Haarkäufer in Thüringen
Geschäfte führten mich vor Jahren häufig und in ziemlich regelmäßigen Intervallen nach der holländischen Provinz Nordbrabant. Dazumal gab es die Eisenbahn noch nicht, die jetzt in raschem Fluge über Limburg die mächtigen Haidebreiten jenes Landstriches durchschneidet. Man hatte daher in seinem Hauderer oder dem schwerfälligen Postwagen Tage lang Gelegenheit, das Auge an der öden Fläche zu ermüden, auf der es vergebens nach einem freundlichen Ruhepunkte sucht. Immer und immer wieder unterbrachen nur bald einzeln stehende, bald kettenartig aneinandergereihte Hügel weißen Flugsandes das braune Einerlei der langgestreckten traurigen Kieferpflanzungen, welche gegen jenen als Schutzwände für Aecker und Wiesen dienen müssen; höchstens gab dann und wann ein [60] Trupp magerer Birkenstämme, die, an irgend einem sandigen Verbindungswege stehend, ihr dünnes Haupthaar im Winde flattern lassen, der endlosen Monotonie einige Abwechselung. In dieser unfreundlichen Gegend, da wo die Straße von Mastricht nach Herzogenbusch die limburgische Grenze überschreitet, liegen ungefähr zehn bis zwölf Ortschaften, in denen sich vor sehr langer Zeit zwei merkwürdige Gesellschaften bildeten, die den Grund zu einem bei der Unfruchtbarkeit des Bodens überraschenden Wohlstand legten.[1] Es sind die der Kupferwaarenhändler und die der Haarkäufer, deren Wohnungen durch die Ziegeldächer, die grün gefirnißten Fensterläden und Thüren mit ihren blitzenden Messinggriffen, sowie durch gesteigerten Comfort, durch größere Ordnung und Reinlichkeit im Innern sich vor den andern strohbedeckten Hütten der übrigen Dörfler vortheilhaft auszeichnen.
Jede dieser zwei Genossenschaften zerfällt wieder in mehrere sogenannte Compagnien. Die erstere, von der ich hier nicht erzählen will, hat das Herzogthum Nassau und das Königreich Dänemark, wo sie auch ihre eigenen Kupferkesselfabriken besitzen, zum Vertrieb der Waaren gewählt. Die Haarkäufer dagegen suchten ihren Wirkungskreis in einem Theile Westphalens, in Hessen, auf dem Eichsfelde, in Thüringen, auf dem Rhöngebirge und in dem angrenzenden Theile des Königreichs Baiern. Es sind meistens kräftige, gutgewachsene Leute, oft mit anziehenden romanischen Köpfen. Sie halten unter sich stets auf strenge Zucht und Ordnung, sind in Gesellschaft nie aufdringlich, vielmehr ernst und schweigsam und meiden jeden öffentlichen Wortwechsel oder Streit. Sie werden daher überall gern gesehen und mit Achtung behandelt. Kein Wirth, bei dem sie länger verweilen, kümmert sich um das, was sie genießen, denn vor der Abreise legt der Haarkäufer sein Notizbuch, in welches er selbst das Geringste aufgezeichnet, dem Wirthe vor, und dieser weiß, daß er mit einem redlichen Manne abrechnet. Ihre „Geschäftssprache“ ist ein Dialekt des holländischen Idioms, den sie, um ihn unverständlicher zu machen, zum Ueberfluß noch mit einer Art von Rothwelsch vermischt haben. Ohne Ausnahme sind sie eifrige Katholiken, deshalb scheut Keiner weder Jahreszeit noch Wetter, wenn es gilt, den oft weit entfernten Ort ihres sonn- oder festtäglichen Gottesdienstes zu erreichen.
Meistens bestehen die Mitglieder der verschiedenen Compagnien, die sich nach den Orten ihrer Hauptniederlagen: Heiligenstadt, Dingelstedt, Mellrichstadt, Salzungen und Fritzlar benennen, aus Verwandten und ergänzen sich in der Regel auch lediglich aus diesen. Hat sich einer derselben zu dem Geschäft entschlossen, was gewöhnlich mit dem 15. oder 16. Jahre geschieht, so verpflichtet er sich, der Compagnie sechs Jahre lang als Knecht zu dienen, und wandert während dieser Periode unter der Führung eines der Sprache, der Wege und des Geschäfts vollständig kundigen älteren Cameraden mit auf den Handel, bis ihm dieser entweder allein anvertraut werden kann, oder er, was übrigens selten geschieht, wieder zurück nach der Heimath gesendet werden muß. Nach diesen sechs Jahren, während welcher Zeit er die Stätte, wo seine Wiege stand, nicht besuchen darf, tritt er mit Einlage seiner Dienstzeit als Capital nunmehr als vollständig gleichberechtigtes Mitglied in die Compagnie und erhält die Erlaubniß, von Zeit zu Zeit nach Hause reisen zu dürfen.
Das Einkaufen der Haare geschieht theils durch den Tausch gegen bunte Kattuntücher, theils gegen baares Geld. Die Haarkäufer sehen dabei am meisten auf die Länge und Feinheit des Haares, weniger auf die Farbe. In ihren Niederlagen wird dann die erworbene Waare nach Farbe und Feinheit sortirt, gereinigt, eingeölt, über dem Abschnitt einige Finger breit mit Bindfaden fest umwickelt, gut verpackt und nach ihren Bestimmungsplätzen, den meisten Hauptstädten Europa’s, ja selbst nach Amerika, abgesendet.
Freilich ist heutzutage dieser Handel nicht mehr so einträglich, als in den ersten Decennien dieses Jahrhunderts. Damals war auch der Haarkäufer ein anderer als jetzt, er war stets ein lustiger und durstiger Geselle, der oft wochenlang mit seinen Cameraden an dem Orte verweilte, wo sich seine Niederlage befand, und singend und scherzend aus einer Schenke in die andere zog. Jetzt aber geizt er mit seiner Zeit, denn will er dem Geschäft noch etwas abgewinnen, so giebt es weite Touren zu machen, hauptsächlich nach den vom Verkehr abgelegenen Ortschaften des Gebirges, da in den unteren Geländen und Thälern mitten von der hereinfluthenden Mode verdrängten Hauben und Mützen nicht mehr die genügende Ausbeute zu finden ist. Rückt das Alter heran, so pflegt sich der Haarkäufer nach seinem Dorfe zurückzuziehen, wo er inzwischen meistens Haus und Familie begründet hat, und der von der letzteren inzwischen betriebenen Landwirthschaft nunmehr selbst vorzustehen.
In einem dieser Dörfer mußte ich einst Nachtquartier nehmen. Das Wirthshaus wurde von einem ehemaligen Haarkäufer gehalten, der sein Schäfchen in’s Trockene und das eigentliche Geschäft aufgegeben hatte. Das ganze Haus war ein Bild von wohltuender Sauberkeit und behaglicher Ordnung. Als ich in das räumige Gastzimmer eintrat, saß der alte Wirth an dem von breitem Schornsteinmantel bedachten Kaminfeuer. Er hatte beide Hände auf die Arme des aus Weiden geflochtenen Lehnstuhls gestützt. Zwischen den Fingern der Linken hielt er den frisch gestopften irdenen Stummel, während die klugen Augen sinnend auf dem über dem Feuer hängenden eisernen Topfe weilten, in welchem die neben ihm sitzende Ehehälfte eben die Grütze in die siedende Buttermilch rührte. Eine tiefe Stille herrschte in dem weiten Räume. Bei meinem Gruß indeß richtete sich der Hausherr auf und ging mir mit einem kurzen, aber warmen „Willkommen“ entgegen. Auch die Alte verließ ihren Suppenkessel, und nun thaten die beiden Alten was sie konnten, um es mir, dem zeitweilig einzigen Gaste, so behaglich wie möglich zu machen. Es waren ein Paar prächtige Leute. Sie lebten jetzt ganz allein in ihrer stillen Wirthschaft, denn die Söhne hantirten noch draußen in der Welt als eifrige Haarkäufer.
Wie in Holland üblich, stand bald ein heißer Wachholdergrog auf dem Tische, die ebenfalls landherkömmliche Thonpfeife brachte mir die Alte, und ehe noch der Zeiger der urgroßväterlichen Wanduhr viel Weiler gerückt war, saßen wir im lustigen Plaudern. Oder ich vielmehr im aufmerksamen Zuhören; denn der Alte hatte sich ganz in die lieben Erinnerungen seiner Jugend und meiner Heimath, des grünen Thüringen, vertieft, das er manch liebes Jahr durchwandert hatte. „Wahrhaftig,“ fuhr er fort, indem er einen befriedigten Blick in der großen Stube umherwarf, von deren Gesimse, Wänden und Schränken ein ungewöhnlicher Reichthum von kupfernem und zinnernem Hausgeräthe blitzte, „ja, wahrhaftig, ich müßte undankbar sein, wenn ich im Geiste nicht noch dann und wann auf und zwischen den mächtigen Bergen Eures Thüringer Landes verweilen wollte. Gerade eben wie Ihr kamt, stand ich in Gedanken, den schweren blauen Plüschsack auf dem Rücken, mit meinen älteren Cameraden wieder dort, am Fuße jener gewaltigen Berge, und maß gerade wie damals den steilen Fußpfad, der uns nach dem nächsten Gebirgsorte bringen sollte. Dazumal hatte ich noch junge Beine, ich mußte hinauf, und es geht Alles, wenn man nur ernstlich will. Späterhin that mir’s Keiner gleich, und es giebt dort wohl keine Straße, keinen Fußpfad, den ich nicht, freilich oft keuchend und in Schweiß gebadet, gemessen, ich konnte dann immer noch beim Eintritt in eines jener Dörfer mein: „Haare, Haare verkoop“! kräftig und so lange die Straße hinaufrufen, bis ich das Schild oder den grünen Tannenbusch der Schenke erblickte. Dann aber war’s vorbei, denn das Bier war fast immer vortrefflich, und ein guter, alter Nordhäuser steht unserm Schiedamer nicht viel nach. Doch lange durfte ich dabei nicht verweilen, denn die Frauensleute hatten mich gehört und winkten da und dort aus Thür und Fenster.
Aber laß Dich das nicht irren, liebe Frau,“ — schaltete er zu seiner Ehehälfte gewendet ein – „das Winken galt niemals meiner Person, immer nur den schönen, bunten Tüchern in dem gefüllten Plüschsacke, denn die Frauensleute sind sich ja überall gleich und schmücken sich gerne mit bunten Lappen. Die beste Ernte habe ich immer vor der Zeit ihrer Kirmsen oder anderer Festtage gehalten. Für eins oder zwei meiner Tücher ließen sich die Meisten unter Scherz und Lachen das schönste Haar abschneiden, unter ihren Hauben und Kopftüchern bemerkte man das Stoppelfeld ja doch nicht groß. Einen Kranz, der die Blößen deckte, ließ ich ihnen ja immernoch stehen. Freilich traf es sich auch, daß eine einmal andern Sinnes war und weder von uns noch unseren Tüchern etwas wissen wollte.
So kann ich bis heute es noch nicht vergessen, als ich auch einmal wieder droben in einem jener Dörfer in der Schenke saß, wo sie sich im Winter wegen des hohen Schnees einen Ein- und Ausgang
[61][62] aus ihren Dachluken graben müssen und ihnen, wie man sagt, die Hasen durch den Schornstein in die Küche fallen. Ich hatte mich eben bei dem Wirthe nach einem Haare erkundigt, einem Haare, wie man es selten unter die Scheere bekommt, lang, fein und von einem Glanze, als wäre es mit Goldstaub bestreut. Aber das saß gewaltig fest, und wenn Unsereiner dann und wann so im Vorübergehen einen Blick nach den Fenstern des Häuschens warf, dann hättet Ihr nur einmal das Gesicht sehen sollen. Buh! man hätte sich fast fürchten können! Wir Alle ließen aber nicht ab und dachten: kommt Zeit, kommt Rath, gut Ding will Weile haben. Ich saß also droben wieder in der Schenke und hatte eben vom Wirthe vernommen, daß in jenem Hause die bittere Noth eingekehrt sei; die alte Frau wäre schon seit geraumer Zeit kränklich und das Bischen ersparte Geld sei, wie er bemerkt habe, zu Ende, und vielleicht säße das Haar heute nicht mehr so fest, wie sonst. Gerad hatt’ ich mich erhoben und wollte just nach meinen Sachen greifen, als eine alte, auf allen Jahrmärkten herumziehende Schwammhändlerin eintrat und mich mit den Worten begrüßte: „Na, Dicker, kannst heute einen Krug einschenken lassen, ich soll Dich zum Bärble hinunterholen, wirst schon wissen, warum. Dem armen Ding geht’s freilich fast an’s Leben; aber du lieber Gott – –“
Ich gab dem Wirthe schnell einen Wink, daß er einschenken sollte, und eilte davon, denn ich wußte, daß ein Camerad von mir, ein Heiligenstädter, ebenfalls heute noch hierher wollte, und da galt’s Eile. Das Bärble trat mir mit verweinten Augen auf der Hausflur entgegen. Ich gestehe, sie that mir leid, aber ein Blick auf ihren Kopf machte mich wieder fest. Ein Brabanter Thaler schlug durch, und wir traten ein. In der freundlichen Stube fand ich Reinlichkeit und Ordnung. Sämmtliches Geräthe jedoch trug das Gepräge arger Bedrängniß. Ich warf einen Blick auf die alte, weinende Mutter. Die arme Frau! Sie mochte fühlen, daß das Opfer ihr jetzt gebracht würde, und wies den Thaler, als fürchte sie sich vor seiner Berührung, laut jammernd zurück. Mir selbst wurde dabei ganz sonderbar zu Muthe. Doch die Begierde, dieses außerordentlich schöne Haar zu besitzen, welches wie ein goldener Strahl den Rücken herabfiel, siegte wieder über meine Gefühle. Schon hatte ich mein Reff abgesetzt und einige hübsche Tücher zurechtgelegt, die ich dem netten Mädchen außer dem Brabanter Thaler übergeben wollte, schon spielten meine Finger unter einer Strähne und die Scheere war zum Schnitt bereit, als mir eine starke Stimme zurief: „Haltet ein, Holländer, haltet ein!“ Das Mädchen fuhr wie ein Blitz in die Höhe. „Gott, das ist der Fritz, der Fritz!“ Mit einem Sprung war sie vom Schemel weg, eilte nach dem offenen Fenster, und wie ich mich umdrehte, hing die Dirne schon am Halse eines hübschen Jungen. Was soll ich weiter erzählen? Es war eben der Fritz, ihr Jugendgespiele, ihr Geliebter. Das war Rettung in der Noth, und somit war’s mit meinem Handel nun vorbei. Es that mir arg leid um das schöne Haar, das ich nun nicht bekommen konnte. Aber im Grund meiner Seele freuete ich mich doch, daß das schmucke Kind nun ihre schönen Flechten nicht herzugeben brauchte. Ich steckte meinen Brabanter wieder zu mir, raffte meine Sachen zusammen und eilte in die Schenke zurück. Wie ich später erfuhr, war der Fritz der Pfarrerssohn vom nächsten Dorfe, der das Bärble schon lieb gehabt, ehe er nach der Residenz ging und sich als Maler ausbildete. Jetzt war er mit mehreren seiner Commilitonen auf der Reise nach der Heimath und hatte es sich nicht versagen können, bei dem hübschen Mädchen vorzusprechen und ihr seine Ankunft anzuzeigen. Einige Jahre später hat er auch sein Bärble heimgeführt, und wie ich höre, hat einer seiner Freunde, der damals mit ihm nach der Heimath zog, die Scene des Wiedersehens in einem prächtigen Gemälde verherrlicht, das ich freilich nie gesehen. Gott schenke der braven Tochter ein glückliches Leben! Doch nun, Trude,“ setzte er hinzu, „mach’ daß unser Gast da zu seinem Speckstreif kommt, und trag uns Allen eine tüchtige Schüssel Kernemelks pap[2] auf.“
Ich drückte dem Alten die Hand und noch manchmal bin ich in der Folge bei dem wackeren Ehepaar eingesprochen. Als ich aber das letzte Mal in’s Dorf kam, da war der Alte heimgegangen, und der älteste Sohn, der nun auch das Geschäft aufgegeben hatte, hauste bei seinem inzwischen stocktaub gewordenen Mütterchen allein.