Historische Erinnerungen aus dem Palast Vendramin zu Venedig
Durch den Canal grande der Lagunenstadt Venedig, auf die sich seit der bekannten September-Convention Napoleon’s mit Victor Emanuel Aller Augen von Neuem lenken, fliegt die Gondel! Sie trägt den neugierigen Reisenden vorüber an jenen Palästen, die ein gewaltiges Geschlecht zum Tummelplatz seiner Intriguen, seiner Fröhlichkeit, zum Sesam für zahllose Schätze des Handels, der Kunst und Industrie ausersehen hatte. Verschwunden, versunken, vergessen, das müßte die Inschrift sein für alle Häuser jener alten, dahingegangenen Familien Venedigs. Wo sind sie, die Zianis, Moncenigos, Dandolos u. s. w.? Noch prahlen ihre Zeichen an den öden Gebäuden, welche der Marmor bedeckt, aber von den Balconen herab, aus den Fenstern, den Orten, von denen die üppigen Besitzer einst stolz auf das Getreibe der Stadt sahen, hängt das Lederzeug der österreichischen Soldaten. Die Pfähle in der trüben Fluth des Canals, die das Anstoßen der Gondeln verhindern sollen, waren sie nicht geziert mit den prunkenden Wappen, den bunten Farben der Hausbesitzer und Familien? Kein Wappen, keine Farbe Derer sichtbar, die hinter kolossalen Denkmälern in den Kirchen Venedigs längst zu Asche zerfielen. Und doch tauchen dort Pfähle auf geschmückt mit heraldischen Zeichen. Aber es ist kein Schild des italischen Adels: in Blau eine goldene Lilie – das Wappen der Bourbonen. Die Gondel legt an. Aus den Wellen der Lagune steigt der Palast Vendramin, ein Bau im herrlichen Renaissancestyl des Meisters Lombardo, dem nach erhaltenem Lohne noch ein Ring von ungeheuerem Werthe zum Andenken verehrt ward.
Wiederum fragen wir: „Wo sind die Vendramins?“ Die Antwort lautet wieder: „Verschollen oder vergessen.“ Wer aber besitzt heutzutage den Palast? Maria Caroline, Herzogin von Berri, geborene Prinzessin von Sicilien. Der Besitz eines versunkenen Geschlechtes gelangte in die Hände der Familie, welche seit einem Menschenalter bestimmt scheint, ruhe- und heimathlos umhergeworfen zu werden; die kaum auf Thronen, dereinst den Ruhestühlen ihrer Vorfahren, von Neuem Platz genommen hatte, als das Schicksal sie wieder hinunterstieß; die, immer unglücklich in ihren Versuchen die verlorene Krone Frankreichs wieder zu gewinnen, dennoch nie die stolze Hoffnung verlor.
Die hervorragendste Persönlichkeit der gegenwärtigen Sprossen des Geschlechtes, die muthige Herzogin von Berri, ist also Besitzerin des Palastes Vendramin und sie hat die Mauern und Gemächer desselben umgewandelt zu einem Epitaphium, es ist eine Galerie des Mißgeschickes königlicher, erlauchter Häupter. Fast scheint es, als wollte in allen Zusammenstellungen die Herzogin zeigen, wie nichtig die irdische Größe, wie ohne Wahl die Hand des Geschickes eingreift auch in den Lebenslauf des Mächtigsten; als wollte sie die Bilder und Statuen reden lassen für das Recht ihrer selbst und das ihrer Kinder.
Ueber die breite Treppe, deren Geländerstäbe qualvoll sich ringelnde, von fletschenden Löwenzähnen gepackte Schlangen umwinden, stieg ich in das Innere dieses Palastes, der, angefüllt mit ernsten Reliquien, nicht nur zum Beschauen, sondern weit mehr zum Nachdenken stimmt.
Durch den mit Bildwerken von Palma gezierten Vorsaal gelangt man in den Speisesaal, woselbst schon die Geschichte des Unglücks beginnt, eine Geschichte in Bildern. Ich betrachtete mit Empfindungen, wie sie der Geschichtsfreund in solchen Augenblicken hegen muß, die schmerzausdrückenden Züge Henriette’s von Frankreich, die stolzen ihrer herzlosen Mutter Maria von Medicis. Ich gedachte des Hauses zu Köln am Rhein, des Hauses, in welchem Rubens geboren, gelebt, und in welchem Maria verlassen und arm gestorben. Zwischen beiden Portraits leuchtet das der Katharina Cornaro hervor, umgeben von Bildern der Mitglieder des Geschlechtes Vendramin, des Geschlechts, von dessen einstiger Existenz nur noch seine Leichensteine zeugen.
Daneben – ein Sprung von mehrern hundert Jahren – erblickte ich die Bilder der Tanten Ludwig’s XVI., jener armen, alten Damen aus bourbonischem Blute, die, hinausgetrieben aus Frankreich, umherirrten und in der Fremde starben· Wie viel Unglück auf dieser kleinen Stelle vereinigt ist! Nur wenige Schritte weiter, und wir finden Heinrich IV., den größten der Bourbonen; Bosio’s Meisterhand hat ihn als Knaben dargestellt. Er lächelt, ein Zug reizender Unbefangenheit umspielt den schönen Mund, heiter, sorglos. Die Zeit ist noch fern, wo Ravaillac’s Mörderstoß die Hoffnung Europa’s vernichten soll.
Ludwig XIII., der kalte, gefühllose Sohn des großen Königs, Franz I. mit seinem mephistophelischen Antlitz erweitert das Gefühl des Unheimlichen. Wesentlich trägt hierzu das Düster des Zimmers bei, in welchem die Gemälde hängen. Alte Ledertapeten bedecken die Wände, seltsame Holzschnitzereien springen aus den Ecken und Winkeln hervor; wohin ich mich wende – eine trübe Erinnerung, eine Reliquie, welche von einem durch das Schicksal, sei es selbstverschuldetes oder unverdientes, schwer heimgesuchten Wesen stammt. Dort in der Ecke legen wir die Hand auf ein Schreibepult, vor dem dereinst die unglückliche Maria Antoinette gesessen, wir betasten die Schubladenknöpfe, die ihre zarten, zitternden Finger umklammerten – wenige Schritte weiter trägt ein alter, schwerfällig, aber kostbar verzierter Tisch ein Schreibzeug Katharina Cornaro’s, jener Königin, die nur schreiben gelernt hatte, um Abdankungen, Urtheile über Leben und Tod und zuletzt die Einwilligung in ihre eigene ewige Kerkerhaft unterzeichnen zu können. Nachdem ich mich ein wenig an den herrlichen Gemälden, welche das Zimmer links von dem Speisesaale füllen, erheitert hatte (obwohl die Vorwürfe auch gerade nicht erfreulich auf das Gemüth wirken, denn man findet Martern und Büßungen genugsam dargestellt, [729] aber Pordenone, Bassano, Tintorett und Veronese helfen darüber hinweg), folgte ich dem Führer in den großen Salon.
Die Herzogin hat hier eine Anzahl schöner Büsten aus der französischen Schule aufgestellt. Es sind Bronze- und Marmorbilder von Heinrich IV., dem Minister Sully, Ludwig XIV., dem Herzoge von Angoulême und dem durch Louvel’s Mörderhand gefallenen Herzoge von Berri. Ueber jenem kostbar verzierten Eckschranke ein Bild Ludwig’s XV. Wir haben hier drei Bourbonen vor uns, die theils unter Mörderhänden ihr Leben aushauchten, oder doch das Eisen des Vernichters an ihrem Herzen fühlten: Heinrich IV. und Ravaillac, Ludwig XV. und Damiens, den Herzog von Berri und Louvel. Drei Jahrhunderte hintereinander sah die Familie den Dolch über den Scheiteln ihrer vornehmsten Häupter schweben oder den Weg zu deren Herzen finden.
Wiederum durchschreiten wir einen Corridor, der zu dem Arbeitszimmer der Herzogin führt. Wiederum spricht das Unglück, die Einsamkeit, die Verlassenheit auf Thronen oder die Stimme des Verbannten von den Wänden herab in Bildern zu uns. Ludwig XIV., XV., dann das große, in einem Menschen verkörperte königliche Märtyrerthum Ludwig XVI., endlich Ludwig XVIII., Carl X. und neben diesen Bildern das der Zerstörerin Frankreichs, das Bildniß des schönen, bösen Wurmes, der sich zuerst hineinfraß in das Mark des mächtigen Baumes, das Bild der Marquise von Maintenon.
Ich konnte mich nicht enthalten, meine Bemerkung darüber zu machen, daß diesen Herrscherbildern gegenüber das Portrait des deutschen Kaisers Joseph II. aufgehangen worden sei, dessen Charakter und Ansichten so unendlich verschieden von denen der Originale aller neben ihm befindlichen Portraits gewesen.
„Ja,“ sagte der Führer, ein Diener im herzoglichen Palaste, „sehen Sie, er ist doch einmal ein Verwandter des Hauses, weil seine Schwester einen Bourbon geheirathet hat. Er war auch, glaube ich, einmal in Paris, aber er hat sich da sehr gefreut, daß es so viele unruhige Köpfe dort gebe. Denn mit denen verkehrte er gern.“ Wir schritten in das Arbeitscabinet der Herzogin – wenn der Leser jemals die Räume des Palastes Vendramin zu Venedig betreten sollte, so verweile er in diesem Gemache und versenke sich, gleich mir, in die Betrachtung der zahlreichen kleinen Miniaturportraits, welche die Wände schmücken, sie fast bedeckend.
Ich ging sie der Reihe nach durch. Sie sind reizend gefertigt, sie tragen den Stempel des vergangenen Jahrhunderts in Auffassung, Ausführung, Form und Tracht. Fast alle stellen Genossen dar jenes großen Unglücks eines hochgestellten Hauses, jener Leidenszeit des sechzehnten Ludwig und seiner mitleidenswerthen Gattin, die so viel erduldet, so viel ertragen und so viel fremde Schuld auf sich genommen haben. Ich kannte sie bald wieder: die schöne Lamballe, die Polignac, Madame Elisabeth, diesen Engel an Tugend, die schuldlose Dauphine, den armen Dauphin. Wer nennt sie Alle, die von jenes Zimmers Wänden herabschauen? Denn so Mancher ist dem Beschauer unbekannt, aber tief eingeschrieben vielleicht in die Herzen der Familie Bourbon. Heiter und lachend, noch nicht am Rande des Verderbens stehend, zeigt sich Maria Antoinette hier im Bilde. Ihr schönes Haar ist ohne Puder und fällt in herrlichen Locken blond und üppig auf den Nacken. Es war noch nicht die Zeit gekommen, in der sie eine Locke ihres weiß gewordenen, greisenhaften Haares für Frau von Campan abschnitt und auf das die Locke umhüllende Papier die Worte schrieb: „Gebleicht durch Unglück.“
Eilen wir jedoch nun in den Saal, welcher die Erinnerungen an die jüngsten Sprossen der Familie Bourbon einschließt. Wir sind der Herzogin, der muthigen Frau, der heroischen Mutter, Caroline Maria von Berri, eine längere Betrachtung ihres Wirkens schuldig. Hinunter in das Meer der Vergangenheit tauchen die Gestalten Derer aus dem Geschlechte der Bourbonen, welche geziert waren mit Purpur und der Krone Ludwig’s des Heiligen, die in ihren Händen das Scepter und die goldne Hand Carl’s des Großen hielten. Vor uns auf steigt das Geschlecht wieder, aber nur Die aus seiner Mitte, die da ringen mit dem Geschicke und die bis jetzt unterlagen.
Bevor wir die sprechendsten bekannten Bilder und Reliquien betrachten, müssen wir ein Portrait besichtigen, das, fast in den Winkel des Saales gehängt, doch gleichsam hervorleuchtet aus seinem Versteck. Es stellt einen jungen Mann in einer beinahe mittelalterlichen Tracht dar, aber man sieht dem Bilde an, daß diese Tracht nur beigegeben wurde, daß sie nicht zu dem modernen Kopfe paßt, ja – es hat fast den Anschein, als sollte eine Art von Verwirrung, eine Ungewißheit absichtlich erzeugt werden, denn dieses Bild ist ohne Zweifel mit einem Familiengeheimniß, möglicherweise der zartesten Art, verknüpft. Der Ausdruck des Gesichts ist ein wenig theatralisch. Im ersten Augenblicke glaubt man das Bild irgend eines Schauspielers von Bedeutung vor sich zu sehen. Schaut man es aber länger an, so findet man leicht, daß ein tiefer Schmerz sich um den Mund lagert, daß die Augen fast übergehen wollen von andrängenden Thränen. Dabei ist das Bild nur in zwei Farben ausgeführt und die Lichter sind alle recht grell aufgesetzt; dadurch tritt es besonders hervor und macht eine eigenthümliche Wirkung. „Wen stellt dieses Bild vor?“ fragte ich den Führer.
„Ich weiß es nicht. Ueberhaupt weiß es Niemand. Nur so viel ist uns bekannt, daß es von den Angehörigen sehr hoch gehalten wird, und es beweist dies schon der Umstand, daß ihm sein Platz unter den Bildern der Familie angewiesen wurde. Die Herzogin wird es wohl wissen.“
Das Geheimnißvolle reizt. Mit doppeltem Interesse schauen wir auf diese edlen Züge, diese wehmüthig blickenden Augen. Wen mag das Bild vorstellen? Das Haus Bourbon ist stets reich an mystischen Vorgängen und Persönlichkeiten gewesen. – Hoch zu Pferde zeigt sich im Bilde der Herzog von Bordeaux. Er ist es, der Frankreichs Krone als Heinrich V. sich auf das Haupt setzen sollte. Er ist es, um dessenwillen seine Mutter das Ungeheuerste wagte, was eine zarte Frau wagen kann; er ist es, um den sie zur Heldin, zur Gefangenen, zur Verbannten wurde; indem wir bis zu ihm gelangt sind, kommen wir auf das bewegte Leben Maria Carolina’s, die von seiner Geburt an mit Beaumarchais ausrufen kann: „Ma vie est un combat.“
Die Betrachtung der merkwürdigen Frau soll uns länger beschäftigen. Im Februar des Jahres 1820 hatte Louvel’s Mörderhand dem Leben des Herzogs von Berri durch den Stoß seines Messers ein Ende gemacht. Damals trug Maria Caroline den Herzog von Bordeaux unter ihrem Herzen. Am 15. Sept. 1820 ward die Herzogin von einem Sohne entbunden. Die Geburtsstunde des Herzogs von Bordeaux ist thatsächlich einer der merkwürdigsten Eintritte in das Leben. Bekanntlich findet bei den Geburten hoher Persönlichkeiten, welche bestimmt sind, eine Krone zu tragen, eine Art von Zeugenversammlung statt, um die Echtheit der Geburt zu constatiren. Da im entscheidenden Augenblicke nur Personen aus der nächsten Umgebung zugegen waren, so rief man eine Wache des Dauphins herbei, damit Zeugen unverdächtiger Art in der Nähe seien. Maria Caroline aber dachte in dieser schweren Stunde, während dieses Schwebens zwischen Leben und Tod, an die Zukunft des Kindes, welches erst das Licht der Welt erblicken sollte. „Die Wache des Dauphins,“ rief sie mitten in den Wehen, „gehört zum Hause, sie ist nicht unverdächtig. Nationalgarden herbei, sie sollen zeugen.“
Zehn Minuten später traten die Nationalgardisten Lainé, Dauphinot und Ladong ein. „Sehen Sie, meine Herren,“ sagte die Herzogin, „da ist ein Prinz von Frankreich.“
Englische Blätter brachten bald darauf einen Protest gegen die Echtheit der Geburt, ein Manoeuvre, welches das Herz der Mutter tief verwundete. Die Erziehung des jungen Herzogs sollte nach dem Willen der Mutter in einem dem Volke zusagenden Sinne stattfinden. Allein eine höhere Macht hatte es anders beschlossen. Die Kugeln der Julirevolution zerrissen das Band, welches die Bourbonen mit Frankreich verknüpfte. Maria Caroline war bald die Begleiterin des flüchtenden Königs. Carl X. saß in der Kutsche, welche ihn aus den erregten Umgebungen der Hauptstadt hinwegtrug, neben der Herzogin von Angoulême, der Tochter Ludwig’s XVI. Zum zweiten Male flüchtete die unglückliche Prinzessin vor den heranwogenden Fluthen der Empörung. Man erzählt, der Zug der Flüchtlinge sei wieder über Varennes gegangen und wieder sei vor der verhängnißvollen Brücke, bei welcher einst Ludwig’s XVI. Wagen angehalten wurde, ein Rad an der königlichen Kutsche gebrochen. Carl X. habe halten wollen, allein die Herzogin von Angoulême habe es nicht zugegeben, sondern darauf gedrungen, daß die ganze Familie zu Fuß den Weg fortsetze, bis man Varennes im Rücken hatte.
In Schottland angekommen, wo das Schloß Holy Rood die Entthronten aufnahm, hatte die Herzogin Maria Caroline von Berri nur einen Plan: die Krone Frankreichs für ihren Sohn [730] den Herzog von Bordeaux, als Heinrich V. wieder zu erringen. Vielleicht kam zu diesen politischen Plänen noch eine gewisse der Herzogin innewohnende Romantik. Wie alle Bourbonen, hatte sie ihre Blicke auf die Vendée geworfen. Die Vendée ist Frankreichs königliches Wappenfeld. Dort schlagen die Herzen höher bei dem Rufe: „Vive le roi!“
Die Vendée war auch ein Hauptziel der Herzogin, von dort sollte, so hoffte sie, die Bewegung ausgehen, in deren Verlauf ihr Kind, geschmückt mit der Krone von Frankreich, wieder in die königlichen Hallen der Tuilerien einziehen würde. Trotz aller Hindernisse und Gegenreden verließ darum Maria Caroline England und ging nach Italien. Eine Reise in das südliche Frankreich, um die Stimmung zu sondiren, ward durch die Agenten der Regierung unterbrochen; doch hatte die Herzogin sich genugsam überzeugt, daß in gewissen Kreisen der Aufruf zur Erhebung für das Haus Bourbon Anklang finden werde.
Wie die Herzogin ihre Reise, ihre Ankunft in Marseille bewerkstelligte, ohne von den Spähern entdeckt zu werden, ist ein Geheimniß geblieben. Am 30. April 1832 fand in Marseille die erste Schilderhebung der Bourbonisten statt. Wie sie verunglückte, das zu erzählen, bedarf einer für diesen Zweck zu langen Auseinandersetzung. Flüchtend, von Ort zu Ort im Schutze der Nacht, im Dunkel des Waldes, belauschen wir Maria Caroline. Sie schläft, in ihren Reisemantel gehüllt, auf der Erde, unter freiem Himmel. Sie ruht, zitternd vor Frost, nach langer Wanderung in der Hürde eines Schäfers aus. Der zarten Frau versagen die Füße, die nur gewöhnt sind, den Parquetboden königlicher Zimmer zu betreten, den Dienst. Sie schläft ermattet ein. Sie träumt von Kronen, von dem Jubel des Einzuges in Paris. Endlich wird sie von ihren Getreuen geweckt. Man hatte einen Wagen gefunden, und die Herzogin konnte die mühevolle Reise wenigstens fahrend vollenden. Ihr Ziel war die Vendée, dorthin ging der Zug ihres Herzens. „Auf Wiedersehen in der Vendée!“ das war der Ruf, als sie sich von ihren Begleitern trennte.
Nur von einem Getreuen beschützt, jede belebte Straße vermeidend, ist die Herzogin auf dem Wege nach der Vendée jeder Gefahr ausgesetzt. Verdächtige Patrouillen von Gensdarmen gewahrte man zu verschiedenen Tageszeiten, und endlich, es unterlag keinem Zweifel – ward die Kutsche verfolgt. Was beginnen? Die Reiter mußten die Papiere der Reisenden sehen und – wenn sie die Herzogin erkannten? In der Nähe ist kein schützendes Haus. Der treue Führer kannte alle Bourbonisten auf der ganzen, langen Reiseroute. Immer näher kamen die Gensdarmen. „Ist keine Behausung zu erreichen, die uns verbergen könnte?“ flüsterte die Herzogin.
„Ich kenne keine, deren Wirth ein Bourbonist wäre. Wollen Sie das Aeußerste wagen, Madame? Das nächste Gut ist Eigenthum eines Republikaners.“
„Hin zu ihm, schnell!“
Der Besitzer des Hauses eilte herbei. „Mein Herr,“ sagte Maria Caroline, „ich kenne Ihre Gesinnungen, aber für eine Proscribirte, wie ich es bin, giebt es keine Meinung: ich bin die Herzogin von Berri.“
Der Republikaner reichte der Flüchtigen seine Hand. Die Herzogin schlief unter dem Dache seines Hauses sicher vor den Nachstellungen ihrer Feinde. Hier suchte Niemand die Mutter des Herzogs von Bordeaux, Niemand dachte daran, daß der Republikaner dem Haupte der Bourbonenfamilie ein Obdach gewähren, daß er am folgenden Morgen, beim Grauen des Tages, neue Pferde herbeischaffen würde, mit denen Maria Caroline nach vielen Gefahren in das Haus eines ergebenen Freundes gelangte. Endlich in der Vendée – endlich in der Mitte jener alten, ländlichen Barone, jener Pächter und Waldläufer, die bereit waren, auf das Zeichen der Sturmglocke die Waffen zu ergreifen, die Fahne der Bourbonen zu erheben und sich mit dem Rufe: „Es lebe Heinrich der Fünfte!“ in den Tod zu stürzen!
Die Herzogin war an allen Orten zugleich. Sie entwickelte eine ungeheuere Thätigkeit. Sämmtliche Correspondenz, die Geldangelegenheiten, die Pläne, Alles ging von ihr aus, war das Werk ihrer Hände, der Entwurf ihrer glühenden, rastlos arbeitenden Phantasie. Nicht genug, daß diese gewaltige Last einer Frau oblag. Sie mußte es Alles heimlich, verborgen unter dem Schutze des Gastrechtes ausführen. Die Landleute hüteten die Wohnung der Herzogin, und die Gemeinde von Legé, woselbst Maria Caroline verborgen wohnte, gab ihr in der That rührende Beweise von Anhänglichkeit. Von hier aus erließ sie die Proklamationen, aber den Streifcolonnen gelang es nicht, ihrer habhaft zu werden. Hier empfing sie unter anderen Berryer, den bekannten legitimistischcn Advocaten. Als er an die Wohnung der Herzogin kam, mußte er das Losungswort geben. Man antwortete aus dem Innern des Hauses in verabredeter Weise. Dann öffnete eine alte Frau, in Begleitung eines stämmigen Burschen, dessen Hand mit dem eisenbeschlagenen Knittel der Vendéer bewaffnet war, die Thür.
Berryer ward in ein ärmliches Zimmer geführt. Hier sah er sich einer Frau gegenüber. Es war die Herzogin. Sie trug einen leinenen Kopfputz, die Tracht der Bäuerinnen jener Gegend. Berryer war ein Gegner der Erhebung. Er beurtheilte die Sachlage mit seinem kalten, ruhigen Verstande. Allein die Herzogin hörte auf keine Rathschläge. Sie wollte handeln für die Sache ihres Kindes, und an demselben Abende, wo Berryer sie verließ, richtete sie an die Häuptlinge der bourbonischen Verschwörung ein Schreiben, in welchem sie die Nacht vom 3. zum 4. Juni als den Zeitpunkt des Ausbruchs bezeichnete. In Manneskleidern ging Maria Caroline von Ort zu Ort. Sie bereitete, unterstützt von einigen phantastischen Köpfen, die Schilderhebung der Vendée vor. Sie hieß bei ihren Gefährten Petit Pierre und entging, in der Verkleidung eines Bauern der Vendée, den Forschungen der Behörden.
Die Juliregierung, unterrichtet von dem sich vorbereitenden Aufstande, ließ kein Mittel unbenutzt dem drohenden Ereignisse gerüstet entgegentreten zu können. Mobile Colonnen unter Commando des General Dermoncourt durchstreiften das Land, untersuchten die Schlösser, und eine derselben war so glücklich, höchst wichtige Papiere aufzufinden, welche der Regierung alle Pläne und Namen der in die Verschwörung verflochtenen Persönlichkeiten verriethen. Mit einem Schlage wechselten jetzt die Rollen. Statt angegriffen zu werden durch die Vendéer, griff die Regierung diese an, und als am 4. Juni 1832 die Sturmglocke in der Vendée die Kämpfer für Heinrich V. zu den Waffen rief, fanden diese überall einen schlagfertigen Feind, der nicht wartete, bis sie sich in Reih und Glied gestellt, sondern der über jeden, oft ganz ohne alle Absicht sich zusammenfindenden Trupp Vendéer herfiel und ihn zerstreute. Vereinzelt brach überall der Aufstand aus, und so ward er einzeln niedergeworfen.
Die Herzogin war auf die erste Nachricht der Erhebung in den Kampf geeilt. Durch eine fliegende Colonne erkannt und verfolgt, mußte sie in einem Dickicht die Nacht verbringen; während dieser Zeit hatte das blutige Drama geendet. Am folgenden Tage entkam die Herzogin nur durch schnelle Wechselung der Kleider mit einer Bauerfrau der Verhaftung. Heute nahm ein Schloß die Flüchtende auf, morgen war eine Windmühle ihr Obdach, am nächsten Tage ein Pachthof. Hierher kamen, flüchtig, verfolgt, durch das Dickicht sich schlagend, Verwundete aus den Gefechten. Noch ein Mal wollte Maria Caroline zu den Kämpfenden eilen, aber wieder zeigten sich die Colonnen Dermoncourt’s von allen Seiten, und der General hatte die Versicherung gegeben: „Er werde Madame und deren Begleitung ohne Gnade niederschießen lassen.“
Trotz der wüthendsten Tapferkeit unterlagen die Vendéer. Während dieser Kämpfe waren Unruhen in Paris, bei Gelegenheit des Leichenbegängnisses des Generals Lamarque, ausgebrochen. Mit doppeltem Eifer bekämpfte daher die Regierung die Bewegungen. Immer enger zog sich das Netz um die Vendée und die Anhänger des Hauses Bourbon, die Kämpfer alle und zuletzt Maria Caroline verzweifelten an dem Ausgange. Die Sache Heinrich’s V. war verloren.
Wieder ist die Herzogin eine Geächtete, eine Umherirrende; wieder eilt sie von Dorf zu Dorf, von Gehöft zu Gehöft. Aber dieses Mal ist sie nicht erfüllt mit stolzer Hoffnung auf kommende Siege oder Erfolge, welche dem Ermattenden neue Kraft geben. Sie ist eine Geschlagene, die nur noch den sicheren Zufluchtsort zu erreichen suchen muß, eine trostlose Mutter, deren schönste Aussichten in die Zukunft vernichtet sind. Aber der Geist Maria Carolina’s blieb ungebeugt. Als Bäuerin verkleidet und von einer getreuen Gefährtin begleitet, gelangte sie glücklich in die alte Stadt Nantes. Als sie durch das Thor getreten waren, fielen die Blicke der Flüchtlinge auf ein Placat der Regierung, welches die Ueberschrift trug:„Etat de Siège“. Nantes befand sich in Belagerungszustand. Die Herzogin eilte weiter durch die Straßen und half [731] einer alten Frau die Körbe packen, weil die Alte die beiden Verkleideten für wirkliche Bäuerinnen hielt und sie um Hülfe bat. Endlich nahm das Haus der Familie Duguigny in der Straße Haute du Château die Flüchtenden auf. Hier blieb Caroline fünf bis sechs Monate lang verborgen. Wie dies möglich war, ist fast nicht zu begreifen, wenn man nicht den Ansichten der Tageblätter beipflichten will, die behaupteten, daß die Regierung sehr Wohl um den Aufenthalt der Herzogin wisse, sie aber nicht fangen wolle. Maria Caroline führte immer noch eine Correspondenz mit ihren Anhängern von diesem Schlupfwinkel aus, sie empfing Besuche, sie ward lebensgefährlich krank. Alles dies konnte geschehen, ohne – zur Ehre der Nation muß es gesagt sein – ohne daß sich ein Verräther fand, denn wenn auch vielleicht die Regierung ein Auge zudrücken wollte, so machte sie doch gewaltige militärische und polizeiliche Anstrengungen, und leicht konnte irgend ein Mensch sich vorfinden, der den Preis des Verrathes erringen mochte.
Er fand sich auch, aber es war kein Franzose, sondern ein gewisser Simon Deutz aus Köln, der sich in das Vertrauen der Herzogin einzuschleichen gewußt hatte, das er bald so besaß, daß er in den wichtigsten Angelegenheiten ihr Agent wurde. Er war es, der am 6. November die zur Gefangennahme der Herzogin beorderten Militär-Colonnen um das Haus aufstellen ließ, wo Maria Caroline verborgen.
„Retten Sie sich, Madame,“ rief plötzlich einer ihrer Getreuen, „ich sehe rund herum um das Haus Bayonnete blitzen.“ Der Mond war aufgegangen, und man konnte deutlich das Funkeln der Waffen sehen. Volk lief zusammen, von allen Seiten rückte Militär gegen das Haus.
„Eilen Sie in Ihr Versteck, Madame,“ riefen die Freunde.
In diesem kritischen Augenblicke zeigte die Herzogin eine seltene Ruhe und Beherrschung. Sie warf einen Blick durch das Fenster auf die herannahenden Soldaten und begab sich langsam in ihr Versteck. In einer Mansarde des dritten Stockes im Duguigny’schen Hause war hinter dem Kamin ein kleines Kämmerchen, dessen Eingang durch die Kaminplatte gebildet und verschlossen wurde. Den Hintergrund des Zimmers gab die äußere Mauer des Hauses, auf welcher die Dachsparren ruhten, welche wiederum das Versteck von oben schützten und bedeckten. Vorn am Eingang hatte dieser Raum achtzehn Zoll Breite, gegen das Ende zu nur acht bis zehn Zoll, dabei eine Länge von drei bis vierthalb Fuß.
Als die von den Commissären eingeführten Soldaten in das Haus drangen, waren die Compromittirten bereits in ihrem Verstecke. Man denke sich vier Personen in dem beschriebenen engen Raume. Auf den ersten Blick konnte man wahrnehmen, daß Deutz die Behörde von Allem genau unterrichtet hatte. Die Commissäre gingen in dem Hause umher, als wären sie alte Bekannte. Nichts war zu entdecken. Bald aber befanden sich die Verborgenen in höchst peinlicher Lage. Dumpfe Schläge gegen die Mauer des Nachbarhauses, welche den Schlupfwinkel begrenzte, zeigten ihnen an, wie eifrig gesucht ward. Schon fielen größere und kleinere Stücke Mauerwerk auf die Geängstigten herab, der Kalkstaub zog in dichten Wolken durch das enge Gemach. Fest aneinandergepreßt standen die Herzogin und Fräulein von Kersabiec, die Herren Mesnard und Guibourg hatten sich auf dem Boden zusammengekauert. Nährend dessen ward das ganze Haus durchwühlt, aber nach einer siebenstündigen Untersuchung gab der Präfect die Hoffnung auf.
Die Gefangenen des Mansard-Zimmers athmeten ein wenig freier. Sie konnten nicht wissen, was vorging, aber sie hörten die Tritte abmarschirender Soldaten. Die Nacht brach herein. Sie flüstern schon untereinander von Rettung, von Flucht – da – horch! In das Zimmer vor dem Schlupfwinkel treten Leute. Das Klirren ihrer Säbel, die Reden welche sie führen, zeigen deutlich, daß es Gensdarmen sind. Die Flüchtlinge halten den Athem an. Eine schneidende Kälte dringt durch die Ziegel des Daches, die Zähne klappern, die Hände und Füße sterben ab. Da knistert es in dem Kamine, dessen eiserne Platte die einzige Scheidewand zwischen den Verfolgten und ihren Häschern bildet, die Soldaten haben Feuer gemacht; das thut den fröstelnden Gefangenen wohl, aber was ihnen anfangs ein Glück schien, wird ihr Verderben. Immer glühender wird die Eisenplatte, immer furchtbarer die Hitze in dem engen Raume, zwei Mal faßt das Feuer die Kleider der Damen, man löscht es mit den Händen, welche sofort die Brandmale zeigen. Will man die Lage ändern, muß man über den Andern hinwegsteigen; so gelangt die Herzogin dicht an die glühende Platte. Sie hält mit furchtbarer Resignation aus. Das Feuer erlischt, die Soldaten schnarchen. Die Nacht vergeht. Fast ohnmächtig vor Hunger, Erschöpfung und Erregung sehen die Gefangenen das Tageslicht durch die Ritzen des Daches schimmern. Kaum graut der Tag, so beginnen die Arbeiten gegen die Mauern des Hauses von Neuem, Stöße, Schläge mit Eichenbohlen machen das ganze Hotel Duguigny erzittern. Dann tiefe Stille.
Darauf wieder neue Arbeit. Dicht an der Kaminplatte wühlt und hämmert es, die Steine bröckeln ab; schon glauben die Gefangenen, der Augenblick der Entdeckung sei gekommen, da lassen die Arbeiter in ihren Forschungen nach. „Wir sind gerettet,“ flüstert die Herzogin. Alle drücken sich die Hände. Umsonst – die Wachen erscheinen wieder, und das verderbenbringende Feuer knistert im Kamine. Einer der Soldaten hat unglücklicher Weise ein Paket Acten aufgestöbert, mit denen er das Feuer unterhält. Zu der Qual der Hitze gesellt sich die des Rauches. Schon müssen die Eingesperrten den Mund an die Oeffnungen der Dachsteine legen, um athmen zu können, während ihre Kleider neue Brandflecken zeigen. Die Stunde der Entdeckung war gekommen. Nicht fähig mehr dem Rauch und der Gluth zu widerstehen, öffneten die Herren auf Befehl der Herzogin die Platte durch Fußtritte.
Ein „Wer da?“ der Gensdarmen beantwortete den mit fester Stimme ausgestoßenen Ruf: „Ich bin die Herzogin von Berri, öffnet die Platte.“ – Das Erstaunen war maßlos. Es theilte sich dem auf der Straße versammelten Volke gleichfalls mit. General Dermoncourt eilte herbei, Erfrischungen aller Art wurden den Erschöpften gereicht. Groß war die Theilnahme, welche die heroische Frau und deren treue Begleiter erweckten. Der Gegner der Herzogin, Dermoncourt, rief aus: „Diese Frau ist eine Heldin!“
Maria Caroline ward mit allen Ehren und den einer Fürstin gebührenden Auszeichnung behandelt. Aber ihre Sache war verloren. Um sie den Augen der erregten Menge so schnell wie möglich zu entziehen, brachte man sie auf die Brigg La Capricieuse, welche sie am 11. November von den Küsten Frankreichs hinwegführte. Sie wird das Land ihrer Wünsche, ihrer Hoffnungen wohl nicht mehr betreten dürfen, und gleich vielen Andern, findet auch ihr Bildniß im Palaste Vendramin eine passende Stelle unter den Gegenständen, welche die Erinnerung an herbe Schicksale wach rufen. – Daß die Herzogin den Besucher des Palastes lebhaft interessirt, ist begreiflich. Ihr Leben, ihr Dulden, ihr Handeln sind nicht minder interessant, als die jener Personen, welche im Schimmer der Romantik, verklärt durch entschwundene Jahrhunderte, vor uns stehen. Ein Faden des großen Geschichtsnetzes verbindet außerdem Venedig immer mit Frankreich, und gerade in diesem Augenblicke erzittern die Fäden des Gewebes mehr als je. Wo die Convention Italien-Frankreich neue, große Ereignisse, deren Mittelpunkt Venedig sein dürfte, vorbereitet, war es vielleicht nicht ohne Interesse, das Tusculum einer französischen Fürstin in der Stadt zu betrachten, nach welcher sich unsere Blicke jetzt erwartungsvoll richten.
Maria Caroline theilt in Allem die Schicksale so mancher im Palaste Vendramin durch sie verherrlichter Persönlichkeiten, und das Gemäuer des alten, mächtigen Gebäudes scheint sich nicht hergeben zu wollen zur Ruhestätte seiner Insassen. Wie seine Erbauer, so ist auch seine jetzige Besitzerin fern von ihm auf einsamem Schlosse in den schönen, stillen Bergen Steiermarks.
Besteigen wir wieder die Gondel, die uns hinwegführt von dem Palaste Vendramin! Werfen wir noch einen Blick auf das stolze Haus! Da, auf dem Gemäuer, steht in schwarzer Schrift – tief in den Stein gehauen – gleich einer Entschuldigung dem Geschicke gegenüber, ein kurzer Spruch der Vendramins: „Non nobis“ „Nicht für uns.“ Der Spruch ist zum traurigen Symbole für Alle die geworden, welche sich Besitzer des Palastes nannten. „Non nobis“ sollte aber auf allen Palästen Venedigs stehen, besonders auf den Mauern derer, die den Canal grande zieren, durch dessen gewaltiges Thor, Ponte di Rialto, wir so eben, in ernste Stimmung versenkt, mit der pfeilschnellen Gondel gleiten.