, was in seinem Innern vorging. Er sang ein Schullied mit zarter heiserer Stimme und der Hund winselte dazu.

Frau Stehle konnte dieser elenden kleinen Stimme nicht lange zuhören, sie ging flugs ins Haus zurück, indem sie sich mit der Hand wie verstohlen über die Wangen fuhr.

Zu Weihnachten sollte der braven Frau Stehle eine neue Enttäuschung blühen; sie hatte sich gefreut, den Buben recht zu beschenken; zu dem Anzug sollte er ein Paar Strümpfe bekommen, alte noch gute Schuhe, ein Hemd und sogar einen farbigen Schlips, den ihr Mann noch ganz gut hätte tragen können.

Polde nahm alles hin, ohne eine Miene zu verziehen, nicht einmal der große Lebkuchen und die roten Aepfel vermochten ihm ein Lächeln zu entlocken. Er sagte „Danke“ und lief so gleichgültig mit seinen Sachen davon, als ob sie ihn nichts angingen.

„Der Kerl hat mir die ganz’ Weihnacht’ verdorbe,“ beklagte sich Frau Stehle bei ihrem Mann, „ich kann nit lebe mit so einer Natur, ich kann’s halt nit, ich muß Mensche um mich habe, die lache könne und rede – so ein Duckmäuser macht mich ganz krank. Ich will ja gar nit emal von Dank sage, aber doch ein bisle Freud’, ein bisle Freud’ will man doch sehe, wenn man sich den Schlaf abgespart hat, um so ein Kind rauszustaffiere –

Nein,“ fuhr sie ihrem Mann ins Wort, der sie zu besänftigen suchte, „ich will nix höre, nimm ihn mir nit in Schutz, der Bub’ ist halt mei Antipathie, und seine Antipathie kann sich kein Mensch auf der Welt wegdisputiere, und damit ich nit immer alles Unangenehme allein hab’ – du giebst ihm den Laufpaß – du! und damit fertig, wenn du überhaupt an dem Feiertag irgend eine von deine Leibspeise auf dem Tisch sehe willst!“

Die mochte Herr Stehle doch sich nicht verscherzen, und so schwieg er und dachte: ’s kommt auch wieder anders.

Polde erschien am Feiertagmorgen wieder in seinem alten zerrissenen Anzug, und als ihn Frau Stehle zur Rede stellte, warum er seinen neuen Rock nicht angezogen habe, gab ihr der Bub’ zur Antwort: „Weil ich nit hab’ wolle.“

Warum packte sie ihn denn nicht bei den Ohren?

„O du,“ knirschte sie hinter ihm her, als sie ihn mit seinem Eimer voll Kohlen davon wanken sah, „wenn du nur ein einzig’s Mal offe wärst, was thät ich nit für dich –“

„Hast ihm aufgesagt?“ fragte sie den Mann.

„Noch nit,“ brummte er, „so wart’s doch ab!“

Sie kam später gerade dazu, wie er draußen bei dem Buben stand. Aber statt mit seiner Angelegenheit herauszurücken, griff er in die Tasche und schenkte dem Polde ein paar Pfennige.

Bei Tisch fragte die Frau: „Hast ihm jetzt aufgesagt?“

„So halb und halb,“ brummte Stehle.

„Jetzt lügt der auch,“ dachte sie und lief von Stund an alle paar Augenblicke hinaus, um auch den Mann zu beobachten.

So geschah es eines Tages, daß sie gerade in dem Augenblick dazu kam, wie der Hund und das Kind beisammen standen, ganz dicht beisammen. Polde streichelte das Tier, das vertrauensvoll zu ihm aufschaute; mit zitternden Händen nestelte er an dem Halsband herum; wie fest saß die eingerostete Schnalle, die Haare des Hundes klebten daran. Eine fieberhafte Ungeduld schien das Kind zu erfassen, seine Blicke irrten umher, offenbar in der Angst, es möchte jemand kommen und den Hund in die Flucht treiben. Poldes Hände wurden immer ungeschickter, endlich bückte er sich, um mit den Zähnen den Riemen zu erfassen; etwas Klirrendes fiel zur Erde, der Hund schrak zusammen und floh, Polde aber hielt tief aufatmend das Halsband in den Händen.

Was wird er jetzt mache? fragte sich Frau Stehle, wenn er jetzt nit zu mir kommt und den Mund aufthut, dann –

[88] Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Insgeheim aber war sie ergriffen, wollte es nur nicht Wort haben und eilte durch die Küche in das kleine Bubenzimmer.

„Er soll mich suche,“ sagte sie zu sich selber, indem sie sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

Sie hörte ihn von draußen in seine Strohschlappen fahren; er ging in die Küche; nach einer Weile öffnete er die Thüre ins Schlafzimmer, blieb stehen und sah sich um; auch nach dem Nebenzimmer, in dem sie sich befand, lauschte er; dann trat er über die Schwelle, bei jedem Schritt innehaltend, und stand vor dem Tisch, in dessen Lade der Mann sein Schreibzeug hatte. Frau Stehle war eben im Begriff, hervorzustürzen, da sah sie, Polde hatte weiter nichts genommen als eine Korrespondenzkarte.

Als sie in die Küche kam, saß er am Tisch über seinem Schulheft; bei ihrem Eintritt hatte er rasch eine Seite umgewendet; so kindisch war er, sich einzubilden, sie merke nicht, was er trieb.

„Was schreibst du denn da?“ fragte Frau Stehle.

„Meine Aufgabe.“

Es zuckte ihr in den Fingern, und doch, sie wußte selber nicht warum: sie ließ ihn gewähren, machte sich hinter seinem Rücken am Herd zu schaffen und warf nur von Zeit zu Zeit einen Blick über des Knaben Schultern.

Polde brauchte eine Ewigkeit zu seinem Unternehmen; die Hundemarke lag vor ihm, obenan war ein kleines Schaf eingraviert, darunter ein Name. Dies kleine Schaf einigermaßen erkenntlich nachzuzeichnen, kostete Polde keine geringe Mühe; es nahm den halben Platz der Postkarte weg. Jetzt mußte er sich kurz fassen; er seufzte ein paarmal tief auf; Frau Stehle hinter ihm am Herd war ganz vergessen; sie konnte sein Machwerk getrost lesen:

 „Lieber Herr Dietrich in Straßburg.

Endlich habe Ich die Hundsmarkk verwischt kommen sie Schnell Er ist immer auf dem Schloßplatz.

 Ihr sieliebender
 Leopold Weber.“

Nun hatte er’s eilig, warf seine Sachen in den Ranzen, stolperte über einen Stuhl, vergaß die Mütze und hörte nicht, daß ihm Frau Stehle etwas nachrief. Sie hatte ihm sagen wollen, er müsse auch eine Adresse schreiben.

„Nun, so lauf!“ unterbrach sie ihr Vorhaben und warf die Küchenthüre hinter sich zu.

Es ging ihr so ganz eigen mit diesem Kinde: je mehr der Polde sie rührte, um so zorniger ward sie auf ihn; sie glaubte, es müßte sein, sie müßte seinen Trotz brechen, sein verschlossenes Wesen besiegen. Sie hatte ihn eines Morgens wieder nach Hause geschickt mit der Weisung, daß er sich nicht anders als in seinem guten Anzug vor ihr zeigen dürfe. Seither erschien er jeden Morgen so wie sie es ihm befohlen hatte, aber des Nachmittags kam er wieder in seinen alten Fetzen.

Das Wetter blieb sich immer gleich – Wind, Regen, Schnee, alles durcheinander, und der Hund und das Kind sahen alle Tage verkommener und elender aus. Dicht aneinander gedrängt standen sie da, als suchte eines bei dem andern Schutz und Wärme.

„Nun, wie steht’s, wie weit bist denn jetzt mit dem Aufsage?“ fragte Frau Stehle eines Tages wieder ihren Mann.

Der wurde ganz zornig: „Du hast kein Herz, du hast kein Gemüt – ich heiß das Kind nit gehe, ich ganz gewiß nit! Ich kann dich nit begreife, daß du den Bub’ nit reinrufst und ihm keinen Kaffee giebst.“

„Ich hab’ dem Polde gesagt, daß er mir in dem Aufzug nimmer unter die Auge komme darf,“ erklärte sie, „er soll folge; ich werd’ mich von dem Kind nit unterkriege lasse; er könnt’s ganz gut habe; wenn er nit will, so hat er’s halt schlecht!“

Nie hatte sie wütender gearbeitet als gerade jetzt, denn immerfort sah sie das Kind da draußen stehen, wo sie ging und stand; sie wußte ja, er wartete, er hoffte auf den Herrn des Hundes; er war so kindisch, zu glauben, seine Karte wirke Wunder!

Aber gerade wenn sie so recht voller Mitleid war, wenn sie sich vornahm: ich will ihm alles verzeihen, ich will recht freundlich mit ihm sprechen – da wurde es ihr jedesmal übel belohnt.

„Ich weiß nit, Polde,“ hatte sie zu ihm gesagt, „mir fehlt eine Korrespondenzkart’, hast du vielleicht eine rumliege sehe?“

„Nei.“

„’s könnt aber doch sein, besinn’ dich – schau, mit einem offene Wort kann man mich um den Finger wickle, – hast keine Korrespondenzkart’ genomme?“

„Nei.“

Sie hätte ihn schütteln mögen. Was war denn mit so einem anzufangen? Sie dachte an seine Eltern. Wußten sie, daß ihr Kind log und betrog? War es nicht eigentlich ihre Pflicht, diesen Leuten zu sagen, was sie vom Polde hielt?

Aber wenn sie ihn dann prügelten – dieses magere, elende Körperchen. –

Sie war gerade wieder einmal so weit mit ihren Gedanken, als sie durch ein markerschütterndes Hundegeheul von ihrer Beschäftigung aufgeschreckt wurde. Sie ließ alles stehen und liegen und eilte hinaus; die ganze Nachbarschaft war an den Fenstern. Mitten auf der Straße aber stand ein breitschulteriger Mann in einer Pelzmütze, und um ihn herum sprang der Schloßplatzhund in rasenden taumelnden Sätzen; er leckte dem Mann die Füße, er zerrte ihn am Rock, legte ihm die Tatzen auf die Schultern und seufzte und jammerte wie ein Mensch.

Der Fremde sagte zu Stehle, der auch herbeigekommen war:

„Bin froh, daß ich meinen Lux wieder hab’, so versteht keiner das Vieh zu treiben wie der. Im Spätjahr ist er mir auf der Bahn hier abhanden gekommen; ich hatt’ ihn im Wirtshaus an den Tisch gebunden und vergessen. Ich dank’ auch schön für die Nachricht.“

Der Mann ging rasch davon, von dem Hund unter stürmischem Jubelgebell begleitet. Polde sah ihm nach; mit offenem Mund stand er da, die Hände in den Taschen.

„Komm herein!“ rief Frau Stehle, als der Besitzer des verwahrlosten Hundes glücklich mit diesem von dannen gezogen war; ihr Mann trieb den noch immer ganz verdutzten Polde vor sich her in die Küche.

Der Mann war in großer Freude über den Vorfall. „Jetzt ist das arm’ Tier erlöst – das ist schön, das ist schön!“ rief er ein über das andere Mal aus.

Polde war still wie immer.

Frau Stehle sah ihn zornig an; nun saßen sie so nett beisammen in der kleinen blanken Küche, hätten sie sich nun nicht miteinander über das Ereignis freuen können? Aber nein, der Bub’ machte sein altes finsteres Gesicht, aus dem kein Mensch klug zu werden vermochte.

Frau Stehle schob ihm eine Schüssel Kaffee hin. „So, jetzt ist’s aus mit deiner Hundekomödie! was hast nun gehabt für all deine Müh’? Gelt, jetzt hast’s verschmeckt, wie Undank thut?“

Polde sah sie groß an. „Ich hab’ ja gesehe, wie er sich gefreut hat!“

Stehle lachte gutmütig über diese Antwort; die Frau schwieg; sie hatte sich dem Herd zugewendet, so trank sie mechanisch ihren Kaffee.

Vor Stehle stand die rotlackierte Zuckerbüchse mit den goldenen Sternchen; er nahm ein Stück Zucker, warf es dem Buben in die leere Schüssel und schob diese über den Tisch: „Alte, er hat noch Hunger.“

Die Frau schenkte die Tasse voll, der Mann schnitt ein Stück Brot dazu. Der Knabe aß und trank mit der Gier eines Halbverhungerten; immer wieder schob der Mann die Schüssel über den Tisch, und ohne ein Wort zu sprechen, schenkte sie die Frau voll. Eine eigene Stille herrschte in dem engen freundlichen Raum, mit den blinkenden Messinglöffeln an den Wänden und den Schäften voll glänzender Töpfe und Gläser.

Aus Poldes Brust brach sich ein tiefer Seufzer; er sah ganz verwundert drein; jetzt erst wurde er sich’s bewußt; er hatte ja immerfort gegessen, immerfort. – Verlegen schob er seine Schüssel zurück, bald nach Herrn Stehle, bald nach dessen Frau schielend. Plötzlich erhob er sich und schlich wie ein Dieb auf den Zehenspitzen zur Küche hinaus.

Frau Stehle machte sich über das Geschirr her, und der Mann saß noch immer stumm auf seinem Platz. Mit einem Male schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen tanzten. „Du hast den Bub’ halb verhungern lassen – du, ja, du!“

Wütend sprang er auf und schoß zur Küchenthüre hinaus.

„Bin ich denn seine Mutter,“ schrie ihm die Frau nach, „bin ich denn seine Mutter?“

[90] Im nächsten Augenblick fuhr es ihr durch den Kopf: Was muß das für eine sein – die will ich mir einmal näher besehn – jawohl!

Zum erstenmal in ihrem Leben konnte Frau Stehle in der Nacht ihren gewohnten Schlaf nicht finden. Bin ich denn krank? fragte sie sich, was hab’ ich nur – warum, ums Himmels willen, ist mir so schrecklich schwer und kurios zu Mut?

Sie warf sich herum, vergrub das Gesicht in ihrem Kissen, sie fing an, laut mit sich selbst zu schelten; es half nichts, die innere Stimme drang durch, die ihr sagte: dies Kind hat dich beschämt – dies Kind hat dich untergekriegt.

Sie fuhr in die Höhe und machte Licht. „Was ist denn los?* fragte die schlaftrunkene Stimme des Mannes.

„Nix,“ gab sie zur Antwort, „’s ist mir nur öd’, ich muß was esse.“ Sie ging in die Küche, stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich daneben und fing an zu schluchzen, als ob sie alle die Thränen, die sie in ihrem Leben zu weinen versäumt hatte, in diesem Augenblick nachholen wollte.

Am andern Morgen war sie noch rascher, noch thätiger als sonst; das ging wie der Wirbelwind durch alle Stuben, treppauf, treppab. Der Mann, der sich im Schlafzimmer für die Kirche fertig machen wollte, konnte kaum mit seinem Scheitel zu Streich kommen, weil ihm der Durchzug immer wieder die Haare durcheinander jagte. Er schloß eines der Fenster, und als die Frau herein kam und wieder alles aufreißen wollte, fing er an zu brummen, worauf sie der Nachbarschaft wegen ihr Vorhaben aufgab. Aber es war eine solche Unruhe in ihr, daß sie vor dem Fenster, das sie nicht öffnen durfte, stehen blieb und einen Marsch auf den Scheiben trommelte.

„Ich hab’ einmal einen Eisbär in seinem Käfig ’rumtanze sehe, gerad’ so bist,“ sagte der Gatte, worauf sie miteinander zur Kirche gingen.

Das Christkind lag noch vom Weihnachtsfest her in seinem Kripplein, von hohen dunklen Tannen umgeben, und die Kleinen knieten haufenweis’ auf den Stufen des Altars, dem Jesulein so nahe wie möglich. Just kam die Sonne einmal wieder nach all den häßlichen Regentagen und drang durch die farbigen Fensterscheiben, einen freudigen Glanz über die liebliche Kindergruppe gießend. Der Geistliche auf der Kanzel aber hatte zum Text seiner Predigt den Spruch erwählt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht!“

Frau Stehle in ihrer Kirchenbank horchte nicht viel hin; sie hatte diese Stunde, in der sie notgedrungen mit müßigen Händen dasitzen mußte, stets dazu angewandt, ihr Wochenrepertoire zu entwerfen: Montag Wäsch’ einseife, Bureauzimmer eins bis sieben; Dienstag Wäsch’, Zimmer acht bis vierzehn –

So hatten ihre Gedanken aus alter Gewohnheit den Weg eingeschlagen, den sie immer zu gehen pflegten, als ihr plötzlich das Bild, das sie die ganze Nacht vor Augen gehabt, wieder einfiel – der Polde, wie er da draußen stand im Regen, zitternd vor Kälte, mit eingebogenen Knieen – so dürftig, so über alle Begriffe dürftig.

Fort damit! – sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht; es kitzelte sie so eigen in der Kehle – weinen, um Gottes willen, was würde man denn in der ganzen Kirche von ihr denken – sie, die heitere, die tüchtige, alleweil redselige Frau Stehle und weinen –

Sie schluckte ein paarmal und lauschte dann mit großer Anstrengung der Predigt, ohne recht zu fassen, was sie hörte. Plötzlich aber schlugen ein paar Worte an ihr Ohr, Worte, die sie schon oft vernommen hatte, ohne sich je etwas dabei zu denken. Es war die Rede Jesu an seine Jünger, in der er sie auf das Beispiel der Kinder verweist: wenn sie nicht würden wie die Kinder, so werde ihnen das Himmelreich verschlossen bleiben. „Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“

Frau Stehle beugte sich vor, die Hände krampfhaft gefaltet, das Gesicht mit Glut übergossen: „Ich – ich – aber lieber Gott, so vergiß doch nit – meine Ordnung, meine Sauberkeit – und was ich leist’, was ich leist’, lieber Gott – auch die Arme; hab’ ich je versäumt, ihne meine alte Sache zu gebe – Sache, die oft noch recht gut ware, und – und –

Aber das Kind,“ unterbrach sie sich plötzlich selber, „ja, das hab’ ich drauße stehe lasse – was das Kind an dem Hund gethan, das hab’ ich nit an dem Kind gethan – Herrgott im Himmel,“ seufzte sie in tiefster Zerknirschung auf, „hab’ ich müsse vierzig Jahre alt werde, eh’ ich mein Christentum verstande hab’!“

Der Gottesdienst war zu Ende. „Geh’ du heim,“ sagte Frau Stehle zu ihrem Manne, „ich mach’ noch einen Besuch.“

Unterwegs kehrte sie in einem Bäckerladen ein und kaufte ein halbes Dutzend Brezeln, dann eilte sie mit ihren festen kurzen Schritten dem östlichen Stadtteil zu, bog in eine enge Gasse mit uralten einstöckigen Häusern und suchte nach einer Nummer; dann trat sie in ein Haus von schmutzig grüner Farbe, das noch vernachlässigter als die übrigen aussah.

Sie klopfte an eine Thüre im dunklen Flur; eine Frau rief Herein und öffnete. Frau Stehle fuhr fast zurück, so erstickend war die Hitze in dem unordentlichen Raum; ein paar ungemachte Betten standen herum, in einem lag ein Kind, vier andere saßen am und auf dem Tisch und vertilgten gebratene Kastanien; auch die Frau hatte den Mund voll; sie trug eine schmutzige Nachtjacke über einem vielfach durchlöcherten Unterrock.

Die Kleinen waren weder gewaschen noch gekämmt und trugen kaum das Nötigste. An den Wänden aber hingen allerlei bunte Röckchen und Mäntelchen, die neu aussahen.

Frau Stehles erstes Wort war, als sie über die Schwelle trat: „In der Luft halt’s kein Mensch aus!“ worauf sie das nächste Fenster aufriß und dann dem Weib erklärte:

„Da bin ich; ich hab’ gedacht: mußt auch einmal dem Polde seine Eltern besuche.“

„Recht schön von Ihne,“ meinte die Frau und schob dem Besuch einen Stuhl hin.

„Hm ja, hm ja,“ sagte Frau Stehle, „es scheint ja alles recht gesund zu sein; den Haufe Kastanie, du meine Güte! Wo ist denn der Polde?“

„Komm emal vor du, hinterm Ofe!“ rief die Frau über ihre Schulter weg.

Der Polde erschien in einem Aufzug, daß Frau Stehle die Hände zusammenschlug. „Aber warum hat er denn ums Himmelswille nit emal am heilige Sonntag seinen gute Anzug an?“

Die Frau lachte: „s’ ist halt noch einer da in seinem Alter; wenn der Polde heim kommt, schlupft der Fritzle nein, gelt du?“ wandte sie sich an den Buben, indem sie ihn ein wenig in die Seite stieß. Er verzog keine Miene.

„Scheint’s, er ist daheim auch nit freundlicher als bei mir?“ meinte Frau Stehle.

„Der,“ lachte das Weib auf, „das ist der echt’ Straßeköter; in der Früh’ geht er fort und nachts kommt er heim.“

„Aber zum Mittagesse ist er doch da?“

„Gott bewahr’, dem ist ja nix gut genug, ich mag noch so oft zu ihm sage: nimm dir, nimm dir; ich sag’ immer zum Mann: laß ihn gehe, der wird wo anders gefüttert.“

Frau Stehle war es ganz heiß geworden; sie gedachte der altbackenen Brotrinden, die der Polde vom Hundefutter genommen hatte.

„Polde,“ sagte sie, den Knaben näher an sich heranziehend, „geh’, sag’ mir die Wahrheit, ich bitt’ dich um alles in der Welt, warum gehst du nit heim zum Mittagesse, wer giebt dir was? du mußt doch hungrig sein?“

Sie fragte, sie flehte, er blieb stumm. Das Weib lachte ohne Unterlaß: „Der und rede – ich sag’ Ihne, Frau Stehle, eher geht die Welt unter, als daß der ’s Maul aufthut, wenn er nit mag.“

Frau Stehle ließ den Knaben los. „Ist Ihr Mann nit daheim?“

„Er holt was zum Mittagesse; Sonntags, wenn er daheim ist, da laß ich mir’s wohl sein. Er hat schon ’s Wasser in Ofe gestellt, da braucht er nur die Würst’ ’nein zu werfe.“

„Das thut bei Ihne der Mann?“ verwunderte sich Frau Stehle.

„Jawohl, und warum denn nit? Ich hab’ eine gute Partie gemacht, ich will mich nit totschaffe; vier bis fünf Mark verdient er im Tag, da kann man sich’s wohl sein lasse.“

„Ja, wenn er aber doch so viel schaffe muß in seinem Beruf, da könne Sie doch nit verlange, daß er auch noch die Arbeit im Haus thut?“

„Verlange thu ich’s nit, aber wenn er heim kommt, so nimmt er mir halt ab, was er kann; das ist doch gescheiter als [91] er geht ins Wirtshaus. Wir sind so vergnügt, wir möchte’s gar nit anders habe. Alle Sonntag Nachmittag kehre wir ein und komme erst in der Nacht heim. Dann legt er mir alle Kinder ins Bett, denn ich bin immer ganz taumelig vom Bier.“

„So!“ Frau Stehle sah ganz verwirrt drein. „Daß es so Männer giebt, merkwürdig!“

Sie holte ihre Düte aus der Manteltasche.

Die Kinder waren mittlerweile mit ihren Kastanien fertig geworden und fingen an, die Mutter mit den Schalen zu bewerfen. Das gab ein lustiges Gelächter; die Frau fing die kleinen Missethäter auf, und hatte sie einen, bedeckte sie ihm das Gesicht mit Küssen. Es war nicht zu verkennen, die Frau liebte ihre Kinder.

Frau Stehle wurde immer kleinlauter. „Die sind doch alle lustig,“ dachte sie, „also liegt’s am Polde.“

Sie hatte die Brezeln auf den Tisch gelegt. „Kommt her, Kinder, und laßt’s euch schmecke, du auch, Polde –“ Er kam.

„Nimm dir, nimm dir,“ ermutigte ihn die Mutter, dabei sah sie ihn an, und da geschah’s – Frau Stehle ertappte diesen Blick und erschrak; der, der sagte ganz was andres als: nimm dir, nimm dir – es war der Blick einer raubgierigen Katze, im Begriff, auf ihr Opfer loszustürzen. Polde, der schon die Hand nach der Brezel ausgestreckt hatte, ließ sie wieder sinken und zog sich in seine Ecke zurück.

Die Frau aber brach in ein unbändiges Gelächter aus.

„Haben Sie jetzt wieder gesehe – undankbarer Strick du! Die andre sind froh um alles, gelt ihr?“

Und flugs teilte sie Poldes Anteil unter die aufjubelnden Kleinen aus.

Frau Stehle aber war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Sie,“ sagte sie, die Hand auf den Arm der Frau legend, „der Polde ist nit Ihr Kind, das mache Sie mir nit weis!“

Das Weib sah etwas verblüfft drein, dann kicherte es leise:

„Gelt, halt der Unterschied zwischen ihm und den andern? Ich sag’s immer zum Mann: das muß ja jeder sehe, daß der Grünschnabel nit in die Famill’ gehört.“

„Also ein Kostkind.“

Sie nickte. „Er ist mit meinem Erste aufgezoge; mein Mann hat gar einen gute Name in der Stadt; der Polde hat’s nie gemerkt, daß er nit uns gehört.“

„Aber Sie sage’s ja jetzt vor ihm.“

„Was versteht denn so ein Kind? Sie werde doch nit schon gehe, Frau Stehle, das wär’ mir aber leid; der Mann wird gewiß bald komme, ich werd’ ihn schelte, daß er so lang’ ausbleibt.“

„Ja, wisse Sie, bei uns ist das halt so,“ sagte Frau Stehle, „da kocht die Frau zu Mittag, und der Mann scheltet, wenn die Supp’ nit zur Zeit auf dem Tisch steht.

Polde,“ wandte sie sich im Vorbeigehen an den Buben, „ich hätt’ noch was zu thun für dich heute abend, kannst ruhig in deinem alte Kittel komme, ’s macht nix.“ Sie ging unter lautem Gelächter zur Thür hinaus, sie mußte lachen, um das Schluchzen zu ersticken, das ihr mit Macht zur Kehle heraus wollte.

Mein Gott, mein Gott, auf diesen ihren beiden Armen hätte sie ihn mögen davontragen vor aller Welt Augen –

Sie lief, sie rannte, der Weg zum Schloßplatz wollte heute kein Ende nehmen.

Ihr Mann war nicht zu Haus, noch eine Stunde war’s bis zur Essenszeit; das Feuer im Herd zischte, der Kochlöffel flog von einem Topf in den andern, Frau Stehle redete – mit erhobener Stimme und fliegendem Atem – alles sagte sie, was sie auf dem Herzen hatte, womit sie ihren Mann rühren, überzeugen, erschüttern wollte.

„Aber um Gottes Wille,“ ertönte seine Stimme unter der Küchenthüre, „man meint ja, du hättest mit einem ganzen Regiment Händel!“

Sie setzte die Suppe auf den Tisch. „Stehle,“ platzte sie los, „du weißt nit, was Herzweh ist, aber ich weiß es – der Bub’ hat gehungert seit er auf der Welt ist – das Weib ist nit seine Mutter. Nimm dir, nimm dir – hat sie zu dem Kind gesagt, aber die Auge – die Auge! Da hab’ ich alles gewußt, ’s ganz Elend – alles versteh’ ich – sein verschüchtert’s verstockt’s Wese – sein ganzes Betrage. Ich bitt’ dich um Gottes Wille, wie kannst du von dem Kind verlange, daß es offe sein soll! Vom Hundsfutter hat’s heimlich gegesse, und wir sitze da drin in unserem Küchele und lasse ’s uns schmecke – lasse das Kind da drauße im Rege stehe und sehe zu, wie’s alleweil elender wird und verkommener und –“

„Ja, was willst denn eigentlich,“ unterbrach sie der Mann, „deine Supp’ wird ja ganz kalt!“

„Nit einen Löffel ess ich, eh’s nit ausgemacht ist: wir nehme den Bub’.“

„Nehme?“ fragte Stehle, „ins Haus doch nit – wie soll ich denn das verstehe?“

„Herrjes, wie kann man’s denn anders verstehe? Vater und Mutter wollen wir ihm sein –“

„Jetzt hör’ auf, das geht mir denn doch ein bißle zu weit: ich bin immer dafür gewese, daß du dem Bub’ zu esse giebst; ich bin ein gutmütiger Mann, das weiß die ganz’ Welt, das laß ich mir nit abstreite. Aber so eine Last ins Haus, ein Kind, das einem nit gehört, davon will ich nix wisse, das kann man von keinem Mensche verlange, daß er so mir nix, dir nix sein bißle Behage aufgiebt.“

Frau Stehle ging zum Herd, stellte dem Mann das übrige Essen hin und setzte sich wieder vor ihren Teller Suppe.

„Hast die Predigt angehört, Stehle?“

„Von A bis Z.“

„Und kannst so daher rede? Ich hab’ nur einen Satz gehört, und der hat mich geschüttelt wie Espelaub: das von den Kindlein, und daß wir werde solle wie eins von ihne, und: ,Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‘ Gelt, das ist dir zu einem Ohr nein und zum andern naus? Jawohl, Stehle, deine ganze Gutmütigkeit, gleich geht sie spaziere, wenn nur von fern deine Bequemlichkeit auf’m Spiel steht. Der Polde – Mann, ich vertrag’s nit, guck’, ich halt’s nit aus – ’s liegt wie ein Druck auf mir: ein Kind hat mich beschämt – der elend’, der miserabel Polde, wie er steht und geht in seine Lumpe und Fetze, der soll mich untergekriegt habe! Ich bin nit gutmütig, ich weiß, daß ich nit gutmütig bin, aber ich kann nit lebe ohne mei Selbstachtung; ich muß ins Bett liege könne mit dem Gedanke: so recht, Frau Stehle, heut’ hast’s wieder gut gemacht! Sonst kann ich nit schlafe, und wenn ich nit schlafe kann, dann kann ich auch nit schaffe, und dann lieber gleich ins Grab, ja, wahrhaftig, jede Schaufel Erd’ wär’ mir lieber als so ein Lebe! Und jetzt wähl’, Stehle, und gieb doch ein bißle acht, hast schon einen Flecke auf deinen gute Rock gemacht.“ Sie tauchte flugs ein Tuch ins heiße Wasser.

„Du weißt, das kann ich nit leide,“ sagte der Mann, während sie an seinem Flecken herumrieb.

„Und ich kann keinen Fleck sehe.“

„Und willst mit dem Bub’ fertig werde – so ein Schmutzfink? Und ich hab’ geglaubt, du haltst’s nit aus mit so einem verstockten Geschöpf, ich hab’ geglaubt, der Bub’ ist deine Antipathie?“

„Ebe deshalb muß er anders werde.“

„Du hast doch aber die ganz’ Zeit nix mit dem Starrkopf ausgericht?“

„Weil ich’s verkehrt angefange hab’; ich werd’s jetzt mache wie’s der Polde mit dem Hund gemacht hat. Das Kind ist verstockt, das Kind ist verloge und ein Schmierfink obedrein, eins aber hab’ ich raus: ein mitleidig’s Herz hat der Polde, und das ist meine Spekulation. Lasse wir’s auf einen Versuch ankomme, nur um zu sehe, ob ich recht hab’ oder nit – Stehle, ich bitt’ dich um alles in der Welt, nur ein einziges Mal in deinem Lebe gieb nach!“

Er lachte laut auf und sagte weiter nichts als: „Du lieber Gott im Himmel!“

Sie fing sofort an zu essen, kaum sich Zeit zum Schlucken gönnend, so unaufhaltsam drängten sich ihr die Worte über die Lippen:

„Vor alle Dinge – den will ich aber einseife! Gelt, Stehle, du holst mir den große Kessel aus der Waschküch’ rauf? Derweil zieh’ ich ’s Bett an im Bubezimmer – jetzt kommt’s doch auch noch dran! Dein dunkelgraue Rock und die alte Hose kann ich gerad’ noch zuschneide und zu Fade schlage, bis der Polde kommt – in der Nacht näh’ ich’s dann fertig; unser Herrgott wird ein Aug’ zudrücke wege ’m Sonntag, eine Ehr’ ist die andre wert. Und morge gehe wir gleich auf die Polizei und spreche mit dene [92] Herre; ich will’s ihne aber sage, da muß besser aufgepaßt werde in Zukunft, so Mannsleut’ –“

Sie horchte plötzlich auf; draußen fuhr der Polde in seine Schlappen; im nächsten Augenblick trat er über die Schwelle. Ganz still stand er da und wartete auf den Befehl, den man ihm geben würde. Frau Stehle warf einen kurzen Blick auf ihren Mann, dann preßte sie plötzlich die Küchenschürze gegen das Gesicht und fing an wie von Sinnen drauf los zu schluchzen.

Herr Stehle sah sie ein wenig überrascht an, mit einem Male schien ihm ein Verständnis zu kommen, denn sein Blick suchte das Kind, das mit großen Augen dastand, starr vor Erstaunen. Frau Stehle, die allezeit wohlgemute, laute, heftige Frau Stehle, die ihn immer so streng ansah und vor der er sich so sehr fürchtete, da saß sie und weinte in ihre Schürze.

Dem Polde krampfte es die Kehle zusammen; schüchtern trat er einen Schritt näher, dann noch einen; er stand jetzt dicht vor der Weinenden, deren Kopf er plötzlich in heller Seelenangst umfaßte: „Frau Stehle, Frau Stehle, warum weine Sie denn?“

Da zog sie die Schürze weg, und er sah in ihr lachendes, in Thränen gebadetes Gesicht. „Weil mir unser Herrgott ein Kind geschenkt hat – dich, ja, dich, du arm’s, verstockt’s, schmutzig’s, ausgehungert’s Würmle du! Aber wart’ nur, jetzt wolle wir dir’s Mägele stopfe – und vor alle Dinge –“ sie riß ihm den Rock vom Leibe, „’s Best vom Lebe, Sauberkeit sollst kenne lerne –“