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Ilse, oder, die Bewohnerin des Ilsensteins

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Textdaten
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Autor: Johann Karl Christoph Nachtigal
unter dem Pseudonym Otmar
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Titel: Die Bewohnerin des Ilsensteins
Untertitel: Oertliche Volks-Sagen auf der Nord-Seite des Harzes
aus: Volcks-Sagen, S. 171-174
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1800
Verlag: Wilmans
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Erscheinungsort: Bremen
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Jungfer Ilse
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Die Bewohnerin des Ilsensteins[1].

„Sahst du noch nie die schöne Jungfrau auf dem Ilsenstein sitzen? Alle Morgen schließt sie den Fels auf, so bald der erste Sonnenstrahl ihn trift, und steigt herab zur Ilse, in deren spiegelhellem Wasser sie sich badet. Freilich allen Menschen ist es nicht vergönnt, sie zu sehen. Aber, wer sie sahe, preißt sie wegen ihrer Schönheit und Güte. Oft schon theilte sie von den Schätzen mit, die der Ilsenstein in sich schließt, und manche Familie verdankt der schönen Jungfrau ihr Glück.

Einst fand sie am frühen Morgen ein Köhler, der in den Forst gehen wollte, an der Ilse sitzen. Er grüßte sie freundlich, und sie winkte ihm mitzugehen. Er folgte, und bald standen sie vor dem großen Fels. Sie klopfte dreimal an, und der Ilsenstein that sich auseinander. Sie ging hinein, und brachte ihm seinen Ranzen gefüllt zurück, befahl ihm aber dabei ernstlich, ihn nicht zu öfnen, bis er in seiner Hütte wäre. Er nahm ihn und dankte. Als er fortging, fiel die Schwere des Sacks ihm auf, und er hätte gern gesehen, was darin sey. Endlich, als er auf die Ilsenbrücke kam, konnte er der Neugier nicht länger widerstehen. Er öfnete den Ranzen, und sah’ – Eicheln und Tannäpfel. Unwillig schüttelte er die Eicheln und Tannäpfel von der Brücke herab in den angeschwollnen Strom. Doch bald hörte er ein lautes Klingeln, wenn die Eicheln und Aepfel die Steine der Ilse berührten, und bald sah’ er, zu seinem Schrecken, daß er Gold verschüttet hatte. Weislich wickelte er den kleinen Ueberrest, den er noch in den Ecken des Sacks fühlte, sorgsam zusammen, und trug ihn nach Hause; er fand des Goldes noch so viel, daß er sich ein kleines Gütchen kaufen konnte.“

„Wer diese Jungfrau ist? – Höre, was die Väter und Mütter uns erzählten. Bei der Sündfluth, als das Wasser der Nordsee die Thäler und Ebnen von Niedersachsen überströmte, flohen ein Jüngling und eine Jungfrau, die sich schon lange liebten, aus dem Nordlande dem Harzgebirge zu, um hier ihr Leben zu retten. Mit dem Steigen des Wassers stiegen auch sie immer höher, und näherten sich immer mehr dem Brocken, der ihnen von fern her eine sichre Zuflucht darzubieten schien. Endlich standen sie auf einem ungeheuern Felsen, der weit über dem wogenden Meere hervorragte. Von hier sahen sie das ganze umliegende Land von der Fluth überdeckt; und, Hütten und Thiere und Menschen waren verschwunden. So standen sie hier einsam, und starrten in die Wogen hin, die an dem Fuße des Felsens sich brachen. Doch noch höher stieg das Wasser, und schon dachten sie darauf, über einen noch unbedeckten Felsenrücken, weiter zu fliehen, und den Brocken heranzuklimmen, der wie eine große Insel über die wogende See hervorragte.

Da erbebte unter ihren Füßen der Fels, auf dem sie standen, spaltete sich, und drohte in einem Augenblick die Liebenden zu trennen. Auf der linken Seite, dem Brocken zugewandt, stand die Jungfrau, auf der rechten der Jüngling. Fest waren ihre Hände in einander verschlungen. Die Felsenwände bogen rechts und links aus, und – die Jungfrau und der Jüngling stürzten mit einander in die Fluthen.

Ilse hieß die Jungfrau. Sie gab dem reizenden Ilsethal, der Ilse, die sie durchströmt, und dem Ilsenstein, worin sie noch hauset, den Namen.“


  1. Der Ilsenstein ist einer der größten und merkwürdigsten Felsen des Harzgebirges. Er liegt in der Grafschaft Wernigerode, unweit Ilsenburg, am Fuß des Brockens, und wird von der Ilse bespült. Ihm gegenüber liegt ein ähnlicher Fels, dessen Schichten zu diesem zu passen, und bei einer Erd-Revolution davon getrennt zu seyn scheinen.