Jahreswechsel (Louise Otto)
Wenn hoch vom Turm die Glocken klingen,
In mitternächtlich ernster Stund’
Des Jahres Scheidegruß zu bringen:
Dann lauschen wir, als werd’ uns kund,
Uns Erdenpilgern bieten mag –
Das Jahr ward neuverjüngt geboren
Und festlich grüßt sein erster Tag.
Doch ist vergeblich alles Fragen,
Propheten sind aus unsern Tagen
Verbannt ins dunkle Sagenreich.
Kein Blick darf in die Werkstatt schweifen,
In der des Menschen Los sich webt,
Das Schicksals-Fäden senkt und hebt!
Das mußten alle wir erfahren
In unsrer Lieben engem Kreis –
Gebrochen müssen wir gewahren
Da kam uns Rettung aus der Not,
Indessen dort ein Herz verblutet
Weil ihm sein Liebstes nahm der Tod!
Das sich an äußre Zeichen hält,
Ist nicht in uns ein Himmel offen,
Von dem kein Stern herunterfällt.
Wie sehr auch Sturm und Donner wettert
Und alle Rosen uns entblättert,
Wie Staub in alle Winde trägt. –
Ein Himmel, den wir sicher schauen,
Wenn sich der Blick nur aufwärts hebt,
Wenn wir zum höchsten Ziel gestrebt,
Ein Himmel, draus seit Ewigkeiten
Zu uns die Schöpfungsformel spricht,
Die heiligste für alle Zeiten:
Kein Chaos mehr – in unserm Leben,
Kein Chaos mehr im Vaterland!
Es werde Licht, – dies unser Streben,
Die Waffe dies in unsrer Hand.
An heil’ger Freiheit Hochaltar,
Und Feinde aller Lichtverächter:
So grüßen wir das neue Jahr.