Haus- und Wanderratte
Haus- und Wanderratte.
Nächstverwandte Arten kommen fast immer am wenigsten friedlich miteinander aus. Die meist gleichen Lebensbedingungen bringen es mit sich, daß sie im Ringen um die Existenz am härtesten aufeinander stoßen. Der schwächere Teil unterliegt; es ist nicht einmal nötig, daß derselbe von seinem stärkeren Vetter in direktem Kampf durch die brutale Gewalt besiegt und vernichtet wird; auch der indirekte Weg kann zum gleichen Ziele führen. Der Stärkere nimmt dem Schwächeren die Existenzbedingungen vorweg, in stillem Kampf drängt er ihn immer weiter zurück, bis dieser die Segel streicht und das Feld räumt.
Wir begegnen diesem harten Gesetz bei Pflanzen und Tieren. Wo die verschiedensten Arten in der Ausdehnung ihrer geographischen Verbreitung eine neue Heimat sich gründen, da verdrängen sie, sofern sie überhaupt die nötigen Bedingungen zur Ansiedelung vorfinden, nächst verwandte heimische Formen. Australien bietet uns aus Pflanzen- und Tierwelt hiefür mancherlei Beispiele, und nichts anderes ist es, wenn wir sehen, wie die verschiedensten Menschenrassen, die Indianer Amerikas, die Ureinwohner Australiens, alle die „Wilden“ in den verschiedensten Teilen der Erde bei der Berührung mit der weißen Rasse allmählich dahinschwinden; es ist nicht Platz für beide an der Sonne.
Eines der bekanntesten Beispiele ist das Verhältnis der beiden in Europa vorkommenden Ratten, der Hausratte und der Wanderratte.
Bis zum vorigen Jahrhundert ist aus Europa nur eine Ratte bekannt gewesen, welche die Zoologie Mus rattus nennt. Sie ist von rußschwarzer Färbung, und zwar tragen Rücken und Bauchseite die gleiche Farbe. Ob sie von je in Europa vorgekommen ist, oder ob sie, wie vielfach angenommen wird, auch zu den Einwanderern gehört, ist noch nicht entschieden; in der alten Litteratur wird sie nicht erwähnt, zum erstenmal für Deutschland von Albertus Magnus im 12. Jahrhundert. Hausratte und Dachratte sind die deutschen Bezeichnungen dieses Nagers, beide Namen geben zugleich einen Hinweis auf seine Lebensart. Wie die Hausmaus, so bewohnt die Hausratte menschliche Ansiedelungen und folgt dem Menschen überall hin; mit Vorliebe aber bezieht sie die höheren Stockwerke; Bodenräume, Dachsparren sind der Lieblingsaufenthalt der ungemein gewandt kletternden Tiere. In Schraubengängen eilen sie bei Überraschung rasch die Pfosten und Balken hinauf. Steht etwa am Hause ein Weinstock, so dient ihnen dieser dazu, bequem und rasch von ihren Raubzügen wieder in die oberen Gemächer zu gelangen. In den Dachsparren nisten sie auch, nur wenn kältere Witterung eintritt, ziehen sie sich mehr ins Innere der Gebäude zurück.
Bis in das vorige Jahrhundert hinein erfreute sich die erwähnte Hausratte eines behaglichen Daseins. Da kam ein Stärkerer über sie. Plötzlich erschien eine neue Rattenart in Europa und in Deutschland. Der russische Naturforscher Pallas berichtet, daß im Jahre 1727 nach einem Erdbeben Ratten in ungeheurer Schar über die Wolga schwammen und, von den kaspischen Ländern her eindringend, zunächst Astrachan besetzten. Von hier aus führten sie ihren Eroberungszug in Europa aus. Der Mensch war ihnen hierbei wider seinen Willen behilflich. Die Ratten folgten den Verkehrsstraßen; besonders die vielfachen Kriegszüge um die Wende des Jahrhunderts waren ihrer Verbreitung förderlich, hauptsächlich aber ist die Besiedelung ferner Länder durch sie dem [767] Schiffsverkehr zuzuschreiben. So gelangte die neu eingewanderte Ratte jedenfalls nach England, wo sie bereits 1730 erschien, und auf gleichem Wege ist sie heute, dem Europäer folgend, nach den entferntesten Punkten der Erde gekommen, wo immer die vielfach verzweigten Fäden des Schiffsverkehrs hinführen.
Von der Hausratte unterscheidet sich die so plötzlich in Europa erschienene Rattenart äußerlich leicht durch die Färbung. Während die Hausratte, wie erwähnt, oben und unten ein schwarzes Fell trägt, ist die andere Art zweifarbig, oben bräunlichgrau, etwa erdfarbig, unten weißlich. Ohne daß wir des näheren auf anatomische Unterschiede eingehen wollen, sei noch erwähnt, daß die Körpergröße beträchtlicher als bei der Hausratte ist, der Schwanz dagegen kürzer und die Ohren kleiner.
Die Art ihres Auftretens in Europa verschaffte dieser Ratte den Namen Wanderratte, welcher auch in der wissenschaftlichen Bezeichnung Mus decumanus zum Ausdruck kommt. In England erhielt sie die Bezeichnung hannöversche Ratte, rat hannoverian, ein Name, der nicht ohne politischen Beigeschmack ist.
Die Wanderratte unterscheidet sich jedoch nicht nur in der Gestalt, sondern auch in ihrer Lebensweise beträchtlich von der Hausratte; im Gegensatz zu dieser bevorzugt sie für ihren Aufenthalt in menschlichen Wohnungen Keller und Erdgeschoß, hält sich auch mit Vorliebe in Gräben, Kanälen und Flußufern auf, und so vorzüglich die Hausratte klettert, so gut versteht die Wanderratte zu schwimmen, was ihr an manchen Orten, freilich fälschlicherweise, auch den Namen Wasserratte verschafft hat.
Leider ist aber auch der Charakter der Wanderratte wesentlich unangenehmer als der der Hausratte. Mit ihrer größeren Stärke und Kraft steht es im Zusammenhang, daß sie weit gewaltthätiger ist als ihre zahmere Verwandte, ja sogar von entschiedener Mordlust beseelt ist. Die zahlreichen Fälle, in welchen selbst Menschen von Ratten angenagt wurden, ihr tollkühner Wagemut in der Gefahr legen lebhaftes Zeugnis hierfür ab.
Mit dem Erscheinen der Wanderratte waren für die Hausratte die schönen Tage vergangen. Ein erbitterter Kampf entspann sich zwischen den beiden nah’ verwandten Arten, ein Kampf, der ein förmlicher Vernichtungskrieg der Wanderratte gegen die Hausratte wurde, denn wo die beiden Arten zusammentrafen, da griff die stärkere Wanderratte den schwächeren Vetter an und tötete oder vertrieb ihn.
Im ganzen darf die Hausratte heute als vertrieben angesehen werden, und wenn dieselbe doch noch in Deutschland angetroffen wird, so ist dies nur an sehr entlegenen Orten, auf einsamen Höfen und an sonstigen weltabgeschiedenen Punkten. In den Städten haben sie sich nur noch, wie Angaben aus Hamburg, Rostock u. a. Orten aus dem letzten Jahrzehnt beweisen, in den ältesten Häusern zu halten gewußt. – Je seltener solche Vorkommnisse heute noch sind, um so interessanter ist es, dieselben wissenschaftlich festzulegen und so das Verschwinden einer einst allgemein verbreiteten Tierart bis in deren letzte Ausläufer zu verfolgen. Ein jeder kann hierzu mithelfen, wenn er in seiner Heimat hierauf das Augenmerk richtet oder wenn er, vielleicht an einsamem Ort in einem deutschen Mittelgebirge die Sommerwochen verbringend, an solchen Punkten hierüber Nachforschungen anstellt. Daß dies leicht von Erfolg gekrönt sein kann, beweist ein Vorkommnis aus Württemberg in jüngster Zeit. Hier galt die Hausratte als längst verdrängt; da erhielt vor einigen Monaten Prof. Dr. Gustav Jäger in Stuttgart ein Exemplar aus seinem einsam gelegenen Landhaus; nähere Nachforschungen ergaben, daß in einem einige hundert Schritte entfernten kleinen Weiler sich noch eine Kolonie Hausratten vorfand.
Wie Ureinwohner eines Landes, von späteren Einwanderern zurückgedrängt, in den entlegensten und unzugänglichsten Teilen des Landes zwischen Felsen oder in undurchdringlichen Wäldern noch ein verborgenes Dasein fristen, die letzten Reste eines vielleicht einst mächtigen Stammes, während der Sieger die frühere Heimat in Besitz genommen hat, so mag es noch manchen einsamen Ort geben, an welchem die Hausratte als letztes versprengtes Glied einer einst weit verbreiteten Art sich vor den Verfolgungen ihres mächtigen Gegners, der Wanderratte, zu retten gewußt hat.