In der Ramsau (Die Gartenlaube 1896/42)
[724] In der Ramsau. (Zu dem Bilde S. 721.) Ein kleines, aber von der Natur verschwenderisch mit landschaftlicher Schönheit ausgestattetes Alpenthal, zieht sich die Ramsau westlich aus dem prachtvollen Berchtesgadener Thalkessel ins Waldgebirge hinauf.
Sie darf nicht verwechselt werden mit der steiermärkischen Ramsau, die an den Südabhängen des Dachsteingebirges entlang zieht. Auch in Ober- und Niederösterreich kommt der Name Ramsau vor. Die bayrische Ramsau, der unser Bild entnommen ist, hat eine Länge von etwa fünf Stunden; sie ist an ihren breitesten Stellen keinen Kilometer weit, größtenteils schluchtartig schmal. Die Nordseite dieses Thales bilden sanft abfallende, überaus reich bewaldete Höhen, an deren sanfteren Gehängen einsame Bauernhöfe liegen; an der Südseite dagegen steigen über finsteren Bergwäldern riesenhafte weißgraue Felsenberge empor: der Watzmann und der Hochkalter. Den westlichen Thalschluß bilden die – auf unserem Bilde sichtbaren – in grimmiger Steilheit aufragenden Mühlsturzhörner. Was der Ramsau ihren landschaftlichen Reiz verleiht, sind ihre prachtvollen Ahornhaine, die umhergestreuten Felsblöcke, der durch Schluchten und über Trümmergestein herabtosende Wildbach, üppig grünende Matten, über welche zahllose krystallhelle Wasser herabrieseln, und die schöngeformten Felsmauern der über all’ das aufragenden Berge, die – je nach der Bewölknng und Beleuchtung – bald silbergrau oder goldgelb, purpurn oder tief indigoblau erscheinen können.
Im oberen Teile des Thales liegt, weltverloren und still, der Hintersee mit seiner klaren tiefgrünen Flut, in welcher die schroffen Felshörner des Hochkalters und die breite Wand des Reuteralpgebirges sich spiegeln. Die spärliche Bevölkerung des Thals ist ein tüchtiger stiller und ernster Schlag Menschen, der sich, da Ackerbau im ganzen Thale sehr wenig getrieben werden kann, fast nur von Sennereiwirtschaft und von der Holzarbeit in den mächtigen Staatswaldungen ernährt. Max Haushofer.