Honfleur und die Seinemündung
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Unsere Zeit ist die Zeit der Revolutionen. Und nicht alle gehören zu den proscribirten. Unzählige bewirkt sie, die man als ungefährlich, oder als nothwendig anerkennt, und die Könige und Fürsten der alten Welt wetteifern mit den Regierungen der neuen in Beförderung von solchen, welche jenen aufgeklärten Egoismus zum Hebel haben, der Einzelne, wie Vereine antreibt, in Unternehmungen zum allgemeinen Nutzen den Privatvortheil zu suchen.
Unter den Werkzeugen, womit die Wissenschaft den Menschen zu wohlthätigen Revolutionen dieser Art ausrüstete und womit der schwache Sterbliche das früher nie Gedachte sicher und leicht vollbringt, sind die Dampfmaschinen und Eisenbahnen die allermächtigsten. Kein Tag vergeht, ohne daß durch sie gewisse lange bestandene und für unbeweglich gehaltene Verhältnisse verändert und umgekehrt werden. Entfernte Städte werden durch sie vereinigt; Länder und Völker, durch Oceane getrennt, rücken nahe an einander; der Erdball selbst schrumpft zusammen und wird vor dem den Raum nach der Zeit messenden Verstande kleiner von Jahr zu Jahr. – Noch vor einem Decennium brauchte man zur Reise von Paris nach Petersburg 4 Wochen; jetzt 8 Tage. Vom Rhein nach Afrika[1] ist’s gegenwärtig eine fünftägige Fahrt; und aus der Mitte Deutschlands nach New-York[2] wird man noch in diesem Jahre in zehn, von der Donauquelle nach Constantinopel in acht Tagen gelangen können. Die früher sechsmonatliche, gefahrvolle Reise aus Europa nach Ostindien ist zu einer sechswöchentlichen geworden, und wenn die projektirte Dampfschifffahrt um das Cap Horn mit Stationen auf den Inseln der Südsee zu Stande gekommen ist, wird eine Reise um die Welt nur eine Sommertour seyn. –
Welche Wirkungen aber – welche nicht zu hemmende, unwiderstehliche Wirkungen wird dieß Aneinanderrücken der Völker, das unvermeidliche Sich-Kennenlernen und Vertrautwerden derselben, das innige Verschlingen und Aneinanderknüpfen ihrer wichtigsten Interessen, das sich einander Unentbehrlich-werden der Nationen auf den Kulturgang der Menschheit überhaupt hervorbringen? Leser, denke nach! – Und gehörst du zu Denen, die da trauern über so manches Geschehende, so schwinge dich an dieser Frage empor über die düstern Nebel der Gegenwart, dem kommenden Tag in’s Morgenantlitz zu schauen, das jene zu verhüllen bemüht sind.
[74] Eines der auffallendsten, für unser Vaterland wichtigsten Resultate der Dampfschiffahrt hat die erst im vorigen Jahre eingerichtete direkte Verbindung zwischen der Elbe und Seine geliefert. Durch sie sind die Nordküsten Deutschlands und Frankreichs einander so nahe gebracht, daß der ganze Norden Europa’s jetzt den kürzesten Weg nach Frankreichs Hauptstadt über Hamburg zu suchen hat. Man legt eine Seereise von 150 deutschen Meilen (von Hamburg bis Havre) in 50 Stunden zurück. Es ist eine der angenehmsten Fahrten. Niemals fehlt’s auf ihr den Reisenden an Unterhaltung. Bald gibt sie das Begegnen von Schiffen, die entweder pfeilschnell nahe vorüber segeln, oder wie weiße Wölkchen am Horizonte sich zeigen und verschwinden; bald ergötzt das Erspähen der Küsten, erst Deutschlands, dann Hollands, dann Belgiens, dann Englands und Frankreichs, die zuweilen sich nur wie kommende und vergehende Nebel darstellen, zuweilen wie Wolkenstreifen, zuweilen auch in kenntlichen Umrissen hervortreten, mit Höhe und Tiefe und aller Färbung des Lichts; unvergleichlich schön bei der Durchfahrt des Kanals zwischen Boulogne und Dover. Und gegen das Ende gewinnt die Fahrt den höchsten Reiz durch das herrliche Küstenpanorama der Bretagne, dessen hohe Kreidefelsen, grotesk gestaltet, wie Riesen erscheinen, die mit der gewaltigen Brandung des Ozeans kämpfen.
Dieppe vorbei biegt die Küste nach Süden um, und plötzlich zeigt ihre Felsenmauer eine große, 5 Stunden breite Lücke, in welche das Meer tief in’s Land hinein zu strömen scheint. Dieß ist die Mündung der Seine. Bald entdeckt man links die Thürme und Häuserreihen von Havre, der Reise Ziel, – rechts das uralte Honfleur malerisch am Fuße eines hohen, bewaldeten Vorgebirgs. – Kaum beleben ein paar armselige Fischerfahrzeuge seinen ahnsehnlichen, aber versandeten, Hafen, und der Handel, der es einst berühmt und reich machte, ist längst auf das entgegengesetzte Ufer geflohen, wo Mast an Mast und Bord an Bord sich drängen. – Das verlassene Honfleur zählt jetzt kaum 9000 Einwohner. Das Innere der Stadt trägt den Charakter der Oede und Verarmung und tritt in den schneidendsten Contrast zu der Herrlichkeit seiner Lage und der Heiterkeit seiner äußern Umgebung.