Friedrich Hessing

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Textdaten
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Autor: Theodor von Jürgensen
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Titel: Friedrich Hessing
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 156–158
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Friedrich Hessing.

Von Prof. Dr. Th. v. Jürgensen.

Wenigen Menschen ist es vergönnt, Eigenartiges zu schaffen, noch kleiner ist die Zahl derer, welche dazu nicht viel mehr als sich selbst gebrauchen. Die sehen mit ihren Augen, die denken mit ihrem Hirn, die schaffen mit ihren Händen anders, als es bisher geschah. Zu ihnen gehört Friedrich Hessing, der Meister der mechanischen Heilkunst. Als den erkennen ihn, den nicht als Arzt Ausgebildeten, die hervorragendsten Chirurgen unserer Zeit an, als den verehren ihn die vielen, denen er geholfen hat.

Ein Leben voll Mühe und Arbeit, aber auch voll großer Erfolge liegt hinter Hessing.

Als neunter Sohn armer Leute in dem nahe bei Rothenburg ob der Tauber gelegenen Schönbronn geboren, fand er im benachbarten Schillingsfürst in der Gärtnerei des Fürsten Hohenlohe, des jetzigen Reichskanzlers, seine erste Beschäftigung. Der Fürst merkte, daß in dem Jungen etwas Besonderes stecke, er ermöglichte es ihm, die Schreinerei zu erlernen, dann wurde Hessing noch Schmied, endlich Orgelbauer. Aber so viel er auch lernte, immer kehrte das ganz bestimmte Bewußtsein bei ihm wieder, daß sein innerer Beruf ihn auf das Gebiet der mechanischen Heilkunst verweise. Darüber erzählt er selbst:

„Wenn ich als Knabe von zehn Jahren jemand mit einem krummen Bein oder auf Krücken gestützt einhergehen sah, drängte sich mir wieder und wieder die Frage auf, sollte es denn nicht möglich sein, das Bein gerade, die Krücken entbehrlich zu machen? Daß ich dazu Kenntnis der Form des menschlichen Körpers nötig hätte, war mir gleich klar. Allein wie sollte ich die erwerben? In der Dorfschule, die ich besuchte, gab es keine Zeichenvorlagen, keine Anweisung zum Zeichnen – mir Zeichenunterricht zu verschaffen, dazu fehlte mir das Geld. Das einzige, was mir zu Gebote stand, waren alte Gebetbücher, in denen viele Anfangsbuchstaben mit hübschen Figuren und allerlei anderen Zeichnungen ausgeschmückt waren. Diese ahmte ich nach und erlangte so die erste Kenntnis von menschlichen Formen. – Nun ging ich daran, mir die Art und Weise anschaulich zu machen, wie die Bewegungen in den Gelenken zu stande kommen. Mein eigner Körper mußte dabei als Modell dienen. Tage-, wochen-, monatelang nahm ich ein Gelenk vor und grübelte darüber, wie die Knochen geformt sein, wo die Bänder, wo die Sehnenenden der Muskeln sich ansetzen, wie die Muskeln verlaufen müssen, wenn eine bestimmte Bewegung ausgeführt werden soll. Auch darüber dachte ich nach, wie stark der Knochen sein muß, um die Last zu tragen, die auf ihm ruht. Nun kam die Hauptsache: wie kann der einzelne Knochen, der einzelne Muskel oder das Band künstlich ersetzt und im Falle der Erkrankung entlastet oder ganz ausgeschaltet werden?

Friedrich Hessing.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph E. Bieber in Berlin.

Wohl 15 Jahre schrieb ich an diesem meinen eigenen Lehrbuch und glaubte mich nun imstande, die Aufgaben, welche ich mir selbst gestellt, mit Erfolg lösen zu können. Jetzt fand ich Gelegenheit, mir ein wirkliches Skelett und anatomische Lehrbücher anzuschaffen – da stand ich vor dem Examen! Ich verglich die Wirklichkeit mit meinen Gedankenformen und fand, daß eine Uebereinstimmung nicht überall vorhanden war. Allein so rasch die Fehler entdeckt, so rasch waren sie auch verbessert. Denn da ich mir bei meinen Vorstudien stets die Frage gestellt hatte, welche mechanische Thätigkeit hat der einzelne Körperteil zu verrichten? so wurde es mir leicht, die wirklichen, die weitaus vollendeteren Formen an die Stelle der von mir konstruierten zu setzen und mit ihnen zu rechnen. – Undankbar wäre es übrigens, wenn ich nicht den Aerzten und Professoren meinen Dank aussprechen wollte, die mir privatim das beizubringen sich bemühten, was man bei noch so viel Fleiß und Ausdauer allein nicht lernen kann. – Während dieser langen Reihe von Jahren lernte ich in den verschiedenen Zweigen des Handwerks die kunstgerechte Behandlung aller der Materialien, welche mir erforderlich schienen, um das, was ich mir vorgesetzt hatte, auch wirklich ausführen zu können. – Nun ging es an das Werk. Es ist wohl ein Glück für mich gewesen, daß ich weder ein Lehrbuch der Orthopädie gelesen, noch bei einem Orthopäden gearbeitet hatte. Unbeirrt durch die Schablone des Hergebrachten konnte ich den Weg gehen, den mir die Natur gezeigt hatte. Und je weiter ich darauf vordrang, desto mehr kam es mir zum Bewußtsein, welch ein mechanisches Meisterwerk der Körper des Menschen ist. Ich lernte immer besser die Fingerzeige der Natur verstehen und so Irrwege vermeiden. Stets wurde es mir klarer, daß die Orthopädie im alten Wortsinne nicht die gestellten Aufgaben im vollen Umfang zu lösen vermag. Ich suchte, das Ganze im Auge behaltend, Heiltechniker zu werden, nicht nur, wie mir scheint, etwas stümperhaft hier und da auszuflicken. – Nachdem ich im Jahre 1868 vom königl. bayer. Ministerium des Innern zur Errichtung einer Heilanstalt ermächtigt worden war, konnte ich meine Auffassungen vielseitig zur Geltung bringen. Die Bedeutsamkeit einer möglichst guten Ernährung, des Lichtes und der freien Luft lernte ich stets höher schätzen.

Der Gang meiner Entwicklung macht es verständlich, daß ich aus mir selbst manche Idee geschöpft, die andere Leute auch früher oder später gehabt haben.“

So erzählt Hessing von seinem Werdegang. Einfach und bescheiden, aber mit dem berechtigten Selbstbewußtsein des durch sich selbst zur Höhe Geführten. Sein äußeres Leben verlief in ruhigem Gleichmaß – langsam und sicher, immer bergauf! Zuerst hatte er in dem nächst Augsburg gelegenen Marktflecken Göggingen das zum Verkauf gestellte Landgerichtsgebäude erworben. Das freundliche Haus – viele denken an die „alte Anstalt“ zurück, aus der sie genesen heimkehrten – wurde so seiner früheren Bestimmung wiedergegeben. Es war ursprünglich „zum Wohl der Kranken und Schwachen“ gebaut, die Inschrift ist wohlerhalten noch jetzt eingemauert. Bald wurden die Räume zu eng für die Hilfesuchenden, die in immer größerer Zahl herbeiströmten. Der Errichtung des „Kurhauses“ folgte der Bau der „Neuen Anstalt“. Dabei ließ Hessing seine eigene Künstlerschaft walten. Was er geschaffen? „Ueberall sinnreiche Zweckmäßigkeit mit erquickender Schönheit gepaart“ – sagt Adolf Wilbrandt in einer größeren Abhandlung, die er dem Arzte gewidmet hat. Und das ist ein wahres Wort. Es giebt wohl kaum irgend einen für Kranke errichteten Bau, der soviel Licht, soviel Luft hat und daneben noch ein so freundliches Aussehen wie die neue Anstalt. Sie bringt den Grundgedanken Hessings zum Ausdruck: Herunter vom Krankenlager, hinaus ins Freie, dort winkt Genesung, fort mit der Zimmerhaft!

Was geschehen kann, um dem Leidenden, der länger der Heimat fernbleiben wird, die Trennung zu erleichtern, das ist geschehen.

Auch das dem „Kurhaus“ sich anschließende Theater dient dem gleichen Zwecke. „Ein im Formensinn der späteren Renaissance ausgeführter Bau, ganz aus Eisen und Glas, ein sonderbares Märchen, in das sich der Sonnenschein durch bleiche und farbige Gläser ergießt, in dem unzählige stilvolle Gewächse, Fächerpalmen mit nahen und fernen Verwandten, das ganze Rund des Zuschauerraumes unter und über der oberen Galerie erfüllen. Hier sei heiter und glücklich! scheint das Ganze zu sagen.“ Das ist der Eindruck, den ein Dichter von dem empfing, was der Kunstsinn Hessings ins Leben gerufen hat. Im Sommer dient das Theater [157] seinem eigentlichen Zweck, im Winter ist es ein Palmengarten, den Gästen Hessings jederzeit geöffnet. Ich will noch erwähnen, daß Hessing in Reichenhall eine große Zweiganstalt besitzt, die aber nur im Sommer benutzt wird. Dort finden die Leidenden, bei deren Behandlung Soolbäder angezeigt sind, Unterkunft in den entzückend, hoch über der schmalen Thalsohle gelegenen Häusern.

Es giebt nicht viele Menschen, die so wenig Bedürfnisse haben wie Hessing. Er lebt ganz seiner Arbeit, seiner Kunst, was es an Genüssen giebt, achtet er gering. Aber Schaffensfreude erfüllt ihn, und was er schaffte, sei es, daß er eine neue Idee verwirklicht, sei es, daß er für den Einzelnen etwas Besonderes gestaltet – alles trägt den Stempel des wahren Künstlertums. Ich habe im Laufe der Jahre vielfach Gelegenheit gehabt, den Meister am Werke zu sehen. Wieder und wieder stand ich bewundernd vor der genialen Sicherheit, mit der er spielend die schwierigsten Aufgaben orthopädischer Technik löst. Der Grundgedanke: so ist es fertig zu bringen, dann dessen Ausführung mit ganzer Beherrschung aller mechanischen Hilfsmittel – eines wie das andere in einer Vollendung, die bisher nur ihm eigen war! Die Kinderlähmungen in ihrer so überaus vielgestaltigen Formenfülle sind es, welche dem Sachkundigen am unzweideutigsten zeigen, was Hessing im und am Einzelfall leistet. Das wäre schon Großes – aber Hessing hat Größeres geschaffen – nicht nur für den Einzelnen, für das Ganze. Seine Gedanken haben Bürgerrecht in der Wissenschaft erlangt und altgeheiligte Lehren umgestoßen. Vor allem gilt das von der Behandlung der Knochenbrüche und der Entzündungen der Gelenke an den unteren Gliedmaßen. Früher war es Regel, die an diesen Zuständen [158] Leidenden mit irgend einem die Bewegungsfähigkeit des ergriffenen Teiles unmöglich machenden Dauerverband in das Bett zu stecken.

Das Bettliegen mußte so lange anhalten, bis Heilung erfolgt war; bei gebrochenen Knochen einige, bei Gelenkerkrankungen viele Monate hindurch. Das ist vom Uebel: der ganze Körper wird zur Ruhe gezwungen, wo die Ruhe doch nur für eines seiner Glieder erforderlich, der Gang der Lebensmaschine wird so unnötig verlangsamt, es kommt unter bestimmten Verhältnissen zu wirklichen Störungen. Und die das ganz ruhig gehaltene Glied umfassenden Muskeln werden durch die lange Unterbrechung ihrer Thätigkeit schwach, erst durch Uebung können sie die alte Kraft wieder gewinnen – allein die Uebung kann erst dann beginnen, wenn nach vollkommener Heilung der hemmende Verband entfernt war. Die Wiederherstellung der vollen Gebrauchsfähigkeit erfordert daher eine weitaus längere Zeit als die Heilung selbst.

Hessing half hier von Grund aus. Er baute Apparate, welche dem leidenden Teil Stütze gewähren, dem kranken Menschen die freie Bewegung lassen. Dadurch, daß er auf unversehrte Körperteile die Aufgabe der erkrankten übertrug, schaltete er diese aus, er ließ die zur Leistung fähigen solange die Arbeit der zeitweilig unfähigen übernehmen, bis Heilung eingetreten war. Das ist der Gedanke eines genialen Menschen; denn er ist einfach, für manchen zu einfach und daher unverständlich! Um das Einfache allen verständlich zu machen, dazu gehört noch die Gestaltungskraft des Künstlers – Hessing dachte und schuf. Wieder und wieder mußte er auf den Versammlungen der Aerzte, in den Kliniken der Universitäten das Unerhörte und Unglaubliche den Zweiflern vor Augen führen. Es schien doch kaum denkbar, daß ein gebrochenes Bein die Last seines Körpers tragen und dabei heilen könne! Jetzt ist man davon überzeugt – der Grundgedanke Hessings wird mehr und mehr zum Gemeingut. Freilich seine Durchführung ist nicht jedermanns Sache, dazu gehört eben die Meisterhand. Das wird auch eingeräumt. Man sucht sich zu helfen, so gut es eben geht, man bemüht sich, mit billigerem, minder schwer zu handhabendem Material auszukommen. – Hessing selbst hat bei seinem „Kriegsapparat“ eine verhältnismäßig einfache Konstruktion durchgeführt und genaue Auskunft darüber gegeben, wie man vor dessen Anlegen verbinden soll.

Dieser „Kriegsapparat“ ist seinem Namen entsprechend eigentlich dazu bestimmt, Verwundete mit zerschossenen Gliedern sicher und ohne ihnen Schmerz zu machen zu transportieren. Neuerdings konstruierte Hessing eine Tragbahre, welche es erlaubt, die auf dem Schlachtfelde Verletzten in gesicherter Körperlage, ohne daß sie durch die Bewegung Schmerz empfinden, fortzuschaffen – dabei sind die Ansprüche an die Träger auf ein geringes Maß von Kraftaufwand beschränkt.

Der Grundgedanke Hessings: Entlastung des leidenden Teils, Uebertragung der Arbeit auf gesunde Teile, bewährt sich in allen den Fällen, wo überhaupt mechanisches Eingreifen möglich. Ich kann nicht alles erwähnen, ich will nur ein scheinbar weitabgelegenes Gebiet streifen: die sicheren Erfolge Hessings bei der Behandlung chronischer Erkrankungen des Rückenmarks durch seine Korsettbehandlung.

Und nun noch: Was ist Hessing als Mensch? Wer ihn mit einem Blick, mit einem Wort alles, was in seiner Nähe ist, beherrschen sieht, kennt in ihm nur den gebietenden Herrn, dem jeder unterthan ist. Wer Hessing näher steht, wer wie ich ihn Freund nennen darf, weiß, daß er ein von Herzensgüte erfüllter Idealist ist wie wenige Menschen. – Auch das Auge des Dichters blickt scharf. „Ich sah“ – sagt Wilbrandt – „wie seine Kleinen ihn liebten, mit welcher natürlichen rührenden Herzlichkeit die jungen Augen zu ihm aufblickten, wenn sie ihn begrüßten, während von seiner kraftvollen, durch und durch mannhaften Gestalt die schlichteste Menschenfreundlichkeit ausstrahlt.“ Die letztere haben auch von den Großen viele empfunden. Aber darüber schweige ich, denn Hessing will nicht gefeiert und nicht gepriesen sein.

1894 waren 25 Jahre vergangen, seit Hessing in Göggingen thätig ist. Viele seiner früheren Kranken wünschten ihrer dankbaren Verehrung durch festliche Begehung des Tages Ausdruck zu geben. Er wünschte das nicht. Aber er muß es sich nun schon gefallen lassen, daß einer unter den vielen seiner Geheilten ein bescheidenes Gedenkblatt an die reiche und gesegnete Lebensarbeit des Meisters der mechanischen Heilkunst hier niederlegt.