Käthe
„Sie stand immer vor der Tür und war schnoddrig…“ las die Hausfrau und blätterte unwillig im Dienstbuche. „Merkwürdige Empfehlung!“ Sie legte das Buch beiseite und setzte sich auf den Rohrstuhl. – das einzige noch brauchbare Stück unter den Gerätschaften, welche die enge und dunkle Küche überfüllten.
Die noch ziemlich junge, kleine Frau trug einen blauen Morgenrock. Ihr flaches Köpfchen war wie eingedrückt und mit gelblichem Haar bedeckt, welches im harmonischen Verein mit der gelblichen Gesichtsfarbe und dem ungewissen Kolorit der Augen sich um so heller vom dunklen Küchenraum abhob. Schwarze Lava-Ohrringe zerrten die unnatürlich großen Ohren fast bis zum Halse herab und die schmalen, bleichen Lippen bedeckten das ebenso blasse Zahnfleisch. – Alles zeugte deutlich von der Kränklichkeit dieser Fleischmassen, die in den feuchten Wänden der ärmlichen Wohnung heranwuchsen: Das untätige Leben der Frau eines kleinen Beamten floß unter dieser gelblichen Haut, die so dünn und durchsichtig wie Seidengaze erschien, in trägem Laufe dahin.
Nur die zusammengepreßten, von der Feuchtigkeit der Mauern gebleichten Lippen, die fleischigen Hände und die von schweren Lidern halb bedeckten Augen verrieten durch ihr Zittern die verborgene Leidenschaft eines Panthertieres, – diese Eigentümlichkeit blutarmer Frauen, deren Leben allen hygienischen Anforderungen zuwider in der Atmosphäre des an die Küche angrenzenden Schlafzimmers sich abspielt.
„Wie heißt du?“ fragte die Hausfrau das an der Tür stehende Mädchen mit träger, fetter Stimme.
Das Mädchen hob den Kopf und erwiderte: „Käthe Ölschläger!“ Dann senkte sie den Kopf wieder zur Brust herab.
„Hast du noch Eltern?“ verhörte die Hausfrau sie weiter.
Über Käthes Gesicht glitt ein wehmütiger Zug, und sie gab keine Antwort.
Der sie begleitende Bote der Vermittlungsanstalt, ein kleiner, unansehnlicher Mann im grauen Röckchen, hielt es für angemessen, sich in das Gespräch zu mischen: „Mit Verlaub, gnädige Frau: sie ist eine Waise und hat keinen Anhang. Sie kam erst unlängst in die Stadt und war bisher nur in einem Dienst…“
„Da wird sie schon viel können…!“ unterbrach ihn die Hausfrau und verzog verächtlich die Lippen.
Ein Weilchen herrschte tiefes Schweigen.
Der Bote schwieg. Käthe aber versuchte garnicht, sich zu rechtfertigen und senkte den Kopf nur noch tiefer.
Tausend peinliche Gedanken gingen ihr durch den Sinn. Gestern urplötzlich, fast ohne Grund, auf die Straße gesetzt, hatte sie kaum noch zwei Gulden in der Tasche. Nachtlager erhielt sie bei ihrer Freundin Rosa, die in einer Milchhandlung diente.
Von dieser Gastfreundschaft mochte sie aber nicht länger Gebrauch machen: Rosa wohnte nämlich in einem kleinen Stübchen mit einem Schneidergesellen zusammen und die Anwesenheit eines Mannes dort war natürlich für Käthe höchst peinlich; es erregte in ihr nie gekannte Wünsche und erfüllte ihr Herz mit seltsamer Angst.
Nein! Dort konnte sie entschieden nicht wieder nächtigen. Was aber sollte sie anfangen, wenn die Dame sie nicht sofort in Dienst nähme!
In diesem Augenblick erschien ihr diese enge, dunkle Küche wie ein stiller, sicherer Hafen und jene geschwärzte Decke wie das Dach, unter dem sie so gern, so gern ihr Haupt niederlegen möchte – !
„Du bist wohl noch sehr jung?“ fragte die Hausfrau mit prüfendem Blick auf Käthes kräftige Gestalt.
„Zwanzig Jahre bin ich schon alt“, erwiderte Käthe und steckte mit nervöser Hast die roten, abgearbeiteten Hände unter die Falten des grauen fadenscheinigen Halstuches.
„Tritt doch näher, daß ich dich besser ansehen kann!“ rief die Frau und erhob sich vom Rohrstuhl.
Käthe aber blieb regungslos mit an die Wand gelehnten Schultern stehen.
Wieder mischte sich der Bote ein, mit der Mahnung: „So gehorche doch, du Närrin, wenn die gnädige Frau dich ruft!“
Jetzt erst trat Käthe einige Schritte vor und stand mitten in der Küche in dem schmalen Lichtstreifen, der durchs schräge Fensterchen in der tiefen Mauernische eindrang.
Um so deutlicher hob sich in dieser Beleuchtung die riesige Mädchengestalt ab und vergrößerte sich noch im Vergleich zu den übrigen im Dunkel verschwindenden Gegenständen.
Der große, kräftige Kopf war durch breiten Nacken mit dem Rückgrat verbunden, mit dunklem Haar bedeckt und vornübergeneigt. In der Form hatte er etwas statuenhaftes, etwas von den Sklavinnen des Altertums, die dazu bestimmt waren, auf dem Kopfe schwere Weinkrüge zu tragen.
Die niedrige, glatte Stirn, durchzogen von den dunklen Linien der Augenbrauen, die grade, nur in den Flügeln etwas gerundete Nase, der frische Mund mit den tadellosen Zähnen und das rundliche Kinn, dies alles, bestrahlt von den großen Rehaugen, schuf ein liebliches, anziehendes Bild.
Aus diesem ganzen, von Wind und Wetter gebräunten Antlitz sprachen nur Sanftmut, Herzensgüte und Vertrauen.
Die runden vollen Arme, der nur etwas zu breit gezeichnete Hals und die breiten, kräftigen Schultern zeigten beinahe den Typus eines Arbeitstieres, das nur zum Tragen schwerer Lasten und zu sogenannter „grober Hausarbeit“ dient.
Solch kerngesunde Körper mit üppigen Formen bietet das beste Material zur Mutter eines zahlreichen Geschlechtes, welches sich unzweifelhaft auszeichnen würde durch unverwüstliche Gesundheit, riesigen Körperbau und fast tierische Kraft.
Trotz dieses beinahe männlichen Wuchses war Käthe ein Weib im vollen Sinne des Wortes. Sonst streifen meist so kräftige, üppig gebaute Formen allen Zauber der Weiblichkeit von sich ab und tragen ihre plumpen Zwitterformen mit der tölpischen Keckheit beurlaubter Soldaten umher. Bei Käthe jedoch verblieb jener Zauber und alle kerngesunde Mädchenfrische mit all ihrem Liebreiz und ihrer sanften Schüchternheit, obgleich sie wie das klassische „Weib aus dem Volke“ gebaut: mit breiten Hüften auf kräftigen Füßen.
Die der ebenso breiten Brust entschwebende Stimme war harmonisch klangvoll und nur etwas erzitternd, als habe sich das Stimmchen einer kleinen Blondine in den Brustkasten dieser dunkeläugigen Walküre nur verirrt.
Wohlgefällig betrachtete die Hausfrau diese Riesin, die mit ihrem Rücken den vierten Teil der Küchenbreite bedeckte.
Obgleich also das einzige Zeugnis im Dienstbuch ausdrücklich lautete: „Sie stand immer vor der Tür und war schnoddrig“, wollte sie diesen Worten nicht glauben und nahm Käthe in Dienst: Das würde ein tüchtiges Mädchen werden, das allein Wasser und Kohlen trägt, sodaß man keine Aufwärterin zu bezahlen braucht…
So siegte die Sparsamkeit der Hausfrau über die „Schnoddrigkeit“. Wie konnte das Mädchen übrigens gerade diesen Fehler haben bei seiner stillen Bescheidenheit und der trotz der Riesengestalt so sanften Anmut!
Zur allgemeinen Freude verkündete also die Hausfrau mit eintöniger Stimme, sie wolle es mieten.
Dann belehrte sie es über seinen Dienst, bestehend in Scheuern und Aufwischen, Putzen und Ausfegen, Kohlen- und Wassertragen, Waschen und Plätten und allen übrigen Verrichtungen, die auf seine Schultern fallen sollten.
Käthe stand unbeweglich da und starrte auf den schmutzigen Fußboden der Küche. Jetzt wußte sie wenigstens, wo sie schlafen und ihre Siebensachen unterbringen konnte. Um alles übrige kümmerte sie sich nicht.
Arbeit blieb immer Arbeit, ob hier oder dort. Übrigens konnte sie gar nicht begreifen, wozu die Frau davon so viel Redens machte, während sie selbst sich doch keiner Verpflichtung entziehen wollte.
Hierauf reichte ihr die Frau einen zerknüllten Guldenschein und verlangte von ihr das sogenannte „Pfand“.
Freudig übergab Käthe ihr den sorgfältig eingewickelten neuen roten Wollrock, den sie unter dem Arm trug.
Dann entließ die Frau sie mit der Weisung, spätestens in einer Stunde ihren Dienst anzutreten.
Käthe versprach dies, küßte der künftigen Brotherrin die Hand und verließ mit dem Boten die Küche.
Beim Heraustreten stieß sie mit der Stirn an die niedrige Tür und stand ein Weilchen im dunklen Hausflur, den soeben erhaltenen Guldenschein fest in der Hand.
Vor ihr tappte die kleine Gestalt des Boten hin und her und tastete nach dem Treppengeländer. Endlich fand er es und rief ihr’s zu.
In schwüler, dumpfer und staubiger Stickluft führte eine Wendeltreppe eng und steil hinab zum unteren Stockwerk. Wie meist alle Hinter- oder Küchentreppen war auch diese ziemlich ausgetreten und schadhaft, dazu noch von Wänden umgeben, die der Kohlenstaub und der Dunst der abends den dunklen und engen Raum matt erleuchtenden Petroleumlampen geschwärzt hatte.
Fluchend schob sich der Bote die Mütze zurecht und begann die halsbrecherische Wanderung, wobei er sich am knarrenden Geländer festhielt.
Schnell folgte ihm Käthe, die Augen weit geöffnet, um sich an die auf der Treppe herrschende Finsternis besser zu gewöhnen.
Die dünnen, halbmorschen Bretter bogen sich fast unter ihrer Riesengestalt, die ihre schweren Massen in gleichmäßigen Abschnitten hinabtrug, sogar ohne die Stockwerke zu zählen. War doch Käthe jetzt vollständig beruhigt über ihre Zukunft, voller Zuversicht und Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit.
Erschien ihr doch die neue Herrin wie die verkörperte Schönheit und Herzensgüte gegenüber der häßlichen, immer schreienden früheren, die sich „Gnädige Frau“ nennen ließ und unaufhörlich in alle Töpfe guckte.
Schon beim Gedanken an ein freundlicheres oder beifälliges Wort aus dem Munde jener reizenden Frau schwindelte ihr der Kopf vor Wonne.
So dachte sie beim Hinabklettern nur daran, jenen Beifall durch unermüdliche Arbeit bei Tag und Nacht zu verdienen.
Plötzlich schloß sie unwillkürlich die Augen: grell traf sie ein gelblicher Lichtschein auf der Wendeltreppe, die matte Flamme eines Talglichtes in einer Laterne, die ein junger Mann in grauem Kittel und langer Linnenschürze in der Hand trug.
Hocherfreut über diesen Zufall, der ihm den weiteren Weg über die dunklen Stufen erhellte, lief der Bote schleunigst hinab und ließ Käthe auf dem engen Treppenflur jenem jungen Manne allein gegenüber.
Mit gewohnter Schüchternheit drückte sie sich an die Wand, um dem ihr Nahenden möglichst freien Raum zu lassen. Trotz ihres guten Willens nahmen jedoch ihre breiten Schultern zu viel Platz ein und wohl oder übel mußte der junge Mann sie anstoßen, um vorüberzugehen.
„Wer zum Kuckuck kriecht denn hier herum?“ fragte er mit nicht allzu sanfter Stimme und erhob die Laterne.
„Ich bin’s, die Käthe – “, erwiderte sie hocherrötend.
Er lachte und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. Der junge Portier war’s[WS 1], der auf den Boden eilte, um dort auf Geheiß des Besitzers nach dem beschädigten Dache zu sehen. Das Dach lief ihm nicht davon, das Mädchen aber erschien ihm höchst anziehend.
Erfreut über ihre Verschämtheit blickte er sie lächelnd an und drängte sie dicht an die Mauer mit der Berechnung plötzlich in ihm erwachter Leidenschaft.
Sie aber in ihrer Verblüffung und unbewußten Angst bemühte sich vergeblich, ihm auszuweichen und sich von der Berührung dieses Burschen zu befreien, dessen Anblick und Nähe sie in unbeschreibliche Verwirrung versetzte.
Dieses große zwanzigjährige Mädchen kannte oder ahnte die Geheimnisse des Lebens kaum aus den Mitteilungen der Freundinnen, mied aber sonst unwillkürlich solch ein Alleinsein, welches nur zu leicht ihr Flammen in die Adern goß.
Beim Gedanken, vielleicht doch einmal zu heiraten, wünschte sie sich brav und ehrlich zu erhalten.
Mit Aufbietung aller Kräfte also bemühte sie sich, dieser zufälligen Begegnung sich zu entziehen, denn die Nähe dieses lächelnden Burschen war für sie unbeschreiblich peinlich und beängstigend.
Er jedoch gab sie nicht frei und versperrte ihr den Weg. „Fräulein, was wollen Sie hier? Wo kommen Sie her? Als Portier muß ich dies alles wissen. Bei Gott, eher laß ich Sie nicht durch!“
Käthe ward es so seltsam zu Mute, als schnüre ihr etwas die Kehle zusammen, als diese junge, heitere Stimme, begleitet von klangvollem Lachen in diesem engen, dunklen Raume widerhallte und mit berauschendem Klange ihr auf das gesenkte Haupt fiel.
Von Natur schon ängstlich und schüchtern, verlor sie fast die Besinnung in dieser schwülen, dumpfen Atmosphäre und stemmte sich mit der Hilflosigkeit eines Kindes an die Wand.
„Aber Fräulein,“ beruhigte er sie, als er ihre Angst bemerkte. „Was ist da zu erschrecken? Ich werde Sie doch nicht beißen oder auf die Polizei führen. Ich fragte Sie nur: Woher und wohin? Und darauf müssen Sie mir antworten!“
Käthe schwieg. Immer mehr an die Wand gedrückt, fühlte sie den heißen Atem des Burschen und barg vor Angst den Kopf in die Arme. Dieser Atem erschien ihr wie der eines reißenden Tieres und daher wehrte sie sich gegen ihn, so gut sie es konnte, mit dem Instinkte des Selbsterhaltungstriebes.
„Fräulein, hätten Sie mir nicht gesagt, Sie heißen Käthe, so müßte ich Sie für stumm halten. Jetzt aber denk’ ich anders und lasse Sie nicht los, bevor Sie mir nicht antworten oder ein Küßchen geben, so wahr ich Johann Viebig heiße!“
Bei diesen Worten leuchtete er ihr mit der Laterne ins Antlitz, und ihre Kraftlosigkeit benutzend, umschlang er sie mit dem linken Arm und zog sie an sich. „Na, Fräulein,“ fuhr er fort. „Werden Sie mir jetzt sagen, was Sie hier wollen?“
Jetzt erst bemühte sich Käthe, ihre Gedanken zu sammeln, denn sie fühlte, daß der Bursche, wenn sie ihm keine Antwort gab, sie nicht sobald loslassen werde. Und gerade dies war ihr einziges Bestreben.
Johann Viebig aber beobachtete mit wahrer Wonne ihre Verwirrung, ganz erstaunt, daß solch ein Weib voller Kraft und Leben in seinem Arme zitterte wie ein Kind. Sah er doch sein Leben lang nicht solchen Hals und Nacken und so reiche Körperformen und Linien.
Das matte Laternenlicht beleuchtete zwar diese nur undeutlich. Instinktiv aber erriet er alles und verstummte vor Bewunderung.
Sonst hatte er es immer nur mit stämmigen, rotwangigen Mädchen meist kleineren Wuchses zu tun, und diese gaben ihm keine deutliche Vorstellung von solcher Vollkommenheit. Jetzt aber stand vor ihm ein sowohl an Formen, als an Farben vollendetes Weib, obgleich er, wie gesagt, bei der matten Beleuchtung den Ton der Haare und Augen nicht deutlich unterscheiden konnte.
Hingerissen von roher Gewalt erhob er ihr gesenktes Haupt und näherte seine Lippen den ihren.
Käthe stieß ihn nicht ganz zurück, weil ihr dazu die Kraft fehlte. Mit leiser, zitternder Stimme aber bat sie ihn sanft: „Ich bitt’ Sie, lassen S’ mich weitergeh’n! Bitt schön…“
Und so viel inbrünstiges Flehen zitterte in diesem leisen Flüstern, so viel maßlose Angst sprach aus ihren weitgeöffneten Augen, daß Johann langsam zurücktrat vor dieser echten Unschuld, die mit Gewalt sich nicht wehren konnte oder wollte und nur in sanfter, echt weiblicher Bitte ihren Schutz sah und fand.
Diese Bitte aber war hundertmal wirksamer, als alle heftigen Kämpfe, die er so manchmal schon mit anderen Mädchen aus seiner Sphäre zu bestehen hatte. Diese Riesin bediente sich nicht ihrer Fäuste zu seiner Abwehr, obwohl sie sich an Kräften recht gut mit ihm messen konnte. Seiner Gnade sich unterwerfend, bat sie ihn demütig um Mitleid mit ihrer Schwäche.
Mit diesem weiblichen Liebreiz und dieser Demut vor der männlichen Übermacht besiegte sie ihn unbewußt und besänftigte seine Sinne.
Seine törichte, einfache, fast tierische Natur beugte sich schweigend vor der Überlegenheit des Mädchens, welches sich sowohl äußerlich, als durch sein Verhalten von allen anderen auszeichnete, denen Johann in seinem Leben begegnet war.
Fast beschämt trat er zur Seite und beleuchtete nur stumm mit erhobener Laterne ihr Antlitz, während sie mit zitternder Hand die am Halse etwas geöffnete Jacke zuknöpfte.
Plötzlich begegneten sich in dem gelblichen Lichtstreifen, der aus der zerbrochenen Laternenscheibe fiel, ihre Augen, die dunklen, sanften, von Tränen verschleierten des Mädchens und die blauen, von unterdrückter Leidenschaft glühenden des Mannes.
Einen Augenblick verschmolzen sich ihre Blicke mit seltsamer Unbefangenheit von seiten des Mädchens. Fast gleichzeitig flackerte das Laternenlicht auf, wie der Blick eines Sterbenden, um sofort zu verlöschen. Käthe und Johann, die Treppe und die Wände verschwanden im Dunkel…
Käthe aber fürchtete sich jetzt nicht mehr. Mochte es noch hundertmal dunkler sein, sie wußte, daß ihr nichts geschehen werde.
Und sich in ihr Tuch hüllend, bat sie mit ihrer rührend sanften Stimme: „O, bittschön, helfen S’ mir hinaus; ich seh nichts mehr und kenn die Treppen nicht“
Und mit der Fügsamkeit eines gezähmten Tieres erfüllte er ihren Wunsch, indem er voranschritt und sie mit aller Vorsicht hinabführte.
Zwischen den dunklen, engen Treppenwänden hörte man nur noch den Schall ihrer schweren Schritte und Johanns beschleunigten Atem.
Die schwüle Stickluft umwehte seine glühende Stirn und fiel ihm auf die Lungen. In seiner Hand fühlte er die breite, kräftige, noch immer zitternde des Mädchens. Dies Zittern erschien ihm unbeschreiblich peinlich. Jetzt erschien ihm Käthe wie ein kleines kindliches Wesen, welches er tief beleidigte durch seinen rohen Angriff und dem er die ihm angetane Unbill abbitten möchte.
Sie aber schritt langsam weiter und fühlte noch immer seinen heißen Atem auf ihren glühenden Wangen. Trotzdem folgte sie ihm beruhigt und voll Vertrauen.
Als sie plötzlich den hellen Hausflur betraten, in dem die Sonnenstrahlen des Hochsommers mit voller Kraft sich ausbreiteten, standen sie beide da, wie geblendet.
Käthe erschien dem Burschen noch riesiger, als sie in der berückenden Schönheit des vollentwickelten Weibes vor ihm stand.
All seine im Dunkeln gefaßten Vorsätze, ihre Verzeihung zu erlangen, flogen sofort in den Wind beim Anblick dieser breiten Schultern und üppigen Formen.
Droben im engen Treppenraum erschien ihm Käthe wie ein kleines zitterndes Wesen. Als er sie herabführte, verschwand sie im Dunkel und er fühlte nur ihre kräftige Hand in der seinen und hörte ihre schweren Schritte. Hier aber im hellen Tageslichte erstrahlte sie vor ihm im unvergleichlichen Glanze weiblicher Vollkommenheit.
Trotz seiner sonstigen Keckheit gegenüber den Weibern stand er vor Käthe da wie ein schüchterner Knabe und wünschte nur, irgend etwas ihr zu sagen, um wenigstens einigermaßen seinen Fehltritt wieder gut zu machen und ihr eine bessere Vorstellung von sich zu geben.
Sie aber setzte ihn vollständig wieder ins moralische Gleichgewicht und zeigte in ihren Blicken nicht die Spur von Zorn und Ärger, sondern nur sanfte Wehmut, als fühle sie, daß sie ihm nicht zürnen dürfe: Daß er sie auf der dunklen Treppe traf und sein Glück versuchte, war nicht seine Schuld. Hätten andere Mädchen sich nicht so leichtsinnig gezeigt, so wäre er gewiß ihr gegenüber nicht so dreist gewesen. Überdies war ihr ja doch nichts Schlimmes geschehen. Und mit ihrer herzerquickenden Stimme dankte sie ihm dafür, daß er sie die unbequeme Treppe hinabgeführt und ihr den Weg gezeigt habe.
„Ich kam die Vordertreppe herauf“, sagte sie, immer zu Boden blickend. „Die gnädige Frau führte uns in die Küche. Der Kontorbote ging voran und ich wußte nicht, wo ich war und was ich tun solle. Ich liebe nicht die Finsternis.“
Jetzt erst merkte Johann, daß sie sich als Dienstmädchen bei der Herrschaft im dritten Stock vermietet hatte.
„Wie, Fräulein“, fragte er, allmählich wieder zur Besinnung kommend, „Sie wollen da oben dienen bei den Magistratsleuten?“
„Ich glaube, der Herr ist beim Magistrate. Ich vermietete mich dort als Mädchen für alles.“
„Ach, Fräulein“, fuhr er fort mit verächtlicher Miene. „Da sind Sie schön angekommen… Das ist eine nette Herrschaft!“
Käthe erhob jetzt die gesenkten Lider und heftete erstaunt den Blick auf den Sprechenden.
Für sie blieb Herrschaft immer Herrschaft, wie eine Art von Halbgöttern, von denen man nur mit höchster Verehrung spricht. Mußte sie doch ohne Herrschaft Hungers sterben. Bezahlt und ernährt sie jene doch und läßt sie vier Stunden täglich schlafen und Festtags in die Kirche gehen. Ihre schwere Arbeit berechnete sie dabei gar nicht. Arbeiten mußte sie ja doch. Stillsitzen und die Hände in den Schoß legen können ja nur vornehme Damen. Sie aber wünschte sich das nicht einmal.
Mit maßlosem Erstaunen sah sie daher den vor ihr Stehenden an, der mit so stolzer Verachtung die Backen aufblies bei den Worten: „Das ist eine nette Herrschaft!“ Gleichwohl unterbrach sie ihn nicht und wartete auf weitere Aufklärung, die ihr auch zuteil wurde.
„Sehen Sie, Fräulein, Herrschaft und Herrschaft, das ist ein großer Unterschied. Hier z. B., im ersten Stockwerke, wohnt eine Frau Gräfin mit ihrem Sohne. Das ist eine Herrschaft. Die Magistratsleute aber da droben, zu denen Sie hinziehen wollen, das ist keine Herrschaft.“
„Sie bezahlen mir aber doch ebensogut meinen Lohn,“ glaubte Käthe einwerfen zu müssen.
„Das allerdings, Fräulein,“ entgegnete Johann kopfschüttelnd. „Aber Sie können sich halbtot arbeiten, bevor Sie Ihren Lumpenlohn erhalten!“
„Arbeiten muß man doch überall.“
„Gewiß. Man läßt sich aber doch lieber von einem Leutnant befehlen, als von Erstwem, wie der selige Stefan sagte. Schade, daß sie den nicht kannten, Fräulein, das war ein strammer Ulan! Sehen Sie, die Gräfin, die ist solch ein Leutnant, die Magistratsleute aber, die sind – Erstwer. Obgleich man bei jener auch lieber Herr sein möchte und befehlen, als immer nach der Klingel hören, ist bei den Magistratsleuten doch nichts als Not und Elend. Sie ist so geizig wie ein Filz, und er ist ein Satan. Schon zweimal wechselten sie in diesem Vierteljahr, und weshalb? Weil sie eben keine Herrschaft sind!“ fügte er hinzu, indem er immer wieder zu seiner Behauptung zurückkehrte, wie ein Pferd im Tretrade immer zur selben Stelle.
Offenbar hatten sie beide etwas Gemeinsames in ihrer Gedankenfolge, denn auch Käthe wiederholte nur ihren philosophischen Ausspruch: „Arbeiten muß man doch überall!“
Und ungeduldig zuckte sie die kräftigen Achseln, als verlangte sie stürmisch nach der Arbeit, die ihr mit der Übernahme der neuen Pflichten zufallen sollte.
„Fräulein, Sie sind gewiß sehr kräftig zur Arbeit?“ fragte Johann, indem er sie bewundernd anschaute.
Als Antwort diente ihm nur ihr sanftes Lächeln, wobei sie die von rosigem Zahnfleisch umrahmten Zähne sehen ließ.
„Das ist noch gut,“ fuhr er fort, „denn, wären Sie nicht, mit Verlaub, solche Riesin, so hielten Sie es dort nicht lange aus im dritten Stock. Da heißt es ewig, Wasser tragen, denn die Frau plantscht und plätschert Tag und Nacht herum und will immer den Fußboden spiegelblank haben, knausert aber dabei mit dem Wachs. O, ich wollte schon einen Tanz mit ihnen aufführen, wenn auch nur einmal im Jahre, damit sie selber fühlen, wie angenehm es ist, sich so Tag und Nacht halbtot zu arbeiten!“
Ein unheimlicher Funke blitzte plötzlich aus seinen blauen Augen. Der ganze Haß eines gequälten Tieres, welches sich niemals ausschlafen kann, sprach aus dieser Stimme, die von einem längst bei ihm erwachten Gedanken erzitterte.
Alle Winternächte, in denen ihn die Hausglocke unbarmherzig vom Lager riß, auf daß er, nur halbbekleidet, die verspäteten Mieter einlasse, die von ihren Nachtschwärmereien heimkehrten; all’ seine süßen Träume, die ihm berauschte oder bösherzige Menschen gewaltsam verscheuchten; all’ die Anfälle des sogenannten Karnevalskatzenjammers, die er ertragen mußte mit der Fügsamkeit eines abgerichteten Hundes – dies alles machte sich Luft in den wenigen Worten: „O, ich wollte schon einen Tanz mit ihnen aufführen!“
Käthe aber beachtete das nicht. Sollte sie doch in einer Stunde den Dienst antreten und hatte nun schon nahezu zehn Minuten mit Johann verplaudert. Daher wünschte sie, sich schleunigst zu entfernen.
Mit aller Galanterie erbot sich Johann, ihr beim Herbeischaffen ihrer Bettlade behilflich zu sein. Gern nahm Käthe dies an und noch immer plaudernd traten sie hinaus in den hellen Sonnenschein auf dem Hofe.
Dieser war ziemlich klein und von drei Seiten von Mauern umgeben, auf der vierten aber ganz offen. Dort grenzte er an eine große Grasfläche, hinter welcher in der Ferne der Exerzierplatz, gelbliches Gemäuer und marschierende Soldaten sichtbar waren.
Käthes Blick schweifte zerstreut über den weiten Raum.
Nach rechts durchschnitt denselben mit grüner, schräger Wand, wie ein Festungswall, die Böschung der Eisenbahn. Dieser Anblick war durchaus nicht traurig. Vielmehr bildeten das städtische Treiben dort und das ländliche Grün einen angenehmen Gegensatz, indem beides sich gegenseitig wohltuend ergänzte.
Mit freudiger Stimme bemerkte daher Käthe, sie liebe von jeher so frisches Grün und freies Feld und sobald sie dies nur sehe, werde ihr wohler um das Herz.
Johann trat ihr mit voller Überzeugung bei und zeigte ihr einen stattlichen Kehrichtschuppen, der erst in der vorigen Woche fertig geworden war und sich links auf dem Hofe mit seinen neuen Brettern brüstete wie ein herausgeputzter Lehrbursche.
Mit Wohlgefallen richtete daher Käthe zu ihm den Blick, der bisher auf der in Sonne gebadeten grünen Rasenfläche und einem breitästigen Kastanienbaume ruhte.
„Solch’ verschließbarer Schuppen ist gewiß recht bequem“, meinte sie. „Nur schade, daß er nicht allzu lange halten wird bei dem vielen Schnee und Regen.“
„O, er ist aus dauerhaftem Holz gebaut,“ entgegnete Johann und klopfte mit dem knochigen Finger an die Bretter.
So plauderten sie noch ein Weilchen, bis sie plötzlich verstummten beim Gedanken an die – Küchentreppe.
„Die Treppe war doch recht unbequem,“ begann endlich Johann, brach aber sofort wieder ab, als er Käthe feuerrot werden sah. Auch er empfand ein eigentümliches Gefühl, über das er sich nicht recht klar werden konnte.
Jedenfalls war es die Erinnerung an ihre erste Begegnung auf der dunklen engen Treppe, was ihnen jetzt die Wangen rötete und den Kopf so sonderbar verwirrte.
Als Käthes große Gestalt endlich in der Haustür verschwand, stand Johann noch ein Weilchen da, an die Bretterwand des Schuppens gelehnt, als wolle er die heutigen Eindrücke zergliedern.
Diese Käthe hatte ihn vollständig besiegt und ihn dennoch dies gar nicht fühlen lassen, da sie ihn weder auslachte noch verhöhnte, weil er sie auf ihre demütige Bitte losgelassen. Was sollte er aber auch tun, als sie ihn so flehend ansah, daß es ihm fast die Brust zusammenschnürte.
Einst wollte er aus dem dritten Stock ein Kätzchen herabwerfen, welches sich im Hause verirrte und nach dem Boden klettern wollte. Ohne sich zu wehren, blickte es ihn nur ganz ebenso flehend an wie diese Käthe, als er sie an die Wand drückte.
Wie sonderbar! dachte er. Jede andere an ihrer Stelle hätte nur dazu gelacht. Denn die Mädchen lieben sogar meist solche Scherze. Davon war aber hier keine Rede. Manche lieben eben so etwas, manche auch nicht. Zu letzteren gehörte also Käthe.
Hierauf versank Johann in tiefes Sinnen über den Charakter und die Schwächen seiner neuen Bekanntschaft…
Die Freundin, bei welcher Käthe genächtigt hatte, hieß, wie schon bemerkt, Rosa und ihr Dienst in der Milchhandlung währte täglich vierzehn Stunden. Die übrige Zeit stand ihr zur Verfügung.
Rosa war eine kleine, dralle Brünette mit einer Gesichtsfarbe, wie geliehen von den Milchschüsseln, die sie sechs Monate hindurch im Jahr herumtrug in ihrem unter der rechten Achsel ein wenig aufgeplatzten Kleide.
Den ganzen Tag tummelte sie sich herum im Geschäft mit der Unverschämtheit eines zum Kellner verwandelten Mädchens. Ihr rosa Perkalkleid, diese fast allgemeine Uniform derartiger Mädchen, rieb sich in derselben frechen Weise ab an den Gästen, wie der Frack des pomadisierten Kellners. Die Manier, in der sie die Löffel oder die Brödchen herumreichte und dem zahlenden Gaste in die Augen schaute mit dem üblichen „Danke bestens“, schuf aus Rosa den Typus jener Aufwärterinnen, die sechs Monate jährlich in der Milchhandlung beschäftigt sind, in den übrigen sechs Monaten aber als sogenannte „freundliche Bedienung“ in den Nachtlokalen.
Bei den Besitzern der letzteren war Rosa überaus gesucht mit ihren immer zu heiterem Scherz ermunternden graugrünen Äuglein. Niemals ärgerlich über allzu kühne Witzchen, verstand sie es vortrefflich, die Zahl der geleerten Weinflaschen zu vermehren.
Ihre Laufbahn war also auf lange Zeit gesichert, wenigstens bis dahin, wo ihr jugendliches Gesichtchen aufhörte, so heiter zu lachen mitten im Zigarrendampf und im Lärme der Zecher.
Später… Ach was! Wer kümmerte sich darum! An Schaufeln und Kehricht fehlt es ja nirgends…
Rosa unterhielt ein Verhältnis mit einem jungen Schneidergesellen, namens Felix. Obgleich sie nicht heiraten konnten und wollten, wohnten sie dennoch zusammen.
Daß Felix ihretwegen Frau und Kinder verlassen hatte, wußte Rosa längst und schickte ihn bei ihren fast täglichen Zänkereien „zu allen Teufeln, zu seinem alten Weibe und seinem Haufen Kinder“.
Er aber ging nicht von der Stelle, sondern hörte mit aller Ruhe ihrem Wortschwalle zu, der sich fast Tag für Tag in dem kleinen Stübchen voller Gerümpel, Kehricht und – Pomadenbüchsen über ihn ergoß.
Dann näherte er sich ihr, um sie zu beruhigen, so gut er konnte. Anfangs wehrte sie ihn ab, ließ sich aber dennoch zu guterletzt unwillkürlich von ihm liebkosen.
Nur so ließ sich erklären, was die dralle[WS 2] Kleine so fesseln konnte an einen Mann, der doppelt so alt wie sie nur ihre Jugend ausbeutete und ihre kleinen Einnahmen vergeudete.
Gleichwohl wagte er es nicht, ihre beiden Hypotheken-Pfandbriefe anzugreifen, deren blaue Nummern sich deutlich vom weißen Papier abhoben. Nur das kleine Geld, welches er allwöchentlich ihrer Schublade entnahm, diente seinem Gaumen zur Vorkost für leckerere Bissen. Jetzt aber getraute er sich noch nicht, mit dem Plane einer Versilberung der Pfandbriefe hervorzutreten. Denn obgleich er ihrer Sinne sich vollständig bemächtigt hatte, riß sie sich dennoch öfters von ihm los, als wolle sie die fesselnden Bande zerreißen. Leider aber gelang ihr das nicht.
Kehrte sie abends, fest dazu entschlossen und außer sich beim Anblick der leeren Schublade, heim, so ließ Felix den Strom der in der großen Aufregung fallenden, in der schwülen Kneipenluft angesammelten Schmähworte ruhig über sich ergehen, um sich erst nach einiger Zeit in der nur ihm eigentümlichen Weise ihr zu nähern.
Schluchzend wandte sie sich von ihm ab, ward aber zuletzt doch immer wieder schwach.
So fesselten die Sinne sie an diesen Menschen, ohne dessen Liebkosungen sie nicht leben konnte.
In düsterem Schweigen, zitternd und gesenkten Hauptes ging sie morgens an ihre Arbeit, um unterwegs das kokette Lächeln der Kellnerin anzunehmen und abends wieder voller Wut und Ärger heimzukehren…
So lebten sie beide dahin, er – ihr Geld und sie – ihre Jugend und Gesundheit vergeudend.
Ihr Stübchen war ganz erfüllt von ungesundem, betäubendem Dunste. Niemals aufgeräumt und ausgefegt, sah es aus, wie ein großer, modriger Kehrichthaufen.
Felix schien dort nur Gast zu sein. Seine sieben Sachen befanden sich in einer großen Lade unter dem Fenster. Dort lag alles, was sein Komfort erforderte: ein alter Klapphut und sogar ein weißer Atlasschlips.
Rosa kümmerte sich nicht viel um ihre Garderobe. Ihr Rosakleidchen ließ sie im Geschäft und im Winter trug sie immer dieselbe blaue Jacke und einen fadenscheinigen Kamelotrock. Ihre Schürzen wusch sie nur in der Schüssel und trocknete sie in der Wohnung. Dies erforderte ihr Dienst; für sie war die Schürze, was die Serviette unter dem Arm für die Kellner ist.
Felix arbeitete nur selten. Zwar war er angeblich Schneidergeselle. Bei welchem Meister aber er arbeite, das wußte kein Mensch.
Tagelang rauchte er seine „Habanna“ und besserte seine Anzüge aus. Mittags aß er in Garküchen. Niemals sprach er von Weib und Kindern…
Von der Haustür aus lenkte Käthe schnell ihre Schritte nach rechts.
Einige Straßen durcheilend, ging sie jedem aus dem Wege und atmete tief und schwer unter dem Einflusse der Hitze. Das Kopf und Arme verhüllende Tuch belastete sie sehr und drückte sie fast zu Boden.
Der blaue Himmel über ihr schimmerte ins Graue, trotz aller Durchsichtigkeit. In der Mitte die Sonne erschien ihr so riesengroß und so goldig und rund, wie ein Dukaten und ganze Ströme ergoß sie von goldenem Lichte.
Alles verschwand vor ihr in dieser trockenen Flut: Die Dächer mit den blinkenden Rinnen, die Springbrunnen auf den Plätzen, fast beschämt von dem dunklen Blau des Wassers in den Becken mit ihrer steinernen Einfassung und die kleinen Bäumchen in den Vorgärten.
Dies alles blitzte und blendete fast in dem goldenen Glanze, der sich wiederspiegelte in den langen Reihen der Fensterscheiben, als brennten dort riesige Kerzen.
Wie geblendet blieb Käthe ein Weilchen stehen, um zu bewundern. War sie doch eine empfängliche Natur, die alles Schöne instinktiv begriff.
Bald jedoch erinnerte sie sich, daß die Zeit verging, und eilte weiter, um sich keinen Tadel der neuen Herrin zuzuziehen.
Endlich stand sie vor dem Zaune, dessen offene Pforte in Rosas Milchhandlung führte. Dort wollte sich Käthe von der Freundin verabschieden und die ihr geliehene kleine Barschaft zurückzahlen.
Durfte sie aber hier durch die Hauptpforte eintreten?
In dem kleinen viereckigen Garten tranken einige Personen an Tischen ihren Kaffee aus dicken grünen Gläsern. Andere aßen saure Milch aus Fayenceschüsseln. Die Tische mit roten, weißgewürfelten Decken standen in gleicher Reihe und gruben ihre dicken, gekreuzten Füße in den gelben Sand des Gartens.
Einige breitästige Kastanienbäume warfen dichten Schatten mit ihren bestaubten und von der Hitze schon welkenden fächerförmigen Blättern.
Im Hintergrunde stand auf einer Erhöhung hinter einem kleinen Staketenzaune die Riesengestalt der Wirtin, so dick wie ein Bettsack.
Ihr graues Kleid und ihr gelbliches Haar standen im Einklange mit der Farbe des hinter ihr sich erhebenden Gebäudes und verschwanden daher in unbestimmten Linien.
Vor ihr standen auf einem breiten, mit Blech beschlagenen Schenktische in langer Reihe die dicken, grünen Kelchgläser mit den Füßchen nach oben in der steifen Grazie von Zirkustänzern. Auf einer schartigen Schüssel blinkte ein ganzer Stoß von kleingeschlagenem Zucker. Zinnlöffel, von langem Gebrauch verdünnt und in falschem Glanze schimmernd, lagen lang hingestreckt wie Kriegsvolk im Küraß harrend des Alarmsignals.
Alle Augenblicke nahte sich eine Kellnerin, um sich über den Schenktisch zu neigen und nach Zucker oder Löffeln zu greifen.
Die dicke Wirtin rührte sich nicht, sondern blickte nur auf die plumpen Finger der Kellnerin, um diese mit leiser Stimme zu rüffeln, wenn sie zu viel Zucker in die kleinen länglichen Schalen legte.
Ab und zu erhob sich auch ein Gast, um zum Schenktisch zu treten und seine Zeche zu bezahlen.
Gemächlich warf die Wirtin mit der fetten Hand das Geld in die Öffnung der Schenktischkasse und starrte dann wieder regungslos mit den grauen, fast farblosen Augen nach dem vor ihr stehenden Staketenzaun.
Die Kellnerinnen in ihren gestärkten Röcken tummelten sich beständig unter den Gästen herum, meist nur der Bewegung halber, an die sie gewöhnt waren…
Unaufhörlich rauschte im Winde das Laub der Kastanienbäume und der Staub wehte herab auf das von Pomade glänzende Haar dieser Weiber oder auf das auf jedem Tische in Drahtkörbchen aufgetragene Schwarzbrot.
Noch immer stand Käthe an der Pforte und wagte sich keinen Schritt vorwärts.
Deutlich sah sie, wie Rosa im Garten mit gewohnter Aufdringlichkeit zwei Herren bediente, die ihre Milch aus hohen, engen Gläsern tranken. Schon deshalb wagte sie nicht, in den Garten einzutreten. Bald aber kam ihr der Zufall zu Hilfe.
Rosa blickte nämlich nach der Pforte hin und bemerkte dort die Freundin. Sofort eilte sie auf sie zu und stieß dabei mit dem Stuhl einen Damenschirm um und außerdem eine Bank, die ihr im Wege stand.
„Geh in die Küche!“ flüsterte sie Käthe zu. „Weißt, dort durch die zweite Tür! Ich komm gleich!“
Dann trat sie im Vorübergehen vor die schwarze Wandtafel mit der Inschrift: „Preise der Speisen und Getränke“ und beobachtete in aller Ruhe die Dame, die ihren Schirm von Staub zu säubern bemüht war.
„Wozu legt diese Fratze mir ihren Staat in den Weg!“ murmelte sie mit dem ganzen Haß eines armen, eifersüchtigen Mädchens.
Dann erst schritt sie weiter und verschwand im Innern des Gebäudes.
Hinter ihr her aber erschallte der Ruf der Dame:
„Fräuleinchen, bitte, ein Glas Wasser!“
„Gleich! Gleich!“ rief sie heraus mit der gewohnten kellnerischen Betonung.
„Die Cholera bring’ ich dir, aber kein Wasser!“ murmelte sie weiter, während sie durch zwei leere Säle nach der Küche lief, in der Käthe sie schon erwartete.
Die Küche, ein heller, großer Raum mit einem riesigen Rauchfang und großen Kohlenbecken, roch ganz nach saurer Milch und glich eher einem frisch gesäuberten Viehstalle, aus dem man die Kühe herausgetrieben.
Milch in Eimern, Schüsseln und Steinkrügen, Sahne in breiten, flachen Schalen, Molken in Flaschen und Gläsern und zitternder Quark in Riesenbüchsen, umgestürzte Holzfässer unter dem Tische oder sich an den Wänden in Pyramiden erhebend, frisch gemähtes Heu voller Feldblumen, wie[WS 3] Hahnenfuß, Winden und Quendel, so bunt wie ein türkischer Teppich – diese ganze Milchwirtschaft, die gemeinsame Arbeit von Menschen und Tieren, befand sich in diesem lichten Raum. War es doch, als träten hinter all’ diesen Eimern, Krügen und Heubündeln die Umrisse jener guten, milchspendenden Tiere mit den großen runden Augen hervor und als trügen sie allen Duft der Weide und alles Geräusch beim Abrupfen der Halme mit sich herein.
In dieser Küche voller Geräte mit reichem Milchinhalte tauchte unwillkürlich die Erinnerung auf an ein in Sonne gebadetes, von Bäumen umrauschtes, von frischem Grün umrahmtes Dörfchen, so lächelnd und so heiter, wie das Antlitz einer ländlichen Schönen.
Auch Käthe fühlte sich unsäglich wohl in dieser Atmosphäre und lächelte unwillkürlich beim Anblick dieser Vorräte von schneeigem Naß, welches sogar den Estrich reichlich benetzte.
Einige barfüßige Mägde tauchten die staubigen Füße in diese Milchpfützen, wenn sie die Krüge und Schüsseln hin und her trugen oder die Gerätschaften aufräumten. Kerngesund, wenn auch beschmutzt, mit breiten Hüften, fast viereckiger Stirn und prallen Brüsten unter dem groben Hemde zeigten die Mägde manche Ähnlichkeit mit den nahrungspendenden Tieren, mit denen sie Tag und Nacht zu tun hatten. Ihre ganze Kleidung duftete nach Viehstall und Milch. Mit einem gewissen Neide sah Käthe ihnen zu.
Solche Arbeit entspräche weit mehr ihrer kräftig entwickelten Natur.
Wie gerne hätte sie ihre Lederschuhe, die sie beim Auftreten so drückten, ausgezogen, um mit den heißen Füßen in der kühlen Milchlache auf dem Estrich herumzuwaten. Mit welcher Wonne hätte sie die Hände in das frische Heu getaucht, dessen Duft sie so lebhaft an die Hütte der Mutter und an die so sorglos im kleinen Dörfchen verlebten Kinderjahre erinnerte.
Träumerisch lächelnd folgte ihr Blick den Gestalten der Mägde, die sich mit dem nur ihnen eigentümlichen Faltenwurf der Röcke in der Küche herumtummelten und nicht einmal danach fragten, was unter ihnen jenes Mädchen wolle, welches schweigend noch fast an der Schwelle stand.
Plötzlich wurde die Saaltür krachend geöffnet und herein stürzte Rosa, noch immer wiederholend: „Die Cholera bring’ ich dir, aber kein Wasser!“
Die Mägde zurückstoßend, hob sie den Rock etwas hoch und zeigte unter dem noch sauberen Kleide die vor Schmutz grauen, faltenreichen Strümpfe, als sie die Milchstraße übersprang, die ihr den Weg zur Freundin fast versperrte.
„Na, wie steht es?“ fragte sie diese, indem sie ihr das leidenschaftlich erregte Gesicht mit verweinten und halb schlaftrunkenen Augen zuwandte.
„Ich hab eine Stelle und tret sie heute an!“ erwiderte Käthe.
Auf Rosas Antlitz trat ein Ausdruck der Befriedigung. Diese Zeugin ihres Zusammenlebens mit Felix lag ihr zu schwer auf dem Herzen, um dies länger ertragen zu können. Käthe dies zu sagen, wagte sie jedoch nicht, weil sie ihr zu lieb war wegen ihrer Sanftmut und ihres freundlichen Blickes.
Jetzt aber war sie zufrieden, daß sie wieder mit ihm allein blieb in ihrem engen Stübchen, wo wirklich nicht Platz war für drei.
„Ich kam nur nach meiner Lade und um dir das geborgte Geld wiederzugeben“, fuhr Käthe fort, indem sie mit einer gewissen Schüchternheit ihren Guldenschein hervorzog.
„Wenn du solch’ große Dame bist, daß du Schulden bezahlen kannst, so bezahle sie“, erwiderte Rosa. „Besser aber tust du, wenn du sie nicht bezahlst. Schulden laufen dir nicht fort und an dieser Krankheit hat man ohnehin genug!“
Und als sie sah, daß Käthe schwieg, fügte sie hinzu: „Hol’ dir bei mir zu Hause deine Lade. Dieser Strolch, der Felix, raucht gewiß wieder dort seine „Habanna“. O, das ist eine wahre Strafe Gottes, dieser Nichtsnutz.“
„Warum bleibst du aber bei ihm?“ fragte Käthe etwas lebhafter, aber immer noch nur schüchtern die Freundin anblickend.
„Weiß ich es denn?“ entgegnete diese, die Hand schwenkend. „Manchmal hab’ ich solchen Groll auf ihn, daß ich ihn über alle Berge jagen könnte. Denn er taugt nichts und ist ein Tagedieb. Während ich den ganzen Tag mich abarbeite, vergeudet er mir alles. Ach, möcht’ er sich doch einmal ändern.“
Und unwillkürlich ergriff sie dieselbe Wut, wie allabendlich beim Anblicke seines blassen Gesichtes, wenn er sich behaglich auf dem schmutzigen, lange nicht mehr aufgeschütteten Lager wälzte, während sie ermattet heimkehrte von der tagelangen Arbeit.
Ihre Leidenschaft aber zu ihm hatte sie allmählich ganz erfüllt und daher erwiderte sie auf Käthes wiederholte Fragen nur hastig und unsicheren Blickes an die Wand starrend:
„Aus Gewohnheit nur tu’ ich’s, das ist das ganze Elend!“
Aus Gewohnheit! In diesem einzigen Worte lag die ganze Wahrheit ihres Lebens, klirrten all’ ihre ehernen Fesseln, die sie sich selbst auferlegt mit diesem sie nur ausbeutenden Manne.
Gewöhnt hatte sie sich an die täglichen Zänkereien, an die eigenen Klagen, an seinen Müßiggang, sein „Habanna“ rauchen, sein nervöses, abgelebtes Äußeres, an die allmorgendlich mit kleiner Münze gefüllte und allabendlich geleerte Schublade, sogar an das arme Weib mit den kleinen Kindern, dessen Gespenst sie täglich anklagte mit heiserer Stimme. Aus Gewohnheit! –
Befremdet heftete Käthe den Blick in das Antlitz der Freundin, deren Leidenschaft täglich zur selben Zeit auftrat wie ein Wechselfieber.
Sie konnte Rosa einfach nicht begreifen. Auf sie machte Felix, dieser häßliche, schon alternde Mann, geradezu einen widerlichen Eindruck. Dazu kam noch, daß dieser Faullenzer in wilder Ehe von der Arbeit einer Frau lebte. Sie selbst hätte kurzen Prozeß mit ihm gemacht und ihm Respekt beigebracht, indem sie ihn sofort zu Weib und Kindern und seiner Werkstatt jagte.
Inzwischen verabschiedete sie sich von Rosa und wandte sich dem Ausgang zu.
Beide traten sie hinaus vor die Küche auf den kleinen Hof. Derselbe war rings von niedrigen Stallungen umgeben, deren Türen offen standen.
Stroh- und Düngerhaufen lagerten dort und einige dünne, schlanke Bäumchen erhoben die jungen Zweige zum Himmel.
Dort blieben sie beide noch ein Weilchen stehen und Käthe nahm das schwere Wolltuch ab, welches ihre Arme bedeckte.
Darunter trug sie ein Trikotleibchen, welches ihr die frühere Herrschaft einst in guter Laune geschenkt und dessen dunkelrote Farbe sich nur wenig unterschied von der ihres, von der Hitze etwas angeschwollenen Halses.
Dafür aber hob sich ihre ganze Büste um so deutlicher ab unter dem elastischen Gewebe, indem dieses sowohl die runden Schultern als auch die hochgewölbte Brust, deren Umfang das offenbar für eine kleinere Gestalt angefertigte Leibchen schon sprengte, höchst vorteilhaft hervorhob.
Das Fehlen zweier Knöpfe ließ den Rand des groben, aber sauberen Hemdes sehen und ein kleines Dreieck der den Brünetten eigentümlichen dunkelgelben Haut.
Ermattet von der Last des schweren Tuches erhob Käthe die Arme und reckte sich, indem sie die Ellenbogen streckte und die Fäuste zusammenpreßte.
Plötzlich bemerkte sie einen hervorstehenden Balken etwa eine halbe Elle über ihrem Kopfe und erfaßte das Holz. Unbewußt neigte sie sich dabei nach vorn, indem sie die Ellenbogen beugte und die Hüften etwas einzog. So stand sie ein Weilchen vor der Freundin, die ihre Klagelied über Felix und dessen unverbesserliche Faulheit immer aufs neue anstimmte.
In dieser warmen, von Stalldüften erfüllten Hofluft fühlte Käthe sich unbeschreiblich behaglich. Mit weitgeöffneten Augen und lechzenden Lippen atmete sie den frischen Heugeruch ein.
Rosas kreischende Stimme hallte in dem engen Hofraume wieder, bis sie sich im Dunkel der offenen Stallungen verlor.
Regungslos und ohne auf die Worte der Freundin zu hören, stand Käthe da, ganz versunken in den Erinnerungen, die, durch den Heuduft in ihrer Brust erweckt, sie vollständig von der Gegenwart abzogen.
Und wie dort in der Küche beim Anblicke der schneeigen Milch, trat auch hier die ganze Vergangenheit ihr vor Augen, die Mutter und die Schwestern, die Fabrikarbeit und die Reise nach der Stadt.
So vertieft in den Traum ihrer Kindheit, bemerkte sie nicht, wie ein verstecktes Pförtchen im Zaune geöffnet wurde und zwei junge Männer dort eintraten.
Sofort eilte Rosa ihnen entgegen und fragte sie unwillig: „Weshalb gehn die Herren hier durch? Das liebt die Frau Wirtin nicht. Dazu ist doch die große Pforte da!“
„Ei, Sie kleiner Schäker“, erwiderte der eine, von dem ein strömender Fuselgeruch ausging, der den rettungslos verlorenen Trinker verriet. „Wozu sollen wir solchen Umweg machen bei – der Hitze?“
Hier brach er plötzlich ab, da sein Begleiter ihn anstieß. Dies war ein kleines, fast noch unentwickeltes, aber ziemlich fein aussehendes Kerlchen.
Sein Blick hatte sofort sich Käthe zugewandt, die mit erhobenen und auf den Balken gestützten Armen, der plastisch gewölbten Büste und nach vorn geneigtem Kopfe noch immer regungslos dastand, ohne darauf zu achten, was um sie her vorging.
In ihrer Natur lag es einmal, daß sie öfters unwillkürlich in tiefes Sinnen verfiel und dann so unbeweglich dastand, wie eine Bildsäule still und stumm und mit weit geöffneten Augen.
Auch jetzt „überfiel es“ sie wieder wie sie selbst sagte, als sie wieder zum Bewußtsein kam!
In der enganschließenden Trikottaille traten ihre volle Büste und ihre runden Arme überaus plastisch hervor. Vom Gürtel an bedeckt vom engen Kleide, erschien sie wie herausgewachsen aus der schwarzen Erde, auf die sie die kräftigen Füße stützte. So glich ihre Riesengestalt mit dem zierlichen Kopfe und der niedrigen Stirn von klassischer Schönheit jetzt einer altgriechischen Statue. Und das von Sonne gebräunte, von Schweiß erglänzende Antlitz verlieh ihr im Schatten des Hofraumes ganz den Charakter eines Bronzegusses.
Bewundernd blickten die beiden jungen Männer sie an, bis der eine ausrief: „Die reine – Karyatide!“
In diesem Ausdrucke verriet sich der Bildhauer. Wie die Hammerschläge einer nach griechischen Mustern gebildeten Hand erschallten dumpf die einzelnen Silben.
„Karyatide!“
Unter dem Klange dieses Wortes schien die halbwüchsige Gestalt in weibisch kokettem grauem Anzuge förmlich zu wachsen an Kraft und Entschlossenheit, als forme sie mit kundiger Hand die Büste dieses Mädchens, dessen regungslose Haltung in ihm die Erinnerung an eine ganze Reihe von riesigen, bis an die vom Gewande verhüllten Hüften nackten Frauengestalten aus Marmor weckte, wie sie oft Palästen als stützende Säulen dienen.
In seinen Augen war dies wirklich eine Karyatide, eine Schwester jener traumhaften Riesinnen, die mit starren Steinaugen so stolz in ihrer Knechtschaft auf Wache stehen und Zentnerlasten tragen auf ihren königlichen Schultern.
Im Halbdunkel des Hofes, umgeben von Heu- und Düngerhaufen, an das graue Gebälk des Viehstalls gelehnt, stand sie da in ihrer harmonischen Schönheit, wie eine altertümliche Bildhauerarbeit, die hier unter den Stallungen aufgefunden wurde.
„Karyatide!“
Als dies Wort die Luft durchschwirrte, erwachte Käthe erst aus ihrem Sinnen. Instinktiv fühlte sie heraus, daß dieser Name für sie bestimmt war. Im übrigen hatte sie natürlich keine Ahnung von der Bedeutung desselben. Gleichwohl drang er durch ihr Ohr bis in das Hirn und haftete dort unter tausend alltäglichen Ausdrücken, die sie von Kindheit an gehört.
Voller Verwirrung und mit glühenden Wangen hüllte sie sich wieder in ihr Tuch, um sich schleunigst den Blicken dieser Männer zu entziehen, die so heiß auf ihr ruhten und sie in die peinlichste Verlegenheit versetzten, als rissen sie ihr die Kleider herab, um ihren Körper zu zergliedern. Schon dieser Gedanke brachte sie fast zur Verzweiflung. Blickten doch alle Männer nach ihr mit so widerlicher Neugier.
War sie etwa schuld an ihrem üppigen Wuchs und ihren breiten Schultern? Hätte sie doch niemals dieses Tuch abgelegt, sondern beständig sich fest darin eingehüllt! Das wäre das beste gewesen!…
Rosa war wieder in bester Laune, legte die Maske der freundlichen Kellnerin an und lächelte den Gästen zu.
Diese näherten sich jetzt Käthe, in den Hüften sich wiegend, mit Siegermienen und ausgeprägter Verachtung gegen alle Weiber, wie sie sie in Spelunken und im Verkehre mit feilen Dirnen sich angeeignet hatten.
Im Scherz schlugen sie ihr vor, ihnen „Modell zu stehen“. Und als sie sahen, sie sei zu dumm, um die Bedeutung dieser Worte zu verstehen, erklärten sie ihr frei heraus, was sie von ihr wünschten.
Feuerrot wurde sie, als sie vernahm, sie solle vor ihnen sich hinstellen, wie Gott sie geschaffen. Nein. Nimmermehr würde sie sich dazu hergeben. Und mit zitternden Händen hüllte sie sich fester in ihr Wolltuch, als befürchtete sie, sofort dazu gezwungen zu werden, hier, am hellen, lichten Tage, mitten auf dem Hofe!…
Rosa dagegen kicherte vor sich hin und in ihrer Sinnlichkeit erwachte plötzlich das Verlangen nach den Küssen und Liebkosungen ihres Felix…
„Wie dumm du bist“, erklärte der eine Herr, indem seine Stimme sich nur unter fortwährendem „Schluckauf“ der Brust entrang. „Dir soll doch gar nichts Schlimmes geschehen. Einige Stunden nur brauchst du Modell zu stehen, bis dieser Herr dich aus Lehm geformt hat, dann siehst du doch wenigstens, wie du aussiehst!“
Käthe erwiderte kein Wort. Im Geiste sah sie ihre eigene Gestalt, aus feuchtem Lehm nachgebildet. Wie häßlich mußte das sein.
„Für die Stunde zahl ich drei Groschen“, fügte der Bildhauer hinzu.
Rosa war darüber ganz entzückt: Drei Groschen für eine Stunde müßig gehen! Dafür tat sie es auch! Sie bot sich selber an, indem sie die Schultern zurückbog, um die vom Rosa-Perkal bedeckte Brust mehr hervortreten zu lassen. Wie gern stünde sie „Modell“, wenn nur Felix es erlaubte!
Der Bildhauer aber schüttelte den Kopf und schlug ihr dies ab. Mit Käthe war dies etwas anderes: Wenn sie einwillige, solle sie sogar vier Groschen haben; nur einige Male brauche sie zu ihm zu kommen und dies habe doch gar nichts auf sich.
Noch immer schweigend, suchte Käthe mit den Augen nach dem Ausgange, um so schnell wie möglich dem ihr so peinlichen Vorschlage zu entgehen.
Plötzlich fragte sie der andere mit der ironischen Miene des Literaten: „Kennst du den Katechismus?“
Erstaunt blickte sie ihn an. Was hatte dieser Herr nach dem Katechismus zu fragen? Freilich kannte sie ihn ganz genau, da sie ihn in der stillen Dorfkirche bei dem alten Priester auswendig gelernt. Was aber hatte der Katechismus gemein mit dem, was die Herren von ihr wollten.
Blitzschnell jedoch traf sie die neue Frage: „Wer hat dich erschaffen?“
„Der Herrgott“, erwiderte sie mechanisch, wie ein Leierkasten, der aufgezogen wird, um eine Arie zu spielen.
„Und woraus?“ fuhr der Literat fort, indem er mit den geröteten Augen zwinkerte und sie ansah durch die spärlichen Wimpern.
„Aus Lehm. Und er blies mir die Seele ein und belebte den Leib“, leierte sie her und drehte die Finger, wie ein faules Kind in der Schule.
„Na, also aus Lehm!“ unterbrach der Literat mit entsprechender Handbewegung ihren Redestrom. „Und tat dir das weh?“
Obwohl Käthe die strengsten Erinnerungen ihrer Kindheit in sich wach rief, vermochte sie sich darüber nicht klar zu werden und schwieg daher hartnäckig.
„Na, siehst du, Närrin. Hat es dir damals nicht wehe getan, wird es dir jetzt auch nicht wehe tun.“
„Und drei Groschen erhältst du für die Stunde“, unterbrach ihn der Bildhauer, indem er die kleine Gestalt reckte und mit den Händen auf die Taschen schlug, um mit den Schlüsseln zu klirren und den Klang hervorzurufen, als fülle bares Geld die Taschen seines Sommeranzuges.
Käthe schwindelte es nachgerade im Kopfe.
Wie? Dieses Bürschchen wollte so mächtig und weise sein, wie der Herrgott?…
Ganz empört war sie über solche Mißachtung des göttlichen Namens.
Dazu kam noch, daß der widerliche Fuselgeruch ihr fast die Brust zusammenschnürte, wie die Angst vor etwas Unbekanntem, als öffne sich vor ihr ein jäher Abgrund. Ihr war, als habe sie selbst einen Rausch sich angetrunken, den ihr schwacher Kopf nicht zu tragen vermochte.
Die Männer aber schütteten sich aus vor Lachen. Auch Rosa freute sich, daß sie mit ihrer Freundin so scherzten, und stimmte mit ein in die Heiterkeit die den ganzen Hof erfüllte.
Inzwischen blickte Käthe immer ängstlicher nach der halbgeöffneten Pforte mit dem Wunsche, schleunigst sich aus dem Staube zu machen, und in dem Gefühle, als habe sie irgend etwas begangen, was sie in den Abgrund stürze.
Mit Gewalt also raffte sie sich auf und eilte wie in heller Verzweiflung auf die Pforte zu.
Der kleine Bildhauer aber folgte ihr auf dem Fuße nach und rief ihr zu: „Du, wenn du dich besonnen, aber nichts zu essen hast, so komm nur zu mir! Weißt du, wo das Polytechnikum ist? Nein? Das große, weiße Haus mit der Freitreppe in der Krummenstraße. Weißt du es nun?“
Dicht an der Pforte umschlang er sie halb und zog sie fast in seine Arme. Wie ein Kind sah der Halbwüchsige aus gegenüber dem so kräftig gebauten Mädchen. Dies fühlte er auch und sah sie mit seltsamem Staunen an.
„Herr, lassen S’ mich los! Ich hab Eile!“ rief sie ihm zu.
Er aber lächelte nur und drängte sich ihr immer näher. Mit den beschleunigten Atemzügen drang scharfer Alkoholdunst aus seinen immer feuchten Lippen.
Mit kräftiger Hand suchte Käthe den Zudringlichen von sich abzuwehren. Er jedoch hielt ihren Arm wie mit einer Zange fest. Wie Stahlringe umschnürten ihn seine dünnen Finger.
„Aber, Herr, Sie tun mir weh!“ rief Käthe und sah ihm mit Tränen in den Augen in das gerötete Gesicht.
Aus diesem großen, dunklen Auge sprach der stille Vorwurf des ohnmächtigen Wesens aus niederem Stande so beredt, daß die Finger des Bildhauers allmählich ihren Arm losließen.
Lange noch sah er ihr nach, als sie durch die offene Pforte auf die Straße hinausgeeilt war, während der Literat mit Rosa unter zweideutigen Scherzen und Klapsen im Innern des Gebäudes verschwand.
Dann blieb er noch ein Weilchen mitten auf dem Hofe stehen und betrachtete aufmerksam jenen Balken, an welchem Käthe bei seinem Eintritte gelehnt hatte.
Ja, sie war das beste und einzige Modell zu der Karyatide, von der er so manchmal geträumt in der Kneipe, wenn er seinen Entwurf mit dem in Bier oder Wein getauchten Finger auf den dichtbestaubten Tisch zeichnete.
All seine Arbeiten entstanden übrigens auf dieselbe Weise und quälten ihn bei den nächtlichen Zechgelagen mit seinen Kumpanen. Dann goß er ein Glas Wein auf den Tisch und schuf dort ideale Frauengestalten mit schon zitternder Hand, aber trotzdem in reinen, durchgeistigten Formen. Mitten im Lärm halbberauschter Literaten und Schauspieler entwarf er so die kunstvollen Umrisse seiner hold lächelnden Büsten, Reliefs und ganzer Statuen.
Ab und zu warf er dabei auch ein Witzwort hin, oder schlug eine weitere nächtliche Wanderung vor, trotz umnebelten Kopfes aber zeichnete er ruhig weiter all jene Gestalten, die sich traumhaft seiner Brust entrangen und sich hinausdrängten in die Welt, das Leben und den Ruhm.
Da er arm, sich selbst überlassen war und niemand liebte, auch von niemand geliebt wurde, arbeitete er nur wenig. So ging er einsam durch das Leben, bis er sich an die Kneipe lehnte, diesen Salon der städtischen Bohème.
Anfangs schreckte er davor zurück. Allmählich aber gewöhnte er sich daran und erschien allabendlich, um gegen Morgen erst heimzukehren; dann lärmte er auf den Straßen, band mit Polizei und Dirnen an, oder legte sich quer über den Weg, als habe ihn der Schlag gerührt, und trieb tausend ähnliche Possen.
Auf seiner Schwelle aber begrüßten seine keuschen, weißen Statuen mit traurigen Blicken sein jugendliches und doch schon so aufgedunsenes Gesicht, sein weiches, wallendes, aber mit Strohhalmen, Gras und Staub bedecktes Haar und die schmutzigen in den Taschen des fadenscheinigen Überziehers steckenden Hände.
War das wirklich ihr Schöpfer, dieser Mensch, der solchen Kneipendunst mit sich hereintrug, der sich kaum noch auf den Füßen hielt, und zu guterletzt noch fast umsank vor ihren Marmorfüßen!
Der riesige Herkules auf seinem Felsensitze, in seiner Nacktheit so gewaltig, senkte traurig das stolze Haupt. Und die schlanke Nixe, die am Ufer träumte, errötete fast im Glanz der Morgensonne.
Und dennoch erwuchsen all diese blendenden Gestalten aus der dunklen Weinpfütze und der schwülen Luft der in der Kneipe durchschwärmten Nacht. Und seine Bestimmung war, noch tiefer zu sinken, als seine Vorbilder und Entwürfe, sogar als seine Modelle!
Hier auf diesem Hofe aber erschien ihm plötzlich jene Karyatide mit den scharf gezeichneten Linien, Kraft und Gesundheit atmend.
In seiner Erinnerung hinterließ sie die anmutige Beugung des Körpers mit der prächtigen Büste.
Sehnlichst aber wünschte er, sie noch vor sich zu sehen, um den echten Typus eines Riesenweibes zu schaffen, ohne Übertreibung oder Nachahmung jener plumpen Statuen, welche die Balkone oder Verzierungen der Paläste schmücken.
Daher stand er noch lange mitten auf dem Hofe, mit dem Blicke nach der Wand, um im Geiste die Umrisse zu zeichnen und sie auszufüllen zur – „Käthe, die Karyatide“, zu jener stolzen, kräftigen Schönen mit den muskulösen und doch echt weiblichen Armen…
Käthes Truhe nahm, obgleich nicht allzu groß, dennoch einen beträchtlichen Raum in dem von Rosa und Felix bewohnten Stübchen ein.
Unmittelbar aus dem Milchgarten begab Käthe sich dorthin, um so schnell wie möglich ihre sieben Sachen fortzuschaffen.
Als sie eintrat, lag Felix, wie gewohnt, auf dem schmutzigen Federbett mit der Miene eines Mannes, dem sein sicher angelegtes Kapital ein anständiges festes Einkommen bringt. Sein plumpes, faltenreiches Gesicht verschwand fast in den Rauchwolken seiner „Habanna“. Vor kurzem vom Mittagessen heimgekehrt, hielt er jetzt in aller Ruhe seine Siesta ab.
Die schmutziggrauen Wände des Stübchens waren verräuchert vom Tabaksqualme und beklebt mit bunten Papierschnitzeln, Zeitungsausschnitten und Anzeigen oder mit vergoldeten Buchstaben und Kleiderstoffproben.
Dies war die einzige Arbeit, zu der sich Felix manchmal noch herbeiließ.
Eingedenk des Grundsatzes: „Utile cum dulci“, schmückte er die Wände des staubigen Stübchens mit derartigem Plunder.
„Dann hast du wenigstens noch ein Andenken von mir“, sagte er einmal zu Rosa, als diese sich ärgerte über die Mehlverschwendung zum Kleister.
Damit verschloß er ihr sofort den Mund. „Trennung“, das war ihr das schrecklichste Wort, das von seinen Lippen fiel.
Auch sie sprach es öfters aus in den täglichen Zänkereien. Sobald aber Felix eine Veränderung in ihrem Zusammenleben nur andeutete, verging sie fast vor Angst, wie gegenüber dem Tode oder einer unheilbaren Krankheit.
Als Käthe die Tür öffnete, erhob sich Felix nicht einmal von seinem Lager.
Längst schon verlor er alle Aufmerksamkeit gegen die Weiber und hielt sie nur für untergeordnete Wesen, lediglich nur dazu bestimmt, dem Manne das teuere Leben zu erhalten.
Die dumpfe Atmosphäre des niemals gelüfteten Raumes benahm der Eintretenden fast den Atem.
Obgleich sie Felix nicht leiden mochte, gebot ihr die angeborene Höflichkeit dennoch, nicht unfreundlich gegen ihn zu sein.
„Guten Tag!“ sagte sie daher, indem sie ihre Truhe öffnete und ihre Sachen sorgfältig hinein legte.
Felix erwiderte kaum den Gruß und beobachtete sie nur, wie sie sich nach der Truhe bückte.
Entschieden war sie hübscher als Rosa und konnte also im Milch- oder Kaffeegarten bei gutem Willen doppelten Verdienst haben. Bei weitem jünger und frischer und so kräftig, wie ein Mecklenburgisches Pferd, bot sie ein weit besseres Material zu Einnahmen, aus denen er mehr und länger Vorteile ziehen könnte.
Schweigend erwog er diesen längst schon ihm durch den Sinn gegangenen Gedanken.
Rosa begann schon zu altern. Immer weniger Bargeld klirrte in der Schublade.
Nachlässig, abgespannt und unlustig, verlor sie allmählich die kleinen Nebeneinnahmen für ihre Bedienung. Dabei verharrte sie in törichtem Starrsinn in einer Treue, die er im Grunde genommen weder von ihr forderte, noch wünschte. Für seine Liebe wies sie jede vertrauliche Annäherung der Gäste mit der schmollenden Miene eines unerzogenen Mädchens zurück.
Und dadurch entgingen ihr immer mehr jene kleinen „Trinkgelder“, die zu Anfang ihres Zusammenlebens ihr täglich einige Gulden einbrachten.
Damals lebten sie ganz anständig und aus jener Zeit stammten auch die beiden Hypothekenpfandbriefe, die sie, abgesehen von seinem Unterhalte, für Notfälle zurücklegen konnte.
Manchmal zwar umschlichen ihre Wohnung verschiedene jüngere oder ältere Männer, die ungeduldig in das Fenster sahen oder laut hüstelten. Und meist lief dann Rosa unter dem Vorwande eines Krankenbesuches bei ihrer Tante oder Freundin in die Stadt, um erst nach einigen Stunden heimzukehren.
Felix aber stellte sich so, als bemerke er gar nichts, oder als schlafe er hart und fest. Gleichwohl sah er alles und erriet die Wahrheit, machte jedoch davon kein Aufhebens. Wozu auch? War es doch so am besten für sie beide.
Unwillkürlich lächelte sein fahles Gesicht, wenn Rosa mit tödlicher Angst sich über ihn neigte, um sich zu überzeugen, ob er auch nicht gemerkt habe, daß sie so spät heimkehrte.
Seinetwegen konnte sie auch erst morgens früh heimkehren; ihm war dies ganz einerlei.
In seiner Verachtung gegen die Weiber konnte er gar nicht begreifen, was für ein Glück in der Überzeugung vom ausschließlichen Besitze des geliebten und liebenden Wesens liege.
Dies hinderte ihn jedoch nicht an einem erkünstelten Stirnrunzeln, als Rosa ihm die haarsträubende Geschichte erzählte von ihrem Nachbar, dem Schuster, der seine Frau auf einer Untreue ertappte.
„Passierte mir das“, rief er, seine kleine Gestalt mächtig aufblähend, „den Hundsfott schlüg’ ich auf der Stelle tot.“
Rosa aber ließ dann den Kopf hängen und dachte, zitternd vor Angst, nur an Mord und Todschlag, an Kriminal und Schwurgericht…
Und umso ungestümer hing sie sich an Felix, als lechze sie nach dessen Küssen und Liebkosungen.
Alle ihre Bekanntschaften brach sie ab, blieb ihm treu mit der Beharrlichkeit eines Weibes, dessen Leidenschaft endlich ihre Befriedigung gefunden hatte. Dabei wurde sie immer nervöser und welkte zusehends dahin in dem ewigen Tabaksqualm und der feuchten, dumpfen Atmosphäre. Um nichts mehr kümmerte sie sich und sorgte nicht einmal für das tägliche Brot.
Felix, der seit einiger Zeit sich in seinen Ausgaben erheblich beschränkt sah, blickte sie öfters mit kaum verhehltem Unwillen an, machte ihr jedoch niemals Vorwürfe, sondern fluchte nur in ihrer Abwesenheit, wenn die geöffnete Schublade ihm keinen befriedigenden Anblick bot.
Scheinbar war er ein Mann von guter Erziehung und einem gewissen Zartgefühl, sobald ihm das offene Eingeständnis einer Ausbeutung der Weiber seine weitere Laufbahn verderben konnte.
Schweigend also fügte er sich in die verschlechterte Lage, sah sich aber dabei schon um nach etwas „Besserem“, was seine Einkünfte vermehren und ihm ermöglichen könne, besser zu leben und in feineren Speisehäusern zu essen.
Daher richtete er jetzt sein Augenmerk auf Käthe. Wer bot ihm besseres Material zur Ausbeutung, als dieses sanfte, stille und kräftige, zugleich aber scharf gestellten Zumutungen gegenüber so widerstandslose Mädchen?
Als er die lange Linie ihres über die Truhe gebeugten Rückens vor sich sah, kam ihm plötzlich der Gedanke, für sich dies junge Wesen auszubeuten, welches so viel zu leisten vermochte, ohne sich so leicht abzunutzen wie Rosa.
„Fräulein, wollen Sie spazieren gehen?“ fragte er mit ungewohnter Freundlichkeit, als er sie aus der Lade eine saubere, weiße Jacke herausnehmen und beiseite legen sah.
„Nein, Herr Felix; ich will nur umziehen“, erwiderte sie, während sie nach den gestopften Strümpfen im Weißzeuge herumsuchte.
„In Dienst wollen Sie gehen, Fräulein?“
„Natürlich.“
Ein Weilchen herrschte Schweigen.
Zu ihrem Schrecken bemerkte Käthe ein kleines Loch in der Ferse eines Strumpfes. Sofort setzte sie sich auf den Rand der Truhe und entnahm einer Pulverschachtel, die als Arbeitstasche diente, etwas Baumwolle, einen Fingerhut und eine halbverrostete Stopfnadel. Dann nahm sie den Strumpf in die Linke, zog die Ferse über die Faust und begann das Stopfen. Dabei neigte sie bei jedem Stiche den Kopf und preßte die Lippen zusammen vor lauter Eifer.
„Fräulein, weshalb wollen Sie in Dienst gehen?“ fragte Felix mit verdoppelter Freundlichkeit, indem er sich langsam vom Lager erhob und sich in seinem Taschenspiegelchen besah.
„Weshalb? Um nicht Hungers zu sterben“, entgegnete sie, ohne den Kopf zu erheben.
„Ach was! Fräulein, wenn Sie nur wollten, so könnten Sie auf andere, leichtere Arbeit gehen. Kasserollen und Scheuerlappen sind nur für Häßliche.“
„Spotten S’ doch nicht, Herr Felix!“ rief sie lachend. „Was sollt’ ich denn sonst anfangen? Ich fand einen nicht üblen Dienst. Die gnädige Frau scheint recht gut zu sein.“
„Oho! Die sind alle nicht gut. Ich aber wüßte etwas Besseres und Feineres; z. B. im Milchgarten, wie Rosa, oder in einem Kaffeehause. Hm?“
Hier sah er ihr scharf in die Augen, um zu erforschen, welchen Eindruck sein Vorschlag auf sie mache.
Plötzlich ließ Käthe die Hand sinken, in der sie den Strumpf hielt, und rieb sich mit der Rechten den Arm. Dort über dem Ellenbogen hatten die Finger des jungen Bildhauers schmerzhafte rote Striemen hinterlassen, als habe er sie mit einem Stricke geknebelt. Daher bemühte sie sich, den Schmerz durch Reiben zu lindern.
„Ich in den Milchgarten? Dazu bin ich viel zu plump und zu häßlich. Mit Rosa ist das was anderes.“
„Hi! Hi! Hi!“ lachte Felix, der die Saite ihrer Eitelkeit berühren wollte, ohne die Geliebte zu schonen. „Gewiß, Fräulein, ist ein großer Unterschied zwischen Ihnen und Rosa: Sie sind weit jünger, hübscher und frischer. Neben Ihnen sieht Rosa aus wie eine ausgepreßte Zitrone!“
Käthe empfand jetzt dasselbe Befremden, wie damals in der Küche, als Rosa im Ärger ihn „Nichtsnutz und Tagedieb“ nannte, wie er sie jetzt eine „ausgepreßte Zitrone“. Was fesselte denn diese beiden aneinander, wenn sie sich gegenseitig so haßten?
„Warum bleiben Sie aber bei ihr?“ fragte sie ihn mit denselben Worten wie jene.
„Nur aus Gewohnheit!“ erwiderte auch er, nachdem er ein Weilchen nach Worten gesucht. „Das ist einmal so meine dumme Natur!“
Auch er also nur aus Gewohnheit!
Kopfschüttelnd begann Käthe wieder zu stopfen, während Felix offenbar noch etwas hinzufügen wollte, denn er näherte sich der Truhe und ein Lächeln erhellte sein gleichgültiges Gesicht.
„Mit alledem aber könnt’ ich jederzeit ein Ende machen, denn aus Rosa wurde schon solch eine Hexe, daß es, bei Gott, nicht mehr auszuhalten ist. Ich aber liebe nur freundliche, wohlerzogene Weiber. Immer hofft’ ich noch, sie dressieren zu können, aber vergebens…“
Ganz verdutzt war Käthe über solche Reden: Freundlichkeit verlangte er von Rosa und wollte sie – dressieren?…
„Sehen Sie, Fräulein“, fuhr Felix fort und setzte sich auf den Rand der Truhe. „Rosa faullenzt jetzt und tut garnichts mehr. Früher war sie ein Blitzmädel, jetzt schleppt sie sich kaum noch fort auf den Beinen. Ich liebe aber solche Weiber nicht, die gar nichts tun.“
Unwillkürlich heftete Käthe den Blick auf seine dürren, untätig gefalteten Hände. Auf dem vierten Finger der Linken blitzte kokett ein Ring mit einem falschen Brillanten. Und ebenso blickte Felix unverwandt auf ihre groben, breiten und roten Hände. Beide aber hatten sie denselben Gedanken:
Wie viel konnten diese Hände täglich verdienen bei eifriger Arbeit!…
Dann jedoch schweifte sein Blick über ihre ganze Gestalt mit derselben Berechnung, wie etwa über ein Grundstück, auf dem er sein Kapital anlegen wollte. Augenscheinlich fiel diese Prüfung zu Käthes Gunsten aus. Denn er zog den Schlips zurecht und begann nach zierlicher Verbeugung mit gedämpfter Stimme:
„Fräulein, ich will Ihnen etwas sagen: Wenn Sie es wünschen, würde ich mich bemühen, daß Sie Rosas Stelle erhalten im Milchgarten. Das wird umso leichter sein, weil Rosa nicht mehr dazu taugt. Dafür müßten Sie aber auch bei mir an Rosas Stelle treten und mit mir zusammenwohnen. Bei Gott, ich bin ein ehrlicher Mensch und tu niemand etwas zu Leide. Sie werden sehen, Fräulein, was für ein guter Mann ich bin.“
Hier suchte er mit den dürren Fingern ihre Hand, während sie so bestürzt dasaß, als habe man sie plötzlich mit Kot beworfen.
Er aber hielt ihr Schweigen für ein Zeichen stummen Einverständnisses und führte seinen Vorschlag weiter aus, indem er ihr das faltige, gelbliche Gesicht eines Müssiggängers zuwandte, der, in Untätigkeit verkommen, die Früchte fremder Arbeit mit der ganzen Unverschämtheit eines Schmarotzers verzehrte.
Nein! Womit hatte sie solche Erniedrigung verdient? Was wollten sie nur von ihr, diese Männer, die sie gar nicht in Ruhe ließen? Zum drittenmal fühlte sie heute im Gesicht den mit Tabak und Fuseldunst gemischten glühenden Atem eines Mannes. Nein! Das war entschieden zu viel für sie!
Ein unbeschreibliches Wehegefühl erfüllte ihre Brust, bis sie in lautes Schluchzen ausbrach und die Tränen sich mit dem Strumpfe in ihrer Hand trocknen mußte.
Sollte es so bleiben ihr Lebenlang? Sollte sie niemals frei aufatmen dürfen und Ruhe finden? Hat jeder Mann das Recht, sie zu überfallen, nur deshalb, weil sie eine arme Magd ist, die über die Straße im bloßen Kopfe gehen muß?
Felix, der keine Tränen erwartet hatte zum Schluß seines glänzenden Anerbietens, verstummte vor Verlegenheit und erhob sich von der Truhe. Sein tief verletzter Stolz gebot ihm, sich schleunigst zu entfernen. Deshalb ergriff er in schlecht verhehltem Grolle den unter den Tisch geworfenen Hut und rief in befehlendem Tone: „Der Schlüssel wird im Hausflur abgegeben!“
Dann rannte er hinaus und warf die Tür hinter sich zu, daß alles krachte.
Käthe wandte sich nicht einmal um nach ihm, sondern schluchzte nur weiter und lehnte die Stirn an die Wand. Diese Tränen erst brachten ihr Trost und etwas Ruhe. Dann trug sie ihre sieben Sachen und ihr in ein weißes Laken gehülltes Bettzeug in eine Droschke.
Vor der Haustür ihrer neuen Stelle sah sich Käthe vergeblich nach Johann, ihrem neuen Bekannten, um. Wahrscheinlich war er in die Stadt gegangen, denn er war nirgends zu sehen.
Weshalb seine Abwesenheit sie so peinlich berührte, konnte sie sich selbst nicht erklären.
Sie hatte sich so sehnlichst gewünscht, daß sein freundliches Gesicht sie beim Eintritt in das neue Heim begrüße.
Von ihm fürchtete sie keinen neuen Überfall mehr; sie vertraute ihm und wünschte sich seinen Schutz herbei.
Mit Hilfe des Droschkenkutschers trug sie Truhe und Bettsack in den dritten Stock hinauf und die Hausfrau öffnete ihr selbst die Tür.
Nachdem sie ihr Lager in der aus alten Brettern zusammengenagelten Schlafbank zurecht gemacht und ihr grobes Laken darüber gedeckt, auch an die Wand ihre vier bunten Bilder der Reihe nach gehängt hatte, lächelte sie vor sich hin und fühlte sich in ihrer Armut vollkommen befriedigt.
Diese Bilder waren ihr einziger Reichtum: Die heilige Dreieinigkeit mit der blauen Weltkugel, die Mutter Gottes mit dem schwarzen Antlitz und dem goldstrotzenden Gewande und der heilige Vinzenz de Paulo mit dem Christuskindlein auf dem Arme.
Das vierte Bild aber in dieser Galerie stellte Bogumil Dawison dar im Purpurmantel und mit der Cäsarenkrone auf dem stolzen Haupte. Ohne diesen Bühnenhelden zu kennen, hatte Käthe ihn zu den Heiligenbildern gesellt, da sie auch ihn für „etwas Hohes“ hielt, wegen des roten Mantels und der stolzen, herausfordernden Stellung, die er vor der Urne auf hochragender Säule annahm.
In der Küche fand Käthe eine Menge Staub und Schmutz vor, in den Winkeln ganze Haufen von Knochen und Kartoffelschalen usw. Bei näherer Umschau bemerkte sie den Mangel an notwendigen Gerätschaften, wie Besen, Bürste und Geschirr. Trotzdem begann sie mit großem Eifer diesen Erdenwinkel aufzuräumen, in dem sie fortan leben sollte.
Nachdem sie den Fußboden aufgewischt, versuchte sie auch die Wände zu säubern. Dies gelang ihr aber beim besten Willen nicht, so große schwarze Flecke bedeckten die längst nicht mehr getünchten Mauern.
Ein winziges Fensterchen führte nach einem kleinen Seitengang mit eisernem Geländer, welcher, an der Ecke gekrümmt, empor bis zum spitzen Dache eines Anbaues sich fortsetzte. Dies Fensterchen bot natürlich nur spärlich Licht und Luft.
Tief seufzte Käthe auf, um möglichst viel Luft in die breite Brust einzuziehen, – sonst wäre ihr das Blut in den Kopf gestiegen.
Plötzlich wurde die zur Stube führende Tür geöffnet und herein trat ein älterer Mann im Schlafrocke, augenscheinlich der Hausherr.
Käthe erhob sich und trat ihm näher, mit dem Wunsche, in den Falten des altersgrauen persischen Gewebes die Hand des Brotherrn zu finden und sie ehrfurchtsvoll zu küssen.
Die Hand steckte jedoch in dem viel zu weiten Ärmel, der Brust des Mannes aber entrang sich eine Stimme, so schrill wie Hahnenkrähen:
„Was poltert da für ein neuer Bettsack so herum, daß man kaum noch denken kann?“
„Ich bin’s, gnädiger Herr, die Käthe.“
„Die neue Magd! Hm!“ knurrte der Mann. „Wahrscheinlich ebenso spitzbübisch und herumtreiberisch wie die andere! Na, na! Ich werde dich schon aufs Korn nehmen und du wirst mir gehorchen! Mir, hörst du? Nur mir, nicht meiner Frau. Denn bei mir dienst du! Verstanden! Ich bezahle dich. Meine Frau hat gar nichts. Das gehört alles mir. Das ist meine blutige Arbeit, die sie nur zuschanden macht!“
Und dabei fuchtelte er herum mit dem langen Ärmel, unter dem wahrscheinlich die Hand steckte, und zeigte Käthe sein ganzes Eigentum, die Frucht seiner saueren Arbeit: einige Kasserolle, eine alte Feuerzange und Lichtscheere, einen blechernen Samowar, einen zerbrochenen Krug, einen verrosteten Kessel und allerlei sonstiges elendes Gerümpel, welches sich in den dunklen Winkeln versteckte, wie ein zerlumpter Bettler vor Scham.
Dann streckte der Mann im schmutzigen Schlafrocke die Hand aus, um damit einen Kreis zu beschreiben, als wolle er mit dem Stolze eines Geizhalses, der jahrelang verrostete Münzen zusammenscharrte, sagen: „Dies alles ist mein!“
Und so traurig auch all diese Schätze aussahen, um die sich herumzustreiten eine Torheit wäre, entzog dennoch dieser Mann seiner Frau an ihnen das Eigentumsrecht, indem er sich für das Haupt und den Herrn des Hauses im vollen Sinne des Wortes erklärte. Dies alles gehörte nur ihm: dieser erloschene Herd, dieses vom Fleische noch blutige Hackbrett,[WS 4] dieser Mörser ohne Keule, in dem man Zucker oder Pfeffer mit einem alten Glockenschwengel stoßen mußte.
Und mit derselben herrischen Ärmelbewegung nahm er Besitz von der neuen Magd, die in stummem Erstaunen diesen kahlköpfigen, spitzen Kopf vor sich sah mit der fahlen, hier und da in rundliche Grübchen eingefallenen Haut. Über den schmalen Lippen hing die lange Habichtsnase herab fast bis an das hervorstoßende Kinn.
Die Vorliebe zum Nörgeln und beständigen Ärger über sich selbst und andere prägte sich nur zu deutlich aus in dieser gekrümmten Gestalt, die sich so weit vornüber bog, als wolle sie sich auf das von ihr auserlesene Opfer stürzen.
Kleinen und hageren Wuchses, fuchtelte er, wie ein Verrückter, fortwährend mit den Ärmeln herum und verzog die Unterlippe in der nur ihm eigentümlichen Weise.
Trotz all ihrer Hochachtnug vor jeder „Herrschaft“ vermochte Käthe sich nicht zu demütigen vor dieser Gestalt, die im Halbdunkel des Küchenraumes sich bewegte.
„Wie viel Mietsgeld gab dir meine Frau?“ fragte der Mann im Schlafrocke, sich wie zum Sprunge auf die Lauer stellend.
„Einen Guldenschein“, erwiderte sie.
„Heraus mit ihm!“
Vor Bestürzung fand Käthe keine Antwort…
„Heraus mit ihm, sage ich! Wer kennt dich denn? Gott weiß, was du für eine Herumtreiberin bist, die morgen mich bestiehlt und davonläuft! Und dafür soll ich dir noch etwas bezahlen? Die dumme Julia macht es aber immer so. Mir nichts, dir nichts, wirft sie das Geld auf die Straße, als wär’ es ihr Eigentum. Barmherziger Gott, was soll noch aus mir werden!“
Dann trat er einige Schritte vor und kauerte, eine lange, zerfaserte Schnur hinter sich herziehend, sich an die Erde und fragte: „Soll hier etwa aufgewischt sein? Nur der Schmutz ist verschmiert und morgen schon wieder zu sehen. Das muß sofort besser gemacht werden.“
Dabei sah er sich überall um, als erinnere er sich an etwas oder zähle es: „Da liegen vierzehn Stück Holz für morgen Mittag. Das muß dir genügen. Halte das Geschirr nur immer recht sauber; das ist meine Arbeit und kostet mich nicht wenig!“
Plötzlich sprang er auf und ergriff mit dem Ärmelstoffe den auf dem Tische stehenden Samowar.
„Barmherziger Gott!“ rief er aus und verschwand mit dem Samowar in der nach der Stube führenden Tür.
Käthe stand eine Zeitlang regungslos da, um die Eindrücke zu ordnen, die dieser sonderbare Mensch auf sie gemacht hatte. So erwartete sie seine Rückkehr. Schon jetzt fühlte sie, wie schwer dieser Dienst sein werde. Leider aber hatte sie keine Wahl. Wo sollte sie einen besseren finden mitten im Quartal?
In wahrer Todesangst begann sie den Fußboden noch einmal aufzuwischen und schwitzte und keuchte dabei in der Hitze und der hastigen Bewegung. Fortwährend sah sie auch nach der Tür. Der Mann mit dem Samowar kehrte aber nicht zurück.
Allmählich sank die Dämmerung herab auf den feuchten Fußboden und die dunklen Winkel, bis alle Gegenstände nach und nach in der Finsternis des engen Küchenraumes verschwanden.
Noch immer aber bewegte sich dort, wie eine formlose Masse, die gekrümmte Gestalt Käthes, die mit nervöser Hast fast unbewußt immer von neuem den Fußboden aufwischte.
Endlich ging die Tür auf und herein trat die Hausfrau, mit dem Samowar in der Hand.
Ihre kleine, breite Gestalt war im Dunkel kaum noch in unsicheren Linien zu sehen, als sie den Samowar auf den Tisch stellte und sich an die Wand lehnte, als falle sie bald um vor Mattigkeit.
So stand sie ein Weilchen schweigend da, ohne Käthe zu bemerken, die im äußersten Winkel der Küche mitten im Wasser kniete.
Endlich erhob sie leicht den Morgenrock und schritt dem Fensterchen zu, durch das noch ein matter Lichtstreifen fiel.
Dort blieb sie stehen, wandte Käthe das bleiche, kränklich aussehende Gesicht zu und sprach langsam mit zitternder Stimme die kaum vernehmbaren Worte: „Hier war es doch wohl sehr schmutzig?“
„Allerdings, gnädige Frau. Das soll aber bald besser aussehen“, erwiderte Käthe, überglücklich, daß ihre schöne Herrin sie so freundlich anredete.
„Mein Mann, das heißt der gnädige Herr“, verbesserte sie sich, „liebt die Ordnung. Danach mußt du dich richten, ich bitte dich darum.“
Erstaunt hob Käthe den Kopf.
Wie? Ihre Herrin bat sie um Erfüllung ihrer Pflichten?
„Noch einen Auftrag habe ich für dich“, fuhr die Frau nach kurzem Zögern fort. „Du scheinst mir ein gutes Mädchen zu sein. Diene mir nur immer treu, du sollst es nicht bereuen. Wenn du den Samowar hereinbringst und mich am Tische sitzen und eine Semmel aus dem Korbe nehmen siehst, so geh’ sofort zurück in die Küche und komme nach einem Weilchen wieder herein mit diesem Briefe. Gib ihn dem gnädigen Herrn und sag’ ihm, ein Bote habe ihn soeben gebracht. Dann geh’ wieder heraus und komme nicht eher wieder, bis ich dich rufe.“
Bei diesen Worten streckte die Frau ihr weißes, weiches Händchen aus, um Käthe den mit großen Buchstaben adressierten Brief einzuhändigen.
Eine seltsame Verlegenheit ergriff sie beide. Käthe trocknete sich, ohne von den Knieen aufzustehen, die nassen Hände, nahm den Brief entgegen und schob ihn hinter die Jacke.
Die Herrin gebot ihr also zu lügen und den Herrn zu hintergehen. Im Gefühle, dies sei doch wohl nicht recht gehandelt, suchte Käthe ihre Verwirrung im Schatten der Dämmerung zu verbergen.
Die Frau aber zeigte beim matten Lichtschein, der noch durch das kleine Fenster fiel, im bleichen Antlitze den Ausdruck leichter Besorgnis über diese erzwungene Erklärung vor einer Magd, die sie kaum seit einigen Stunden kannte.
„Hast du mich verstanden und weißt du, was du zu tun hast?“
Dies wußte Käthe allerdings, nur nicht, weshalb sie es tun sollte.
Von ihrem Instinkte geleitet, fragte sie dennoch nicht weiter, um nicht noch mehr diese bleiche Frau zu beschämen, die so jämmerlich vor ihr stand und fast erdrückt wurde von ihrer Lüge.
„Bedenke wohl“, fuhr die Frau mit sanfter Stimme fort, „daß du vor allem bei mir dienst. Daher verlaß ich mich auf dich und befehle dir, zu schweigen. Verrätst du trotzdem etwas dem Herrn, so jag’ ich dich fort, mich aber setzest du den größten Unannehmlichkeiten aus.“
Bei diesen Worten klang ihre Stimme jedoch durchaus nicht drohend, sondern wie traumhaft gedämpftes Schluchzen, welches dumpf verhallte in der breiten Brust.
Tiefes Mitgefühl empfand Käthe plötzlich mit dieser Frau, die so lügen mußte mit so schlecht verhehlter Angst. Und mit der gewohnten Solidarität unter Frauen gegenüber den Männern, beschloß sie, so viel in ihren Kräften stand, dieser guten, blassen Frau zu helfen, die so freundlich und offen zu ihr sprach, während der Herr ihr nur die Stücke Holz zuzählte und mit dem Samowar in heller Verzweiflung davon stürzte.
Mit dem Spürsinn der Mägde erkannte sie in Frau Julia das willenlose Wesen, die schlechte Wirtin, die, mit irgend etwas anderem außerhalb des Hauses beschäftigt, innerhalb ihrer vier Wände wie im Gasthofe lebte, ohne Zweck und ohne Wünsche. Außerdem erschien sie ihr höchst unglücklich und trotz der Körperfülle kränklich.
Als sie zu ihr von den „größten Unannehmlichkeiten“ sprach, schnürte es Käthe fast das Herz zusammen. Diese Unannehmlichkeiten traten dem gefühlvollen Mädchen vor Augen, wie ein Schreckgespenst, welches das Leben ihrer Herrin bedrohte.
„O! Gnädige Frau, Sie können ganz ruhig sein. Mit eigener Hand will ich diese Unannehmlichkeiten beseitigen und mit eigener Brust Sie decken vor diesem Schreckgespenst!“ hätte sie sagen mögen.
Und, knieend zu Frau Julias Füßen, wollte das wackere Mädchen, für einige sanfte Worte zu Gunsten der Ärmsten, mit Freuden sich zu einer Lüge hergeben und ihr ganzes Wesen ihr opfern, wie ein treuer Hund.
So wurde denn stillschweigend im dunklen Küchenraum das Bündnis gegen den Gatten und Herrn geschlossen, einerseits zum ehelichen Verrat, andrerseits im Wunsche, mit blindem Gehorsam ein gutes Wort zu vergelten.
Beide Frauen, die soeben noch gar nichts mit einander gemein hatten, verknüpfte jetzt das Band des Geheimnisses: der in Käthes Jacke verborgene Brief.
Frau Julia vertraute, dem ihr seltsam sympathischen Wesen Käthes unterliegend, deren Händen ihre ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an, unvorsichtig vielleicht, aber geleitet vom weiblichen Instinkte.
Dieses große, sanfte Mädchen mit den offenen, ehrlichen Zügen konnte keinen Verrat im Innern bergen. Vom ersten Augenblicke an fühlte Julia in ihr die Bundesgenossin heraus. Hierbei rechnete sie allerdings auch auf den unangenehmen Charakter des Gatten, der beim ersten Anblick auf jeden einen widerlichen Eindruck machte.
Beim Herausgehen befahl sie Käthe noch, die Lampe anzuzünden und den Samowar sowie die Tassen bereit zu halten, mit den sanften Worten: „Beeile dich, mein Kind.“
Sofort erhob sich Käthe von den Knieen und stand ein Weilchen da, das Gesicht mit den Händen bedeckend.
„Mein Kind!“
Seit dem Tode der Mutter hatte sie diese Worte nicht vernommen.
Jetzt gehörte sie mit Leib und Seele dieser guten Frau an, deren Stimme unter der niederen Küchendecke noch widerhallte und die Luft mit süßem Duft erfüllte. Mit der Lüsternheit eines Kindes berauschte sich Käthe an diesen Worten, die so klein waren gegenüber ihrer Riesengestalt mit den breiten Schultern.
Während ihr Rock noch triefte vom schmutzigen Scheuerwasser, stand sie in der dunklen Küche da, wie betäubt vom süßen Klange dieser Worte.
Dieser ganze, durch die Rohheit der Männer ihr so verleidete Tag verlor sein düsteres Gewand, als diese Frau ihr zuflüsterte: „Mein Kind!“
Unbeschreibliche Wonne erfüllte ihr Herz und schmiedete ihre Riesengestalt in die unzerreißbaren Fesseln des Gehorsams.
In diesem kurzen Augenblicke verlor Käthe den eigenen Willen und wurde zur Maschine in den Händen ihrer Herrin. Diese Verwandlung glich der Unterwürfigkeit eines Haustieres, welches lieber die Hand leckt, die ihr Zucker reicht, als jene, die ihr mit dem Stocke droht.
Als Käthe ins Eßzimmer mit dem Samowar eintrat, bot sich ihr ein ungewöhnlicher Anblick.
Auf dem Rohrstuhle saß beim runden Tische der Hausherr vor einer Menge großer Bücher. Mit der mageren, totenfahlen Hand wendete er hastig die vergilbten Blätter um, die von oben bis unten bekritzelt und an den Rändern mit Zahlen bezeichnet waren.
Etwa ein Dutzend dieser Bücher war von gleicher Größe und rötlichem Einband mit abgestoßenen Ecken. Teils lagen sie auf der Erde, teils auf oder unter dem Tische. So groß waren ihre Vierecke, daß der Herr, wenn er etwas suchen wollte, sich vom Sessel erheben mußte, um die Blätter ganz übersehen zu können.
Am Fenster saß schweigend Frau Julia und wandte den Blick nach draußen, starr und regungslos, wie in tiefes Sinnen versunken.
Das nicht große, viereckige Eßzimmer mit einem Fenster nach dem Hofe heraus hatte kahle Wände, bemalt mit nußbraunen Rosen auf gelbem Grunde.
Ein uralter, kleiner Kredenztisch lehnte sich schüchtern an die Wand und bildete mit dem stark abgenutzten niedrigen Ledersofa und einigen wackeligen Rohrstühlen die ganze Zimmereinrichtung.
Durch die halb offene Tür sah man in das von einer erlöschenden Lampe matt erleuchtete Schlafzimmer. Dort standen zwei Betten von gleicher Größe mit dunklen Überzügen.
An das Schlafzimmer grenzte der kleine Salon, dessen Tür unmittelbar nach der sogenannten Haupttreppe führte. Ein Vorzimmer war also nicht vorhanden.
Bei Käthes Eintritt wandte sich der Herr nicht einmal ab von seinen Büchern, sondern sagte zu seiner Frau mit heiserer, krächzender Stimme, deren Klang dumpf von den Wänden widerhallte:
„Aha! Jetzt hab’ ich’s gefunden!… Gekauft im Iahre . . am 12. August, nachmittags 3 Uhr… Sieh her… da steht es… Ein Samowar mit Zubehör… Preis ein Gulden und achtzehn Kreuzer… Übergeben an Julia Budowska, geborene Weiß, meine Ehefrau, und an Grete P., unsere Magd… Komm her… Lies selbst… Und damals war er noch wie neu… Sieh, hier steht es, von deiner eigenen Hand geschrieben:
Na, was sagst du nun? He?“
Und mit vor Wut zitternder Stimme zeigte er auf die Unterschrift. Frau Julia aber erwiderte nichts, sondern starrte unbeweglich hinaus in die Nacht.
„Jetzt aber“, fuhr die krächzende Stimme des Mannes fort, indem er mit schmerzlichem Gesichtsausdruck auf den durch Käthe auf den Tisch gestellten Samowar zeigte. „Barmherziger Gott, wie sieht er jetzt aus! Sieh nur, ganz verbogen und zerdrückt!“
Unruhig blickte Käthe nach der noch immer wie im Traume versunkenen Frau. Hatte sie etwa den Brief vergessen? Weshalb näherte sie sich nicht dem Tische, um ihr das verabredete Zeichen zu geben?
Endlich wagte sie es, sie anzureden:
„Gnädige Frau, das Wasser kocht schon!“ sagte sie und hob den Deckel von dem Porzellankännchen, welches den zerbrochenen Hals zwischen den beiden Fayencetassen emporreckte.
„Dummkopf!“ zischte der Mann wütend. „Dies alles kommt mir zu. Ich schütte den Tee ein, denn das ist mein Tee. Sie hat damit gar nichts zu tun! Verstanden? Reiche mir also den Tee. Da oben auf dem Kredenztische steht er, in der Blechbüchse. Dort nimm auch das Drahtkörbchen heraus mit den Semmeln!“
Und nachdem er mit den Fingern ein winziges Prischen Tee der Büchse entnommen, verschloß er diese wieder sorgfältig und ließ sie wieder auf den Kredenztisch stellen. Dann erst schüttete er den Tee in das Kännchen.
Käthe hielt zwar jetzt ihre Anwesenheit im Zimmer für überflüssig. Was aber sollte sie anfangen mit dem Briefe? Beständig fühlte sie ihn auf der Brust; bei jeder Bewegung rieb er sich daran mit seiner glatten Oberfläche und erinnerte sie an ihr Versprechen.
Leise schlich sie zur Tür und blieb dort stehen, um die regungslose Gestalt ihrer Herrin zu beobachten. Dabei kam ihr doch der Gedanke, sie handle unrecht, wenn sie ihr zu solchem Betruge verhelfe.
Dieser Herr war zwar ein böser Mann, ein widerlicher Nörgler, ihr aber hatte er noch nichts Böses getan. Und selbst, wäre dies der Fall gewesen, so durfte sie dennoch nicht so gegen ihn auftreten.
Ungewiß und schwankend, wünschte sie lieber, sich streng neutral zu verhalten und preßte daher jenen unheimlichen Brief, der sie jetzt wie mit einer Zentnerlast belud, immer fester an die breite Brust.
Inzwischen erhob sich der Herr und legte die Bücher auf die Erde, um den Tee überzugießen.
Dies tat er ziemlich gewandt und suchte sodann mit den klappernden Fingern die allerkleinsten Stückchen Zucker heraus. Dann stellte die eine Tasse an das andere Ende des Tisches und bat die Gattin mit höflicher Handbewegung, an diesem bescheidenen Imbisse teilzunehmen.
„Bitte, meine Gnädigste! Ist auch dieses Mahl weit entfernt von jenen lukullischen im Hause Ihrer Frau Mama, so geruhen Sie doch, mit Ihrer Beteiligung mich zu beehren. Gern biet’ ich Ihnen, was ich bieten kann. Wie gut, daß dies wenigstens etwas ist, denn von Ihrer Seite habe ich, außer Grimassen und allerlei Gerümpel, leider gar nichts zu erwarten!“
Jene Teestunde war nämlich die gewohnte Tageszeit, in der die Ansprüche dieses Mannes in den Vordergrund traten, – hauptsächlich wegen der Enttäuschung, die er erlitten, weil er mit der Frau nicht die erhoffte Mitgift erhielt. Nur deshalb entzog er sie allen häuslichen Geschäften und nahm ihr alle Selbständigkeit, indem er ihr beständig ihre Armut vorwarf und sie mehr als Magd denn als Gattin behandelte.
Sie aber nahm ihre Rolle hin in Demut und Gehorsam. Im Hause, welches für sie keinen Reiz mehr hatte, schleppte sie sich von Winkel zu Winkel, vermochte aber nicht, die Leere jenes törichten, schlecht erzogenen Weibes auszufüllen, welches nicht Unterhaltung in sich selbst, in Büchern oder nützlichen Beschäftigungen findet.
Von Zeit zu Zeit besuchte sie ihre Mutter, eine gelähmte Greisin, die in ihrer bescheidenen Wohnung auf der Berlinerstraße dahinsiechte.
Meist ging sie allein dorthin. Denn ihr Gatte mochte sie in seinem Ärger gar nicht sehen, „diese alte Hexe, die ihn eingefangen“, wie er sie in seiner mürrischen Laune nannte. Daher ließ Frau Julia sich gewöhnlich nur von der Magd begleiten und kehrte nach einigen Stunden nur noch bleicher und abgespannter heim.
Budowski hielt seine Frau manchmal für eine Art von Vampyr, der ihn materiell zu Grunde richtete.
„Bitte sehr, meine Gnädige“, fuhr er fort und wandte sein Pergamentgesicht nach der noch immer am Fenster sitzenden Frau. „Vielleicht sehen Sie es besser bei der Lampe, was aus diesem schönen, neuen Samowar geworden ist!“
Jetzt erst erhob sich Julia und näherte sich scheinbar mechanisch dem Tische.
Soeben schlug es neun Uhr auf einem der benachbarten Türme. Durch das offene Fenster schallte der dumpfe Klang und verhallte an der niedrigen Decke. Käthe stand noch an der Tür und zählte die Schläge, als Julia sich an den Tisch setzte und ruhig ihren Tee mit den Bewegungen einer Wachsfigur trank.
Mit forschenden Blicken beobachtete sie der Gatte. Dieses ewige Schweigen und diese leichenähnliche Starrheit beunruhigten ihn unbeschreiblich. So verhielt sie sich fortwährend seit der Hochzeit, ohne Spur von Erregung in dem bleichen, runden Gesichte. Auch später, als er sie seelisch marterte, geriet sie niemals in Aufwallung.
Manchmal wandelte ihn schon die Lust an, sie zu schlagen, um sich zu überzeugen, ob sie sogar dann nicht in Zorn ausbreche.
So saß sie auch jetzt ruhig vor ihm und wandte ihm das wachsbleiche Antlitz mit dem gekräuselten Blondhaar zu.
„Und heute hast du wieder einmal allein verfügt ohne mein Wissen?“ fragte er, mit dem Löffel heftig an die Tasse klappernd. „Eine neue Magd nahmst du an, einen reinen Grenadier, und gabst ihr Mietsgeld? Vielleicht wieder solch’ einer Spitzbübin?“
Dieses Wort erklang so schrill wie das Klirren eines scharfen Messers auf glattem Porzellan.
Unwillkürlich griff sich Käthe an die Stirn. Eine Bewegung Julias unterbrach jedoch diesen peinlichen Eindruck. Mechanisch, scheinbar unbewußt, streckte sie die Hand aus und entnahm und zwar in aller Ruhe dem Drahtkörbchen eine Semmel.
Leis erbebte Käthe, blieb aber doch an der Tür stehen. Nur die Hände sanken ihr herab mit dem Ausdruck des Unbehagens, als stehe sie an einem Irr- oder Scheidewege.
Jetzt erst erhob Julia zu ihr die großen, fast farblosen Augen, als bemerke sie nunmehr erst die Magd und wundere sich über deren Anwesenheit.
„Geh hinaus, mein Kind!“ sagte sie noch sanfter als vorher in der Küche.
Das war ein Befehl und zugleich eine heiße Bitte um Ausführung des beschlossenen Planes.
Gegenüber solcher Stimme fühlte Käthe sich ohnmächtig. Ohne es zu ahnen, hatte Julia sie mit ihrer Sanftmut förmlich hypnotisiert.
Mit völliger Entsagung verließ Käthe das Zimmer, um den Brief unter der Jacke hervorzuziehen.
Dann schlug sie fromm ein Kreuz vor den Heiligenbildern und dem Tragöden, seufzte tief auf und trat wieder ein.
„Bitte, gnädiger Herr, ein Brief…“, sagte sie mit leiser, gedämpfter Stimme.
„Was für ein Brief? Von wem denn?“ fragte jener, griff hastig nach dem Papier und riß den Umschlag ab.
Julia schwieg nach wie vor, aß ihre Semmel und starrte vor sich hin.
Glücklich, daß sie der für sie so peinlichen Frage: „Wer brachte ihn!“ entging, eilte Käthe zurück zur Tür.
„Halt!“ rief Budowski. „Du wirst noch gebraucht. Da hast du ihn“, wandte er sich an seine Frau. „Er ist von deiner Mutter. Ich kann dieses Gekritzel nicht lesen. Was will sie denn schon wieder, diese alte ? ?“
Die letzten Worte sprach er mit unverhehltem Abscheu. Langsam nahm Julia den Brief entgegen, um ihn zu lesen. Ihr Gatte saß noch auf seinem Lehnstuhl, ärgerlich über dieses dumme Geschreibsel einer Frau, die, nach seiner Meinung, auf ihrem Gelde hockte und nicht einmal für die Tochter etwas hergeben wollte.
Und nur in der festen Überzeugung, daß Julias Mutter große Reichtümer besitze, erlaubte er seiner Frau, sie zu besuchen. Endlich einmal, so meinte er, werde sie doch gerührt werden und die Tochter für ihre Anhänglichkeit belohnen, ihn selbst aber für die Enttäuschung entschädigen betreffs der Mitgift, auf die er gerechnet, als er jene zum Altar führte.
Aber selbst die Hoffnung, einmal irgend etwas von ihr zu erhalten, besänftigte nicht seinen Zorn beim Anblicke dieser plumpen Buchstaben, welche die arme Alte mit zitternder, halbgelähmter Hand gekritzelt, und zwar immer nur, um die Tochter um deren Besuch zu bitten.
„Wer hat den Brief gebracht?“ fragte er urplötzlich.
Käthe aber schwieg. Viel tat sie schon ihrer Herrin zu Liebe; zu schwer aber fiel es ihr, die eigene Stimme eine Lüge aussprechen zu hören in dieser Stille.
Flehentlich wandte sie daher den Blick nach Julia, die nur mit Mühe die zitternde, undeutliche Schrift zu entziffern schien.
Plötzlich kam ihr der Zufall zu Hilfe: Der Samowar, dem das Wasser ausging, zischte eine förmliche Melodie und schien sich über das Feuer zu beklagen, welches seinen Blechkörper zu schmelzen drohte.
„Barmherziger Gott! Hol schnell den Stöpsel, sonst schmilzt die Lötung!“
Sofort eilte Käthe in die Küche und brachte das Gewünschte herein.
Inzwischen hatte Julia den Brief durchgelesen und ihn neben ihre Tasse gelegt. Mit unerschütterlicher Ruhe trank sie ihren schon kalt gewordenen Tee aus und starrte wieder vor sich hin.
„Du!“ rief ihr Gatte Käthe zu. „Zieh’ dich schnell an und begleite die gnädige Frau!“
Seine Stimme war inzwischen kräftiger und lauter geworden. Obgleich er seiner Frau kein Wort sagte, wußte sie jetzt, daß sie zu ihrer Mutter gehen dürfe.
Ohne sich zu beeilen, erhob sie sich und schritt langsam, als wolle sie sich zu einem Spaziergang ankleiden, nach dem Schlafzimmer.
Zuvor hatte sie jedoch den Brief vom Tische genommen. Im Schlafzimmer verbarg sie ihn hastig in einer kleinen Pillenschachtel und legte diese in die Kommode unter das Weißzeug.
Dann erst zog sie sich an. Wenig besorgt um ihr Äußeres, tat sie das im Dunkeln und war schnell damit fertig. Ohne Handschuhe, in Pantoffeln, unfrisiert, im langen dunklen Radmantel, huschte sie schnell durch das Eßzimmer, ohne ihren Mann zu beachten, der noch immer über seinen Rechnungsbüchern hockte.
„Komm nur bald wieder!“ rief er ihr nach. „Wenn sie schon tot ist, hast du nichts mehr dort zu schaffen! Schließ nur alles fest zu und nimm den Schlüssel mit dir!“
Beide Frauen atmeten auf, als sie sich auf der Straße befanden.
Eben schlug es halb zehn Uhr in der Stadt. Wegen des Feiertages war es heut stiller und menschenleerer auf den Straßen. Ein erleuchteter Tramwagen rollte klingelnd vorüber, aber unbesetzt. Nur der Schaffner im hellen Anzuge machte sein Schläfchen. Leere Droschken fuhren von der Bahn zurück mit lautem Gerumpel auf dem holperigen Pflaster. In den Fenstern der Häuser schimmerte nur noch mattes Licht hinter den Vorhängen. Nur hie und da noch brannten helle Schabbeslichter.
Hastig eilte Frau Julia der Stadt zu und gebot Käthe mit einer Handbewegung, mit ihr Schritt zu halten. Schwer atmend sprach sie kein Wort. Offenbar hatte sie große Eile.
Als Käthe bei Laternenschein ihr ins Gesicht sah, wunderte sie sich unwillkürlich über dessen Veränderung. Fortwährend zog die junge Frau die Brauen zusammen und ließ den Blick, wie spähend, die Straße hinabschweifen.
Gewiß war sie so unruhig, weil die Mutter so schwer krank darniederlag…
Käthe war darüber tief gerührt. Hatte sie doch auch einst eine Mutter und liebte sie so sehr. Gar manchmal, wenn diese krank war, lief Käthe unruhig zu ihr aus der Fabrik, zitternd vor einer Verschlimmerung. Ach! Und jener traurige Abend, als sie die Mutter tot im Bette fand…
Mein Gott! Wie weh tat ihr damals das Herz. Welch heiße Tränen weinte sie beim Anblick ihres kalten, toten Mütterchens!
Fände diese gute Frau die Mutter auch tot im Bette, das wäre schrecklich!…
Plötzlich eilte Julia quer über die Straße. Bei der Kirche hielt eine geschlossene Droschke und vor dieser schritt ein Mann von stattlicher Gestalt auf und ab. Seine brennende Zigarre erhellte manchmal sein regelmäßiges Gesicht, bis es wieder verschwand im Schatten, wie eine phantastische Erscheinung.
Auf dem Bocke schlief der Kutscher und wartete mit philosophischem Gleichmute auf den Befehl, wohin er fahren solle. Der magere Gaul überließ sich mit gesenktem Kopf und krummen Knieen seinem Schicksale. Der häßliche, schwarze, verdeckte Wagen glich dem vor der Kirchentür stehenden Leichenwagen eines Armen.
Julia eilte auf den Mann zu, der sie am Wagenschlag erwartete, ihr dann die Hand reichte und die Zigarre fortwarf, um sie mit dem Fuße auszutreten.
Ermattet vom schnellen Lauf und wie betäubt von der Nachtluft, lehnte sie sich ein Weilchen an das Kutschenleder.
„Ich warte schon eine halbe Stunde“, flüsterte er mit leisem Vorwurf in der Stimme.
„Du weißt ja, wie schwer es hält… Ich konnte nicht eher fort“, erwiderte sie, schwer aufatmend. Jetzt erst erinnerte sie sich Käthes, die im Schatten stand und nach der vom gelblichen Lichtschein der Droschkenlaterne matt erhellten Herrin blickte.
Schnell sie herbeirufend, befahl sie ihr: „Geh nicht gleich nach Haus und erst nach einer halben Stunde in die Küche. Wenn der Herr dich fragt, wohin du mich begleitest, so sagst du: nach der Berlinerstraße. Dann leg dich schlafen und laß die Tür offen. Schieb den Riegel zurück, wenn der Herr schläft! Verstanden?“
Käthe schwieg, als sie sah, wie sie unbewußt in ein immer schlimmeres Labyrinth von Lügen geriet, die sich aneinander reihten, wie Perlen an der Schnur.
„Tu ja alles, worum ich dich bat“, fügte Julia hinzu, als sie schon neben dem Manne in der Droschke saß. Dabei strich sie Käthe die Backen, vorüber diese unwillkürlich lächeln mußte.
„Heda!“ rief sie dann dem schlaftrunkenen Kutscher zu. „Fahrt uns durch den Schlagbaum zum Tore hinaus!“
Und langsam den schwarzen Kasten hin und her wiegend, setzte sich die Droschke in Bewegung und rollte über das holprige Pflaster…
Gepreßten Herzens und wie betäubt begab sich Käthe auf den Heimweg. Die Herrin fuhr durch den Schlagbaum zum Tore hinaus und die Mutter wohnte doch offenbar, wie sie dem Herrn sagen sollte, in der Berlinerstraße. Wozu fuhr sie davon im geschlossenen Wagen mit jenem Mann, der so ärgerlich darüber war, daß er „schon eine halbe Stunde gewartet“? Sie nannte ihn du und ihr Gesicht verklärte sich vor Glück, als er ihre Hand berührte…
Ihr Bruder konnte es doch nicht sein, sonst wäre er zu ihr ins Haus gekommen und nicht bei Nacht und Nebel mit ihr zum Tore hinausgefahren. Also konnte er nur ihr Geliebter sein! Käthe wurde es trotz der kühlen Nacht siedend heiß in allen Gliedern.
Ganz allein miteinander fuhren sie, wer weiß wie weit davon in dem verdeckten Wagen durch die dunklen Gäßchen der Vorstadt. Mit seltsamer Ausdauer mußte Käthe immer wieder daran denken. Und sie hatte der Herrin zu diesem Stelldichein verholfen und sie dorthin begleitet, bis an den Wagenschlag. Das war schlimm, sehr schlimm! Das ist eine schwere Sünde, wenn eine Ehefrau einen Geliebten hat! Und ein Teil der Schuld fiel auf sie, das wußte sie nur zu gut!
Traurig und schweren Herzens wankte sie durch die Straßen, sodaß sie wiederholt an Vorübergehende anstieß.
Und was wurde aus der alten Mutter, der armen Kranken? Mein Gott! Ihr war es, als höre sie im Rasseln der dahinrollenden Droschke das Ächzen der von der schlaflosen Nacht zermarterten Gelähmten.
Wüßte sie deren Wohnung, eilte sie dorthin, um nachzusehen, ob sie ihr nicht etwas nutzen könne. So aber wußte sie nur, sie wohne in der Berlinerstraße.
Allmählich bis zur Haustür der Herrschaft gelangt, überlegte Käthe einen Augenblick, was sie tun solle.
Da die Herrin ihr befahl, erst nach einer halben Stunde heimzukehren, wollte sie vor der Tür noch so lange warten und dann sich in die Küche schleichen, um etwaigen Fragen seitens des Herrn auszuweichen. Vielleicht würde ihr dies gelingen…
Daher lehnte sie sich an die Wand hinter der Haustür. Plötzlich erhob sich jemand aus der Ecke ihr gegenüber und näherte sich ihr. Beim Scheine der Straßenlaterne erkannte sie Johann und flammendes Rot übergoß ihre Wangen. Was mußte er von ihr denken, wenn er sie abends so vor der Tür stehen sah. Welches Licht warf es auf sie, wenn sie gleich am ersten Abende nach Antritt ihres neuen Dienstes so müßig ging.
Fast grollte sie der Herrin, die sie so dem Verluste der guten Meinung in Johanns Augen aussetzte. Gewiß hielt Johann sie für leichtfertig und darin hatte er ganz recht. Sich entschuldigen oder ihn aufklären durfte sie aber nicht, ohne das Vertrauen der Herrin zu täuschen und sie den größten „Unannehmlichkeiten“ auszusetzen.
Schweigend mußte sie daher das zweideutige Lächeln hinnehmen, mit dem Johann sich ihr näherte.
„So allein, Fräulein? Warten Sie vielleicht auf – ihn?“ fragte er, kokett seinen abgetragenen Kittel glattzupfend.
Die Schürze hatte er schon abgenommen und beim Laternenschein glänzte sein sauber gewaschenes Gesicht und sein pomadisiertes Haar.
Er liebte Hut oder Mütze nicht und zog es vor, seinen Schädel in der Abendluft zu kühlen. Dann dünsteten ihm, wie er sagte, die Gedanken besser aus, und morgen hatte er den Kopf frei.
„Mein Kopf ist nicht von Stroh!“ fügte er hinzu und klopfte mit dem Finger an die Stirn. „Nur deshalb sitz ich – wenigstens heute – so allein vor der Tür“, flüsterte er bedeutsam mit dem Lächeln eines Mannes, der Glück bei den Weibern hat.
Dabei wünschte er, Käthe solle ihn als Eroberer weiblicher Herzen anerkennen, damit er auch sie um so leichter moralisch erobern könne.
Sie aber wich scheu zurück, ganz betroffen von der unerwünschten Begegnung und im Gefühle der peinlichen Lage, in der sie sich ihm gegenüber befand.
„Fräulein, Sie sind wohl verliebt?“ fragte er plötzlich, indem er sich breit vor sie hinstellte.
„Ich? Ach, damit hat es keine Not“, erwiderte sie, laut auflachend, trotz ihres Kummers.
In wen sollte sie verliebt sein? Erst mußte sie doch einen Mann näher kennen lernen, eh’ er ihr in den Sinn kam. Übrigens hatte sie dazu gar keine Zeit. Von Kindheit an mußte sie schwer arbeiten und nach dem Tode der Mutter noch zwei kleine Schwestern beaufsichtigen. Zu solch’ einer Liebschaft gehörte viel freie Zeit, wenigstens Sonntags, und bei der Arbeit denkt man nicht an solche Dummheiten.
Johann glaubte ihr jedoch nicht und schüttelte lachend den Kopf. Wie? Solch’ ein strammes Mädchen sollte noch keinen Schatz haben, keinen schmucken Korporal oder Ulanen? Dies erschien ihm rein unmöglich! In seinen Kreisen kam so etwas gar nicht vor.
Führte sich Käthe wirklich so gut, so wäre dies eine seltene Ausnahme. Auf dem Schützenplatze wurde einst in einer Leinwandbude ein Naturwunder gezeigt: ein Kalb mit drei Beinen. Dies Mädchen verdiente, so meinte Johann, in gleicher Weise für Geld gezeigt zu werden. Ha! Wer weiß, vielleicht…
Trotzdem überwog bei ihm der Unglaube und mit ironischen Lächeln wiederholte er den schalen Witz, den er einst in einer feinen Bierstube gehört und zu gelegentlicher Anwendung sich gemerkt hatte: „Wissen Sie nicht, Fräulein, daß das Narrenschiff untergegangen ist mit Mann und Maus?“
Dabei sah er ihr keck in das Gesicht, um zu erforschen, welchen Eindruck dieser Witz auf sie mache. Sie aber blieb unempfindlich, aus dem einfachen Grunde, weil sie ihn nicht verstand. Instinktiv nur fühlte sie, daß er ihr nicht glaube, und dies berührte sie höchst schmerzlich.
Als ordentliches Mädchen war sie stets besorgt um ihre Ehre, und Johanns gute Meinung von ihr ging ihr über alles. Zwar kannte sie ihn erst seit heute, wünschte aber doch, er sehe sie nicht für die Erste Beste an.
„Herr Johann, Sie woll’n mich wohl zum besten halten?“ fragte sie gemessen, indem sie nach den Baumwipfeln hinter der Klostermauer blickte. „Aber spotten S’ nur, soviel Sie woll’n: was wahr is’, bleibt wahr. An solche Dummheiten dacht’ ich noch gar nich’, weil ich keine Zeit dazu hatte, und dann – “
Hier brach sie ab, um sich nicht vor ihm zu verraten mit ihrem süßesten Traume. Innig wünschte sie einmal zu heiraten und zwar einen braven Handwerker.
Ein sauberes, helles Stübchen, ein ehrlicher Name, ungetrübte Sonntagsruhe und die beseligende Gewißheit, einen guten Mann und ein eigenes Heim zu besitzen, das war ihr süßester Traum.
Da sie jedoch nicht wollte, daß Johann dies erfahre, brach sie mitten im Satze ab. Gleichwohl schien er ihr Geheimnis zu erraten. Denn er fragte mit tiefer Verbeugung und schelmischem Augenblinzeln: „Aha! Heiraten wollen Sie, Fräulein? O ja! Das ist ja eine Seltenheit! Das lohnt sich ja gar nicht!“
„Weshalb denn nich’?“ entgegnete sie und blickte ihm erhobenen Hauptes in das spöttische Gesicht. „Besser is es doch, sein eigenes Heim zu haben, als all sein Leben lang für andre sich abzuplagen!“
„Müssen Sie dies etwa nicht auch für den Herrn Gemahl?“ rief er, mit der Hand fuchtelnd. „Solch’ ein Mann will immer, daß sein Weib für ihn arbeite. Das ist einmal seine Bedingung! Und nehmen Sie gar einen ohne den Segen der Kirche, dann ist’s vollends aus. Dann nimmt er sie einfach beim Schopfe und Sie dürfen gar nicht mucksen!“
„Es gibt aber doch so viele Verheiratete in der Welt!“ erwiderte Käthe und blickte ihm wieder in die im Laternenschein seltsam funkelnden Augen.
„Sollen etwa, weil eine so dumm ist, es alle übrigen sein?“ rief er fast zornig. „Wozu soll man sich ewig binden? Ist es nicht besser, man lebt so zusammen? Dann kann man sich frei geben, wenn man will und braucht sich nicht herumzustreiten sein Leben lang!“
Noch scheuer wich Käthe vor ihm zurück und fragte: „Wie kann ein anständiges Mädchen sich auf sowas einlassen? Halten S’ mich noch immer zum Narren, Herr Johann?“
Mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er sie an. Jetzt erschien sie ihm geradezu lächerlich. So stolz war er auf seine angeblich „fortschrittlichen“ Ideen, die er in Kneipen oder von Studenten als deren Stiefelputzer aufgeschnappt, daß er sie überall als seine feste Überzeugung verbreitete, und daß er jeden niederschmetterte, der ihm widersprach.
Daher hielt er es auch nicht für angemessen, die begonnene Unterhaltung fortzusetzen. Augenscheinlich hatte er sich in ihr geirrt. Das war keine für ihn, eine, die sich verheiraten will und dabei die Fromme spielen!
Heiraten wird er sie gewiß niemals!… Und mit größter Geringschätzung pfiff er den Gassenhauer „Mein Herz ist wie ein Taubenschlag“ und gab damit zu verstehen, daß für ihn dies ganze Zwiegespräch beendet sei.
Käthe stand ein Weilchen da und fühlte sich tief beschämt und gedrückt. Weshalb brach er die Unterhaltung so plötzlich ab und verzog den Mund so sonderbar, als er sie ansah? Hatte sie doch nichts gesagt, was ihn verletzen konnte, sondern im Gegenteil die Worte so gewählt, daß sie ihm nicht als gar zu beschränkt und gewöhnlich vorkommen sollte…
Eben schlug es zehn Uhr auf dem Rathausturme. Wie schwere Seufzer fielen die dumpfen Schläge auf die Dächer der schlummernden Häuser. Immer weniger Leute gingen vorüber. Desto mehr Droschken aber rollten zum Bahnhofe. Immer wieder erschienen an der Straßenecke helle Punkte, wie riesige funkelnde Tieraugen, bald größer, bald kleiner, je nach der Bewegung der Droschke.
Aufmerksam verfolgte Käthe diese Lichterchen, in der Hoffnung, endlich werde vor der Tür eine dieser Droschken halten und die Herrin dort aussteigen, um mit ihr zugleich hinaufzugehen.
Dies wäre für sie ein großer Trost gewesen, weil sie allen Fragen des Herrn auszuweichen wünschte, die sie nicht anders, als mit – Lügen beantworten konnte.
Alle Droschken aber rollten vorüber, als verfolgten sie sich im Dunkel, bis sie endlich darin verschwanden. Bald darauf tönte es abermals in der Luft. Die immer falsch gehende Uhr der Paulinerkirche schien in verspätetem Echo die vorhin vom Rathausturm verkündete Stunde zu wiederholen.
Endlich begann Johann sich zu rühren. Die Zeit zum Türschließen war gekommen, und er liebte bei diesem Geschäfte die Pünktlichkeit. Daher hielt er es für angemessen, die noch immer regungslos dastehende Käthe zu fragen, wie lange sie hier noch stehen wolle.
„Fräulein, wenn Sie noch jemand erwarten“, sagte er anzüglich, „so müssen Sie draußen bleiben, denn jetzt muß ich die Haustür zuschließen. Wenn der „Bräutigam“ kommt und Sie genug mit ihm geplaudert haben, so klingeln Sie nur und bezahlen mir, was mir zukommt.“
Wohl wußte er, daß er sie damit kränke, doch tat er dies absichtlich. Ihrer Antwort harrend, erwartete er, sie werde ihn im Zorn mit einer Flut von Schmähworten überschütten oder ihn wenigstens ordentlich abführen.
Käthe aber verließ in aller Ruhe den dunklen Türpfosten und verschwand, ohne auch nur mit dem Kopfe zu nicken, im Hausflur.
Auf der Treppe blieb sie ein Weilchen stehen und lehnte sich an das Geländer.
„Am besten tu’ ich, wenn ich gar nicht mehr mit ihm spreche“, dachte sie, ohne sich selbst den Unwillen zu gestehen, den Johanns Worte in ihr erregten.
An der Haustür hieß er sie warten auf den „Bräutigam“ – ! Gewiß, darin hatte er vollkommen recht: Welches ordentliche Mädchen steht vor der Tür zu so später Stunde? War dies aber ihre Schuld? Wäre nicht die Herrin gewesen, sie säße jetzt in der Küche beim Abwaschen. Er aber mußte sie auslachen, da er sie noch so wenig kannte.
Noch auf der Treppe beschloß sie daher, jede weitere Unterhaltung mit ihm zu vermeiden. Redete er sie zuerst an, so würde sie ihm mit Kopfschütteln antworten.
Gleich am ersten Tage wurde er ihr zu vertraulich, und dies liebte sie nicht.
Beim Eintritt in die Küche traf Käthe dort den Hausherrn, der mit einem Zettel in der Hand auf einem Küchenstuhle saß, bei ihrem Anblicke aufsprang, sich aber sofort wieder niederließ.
Mattes Lampenlicht fiel auf seine glänzende Glatze.
„Bist du endlich wieder da?“ zischte er ärgerlich. „Schon dacht’ ich, du seiest ins Wasser gefallen oder der Polizei in die Hände! Weißt du schon, was wir morgen zu Mittag essen sollen? Kannst du denn überhaupt kochen? Gewiß gibst du nur unnütz Geld aus und verdirbst alles! Barmherziger Gott, was soll das werden!…“
Unter schweren Seufzern gab er ihr endlich den Küchenzettel und rechnete ihr vor, wie viel Pfund Fleisch und Mehl und sogar wieviel Petersilienblätter sie dazu brauche.
Dies alles sprach er hastig, zischend und öfters aufhustend.
Fast betroffen stand Käthe vor ihm, durch Gedächtniskraft zeichnete sie sich niemals aus. Daher fiel es ihr schwer, all diese Kleinigkeiten zu merken, die er ihr herzählte.
Dieser über alle Töpfe und Kasserollen gebietende Herr war ihr eine völlig neue, fast niederschmetternde Erscheinung. Bisher hatte sie nur Befehle aus dem Munde einer Frau vernommen.
In den ihr bekannten Ehen spielte der Herr mehr die Rolle eines Gastes im Hause, für dessen Wäsche, Nahrung und Bequemlichkeiten zu sorgen war.
In ihren Augen war daher der Herr ein höheres Wesen, die Achse, um die sich alle die kleinlichen Wirtschaftsgeschäfte drehten.
Betrat sie zum Beispiel das Zimmer, in dem sich ihr früherer Herr gewöhnlich aufhielt, so empfand sie eine seltsame Angst und seine Blicke brannten auf ihr wie glühendes Eisen.[WS 5] Für sie war der Herr eine Art von Donnergott, der sie zu Staub zermalmen, der Polizei überliefern und sogar töten konnte.
Der Herrin gegenüber war sie weit unbefangener; sie erschien ihr als eine den Launen des Herrn unterworfene Sklavin, wie sie selbst es war, nur besser gekleidet und nicht monatlich bezahlt.
Daher vernachlässigte Käthe sie oft um des Herrn willen und ließ sie auf zerbrochenen Tellern und mit schlechtgeputzten Gabeln essen.
So war es bisher gewesen, ganz anders aber bei der neuen Herrschaft.
Käthe hätte sich weniger gewundert über eine plötzlich beim Wasserholen von ihr wahrgenommene Veränderung im Sonnensystem, als über diesen ausgetrockneten Mann, der im schäbigen Schlafrock mitten in der Küche saß und mit schnarrender Stimme herzählte: „Ein halb Pfund Mehl… Für fünf Pfennige Gries.“
Diese Worte erfüllten den Küchenraum mit dem Geruche nach armen Leuten, nach Pfennigfuchserei und nach angebranntem Fett in zerbrochenen Tiegeln und Pfannen.
Mit der Peinlichkeit eines Beamten zählte Budowski alle Zutaten auf für morgen zum Mittagessen und bestimmte gleichzeitig den Betrag für den kleinsten Einkauf.
Dieser Hagel von Ziffern und Zahlen fiel fast erdrückend auf Käthes armen Kopf herab und schwächte bei ihr die hohe Vorstellung von dem „Herrn“, die sie bisher tief in der Seele gehegt.
Von jetzt ab, das fühlte sie, mußte sie über all ihr Thun diesem Manne Rechenschaft geben, der in sich die Wirtschaftlichkeit der Hausfrau mit der Macht des Hausherrn vereinte.
Daher stand sie zwar in ehrerbietiger Haltung, aber höchst erstaunt, fast verdutzt, da und starrte auf den Lichtschein, der auf den glänzenden Schädel des vor ihr sitzenden Mannes fiel. Dieser Lichtschein beunruhigte und zerstreute sie umsomehr, als er so grell abstach von der schmutzigen Wand, bald größer, bald kleiner, je nach den Bewegungen des Mannes.
Plötzlich erhob sich Budowski und schritt nach dem Eßzimmer.
„Komm, unterschreib’ das Inventar“, sagte er in feierlichem Tone, indem er Käthe an den Tisch führte, auf dem bei hellem Lampenlichte ein schwarzes Buch lag. „Unterschreibe, was du übernommen und in welchem Zustande es ist. Um Gotteswillen aber zerbrich und beschädige mir nichts!“
Und mit dem Starrsinn eines Verrückten las er ihr alle die Geräte vor, die sich in der Küche befinden sollten: Töpfe und Tiegel, Kasserolle und Pfannen, Krüge und Kannen, Siebe und Durchschläge, dies alles floß von seinen Lippen, als brüste er sich förmlich mit dem Überfluß rings um sich her. Indem er jede Kleinigkeit angab, überschätzte er deren Wert und erhob sie fast zu einem Kleinode.
Der wirre Sinn des Alten drehte sich beständig im engen Kreise jener drei Stuben nebst Küche herum und die Überanstrengung seiner geistigen Kräfte über die einförmige Bureauarbeit hinaus machte ihn zu einem von der Manie des Geizes heimgesuchten Sonderlinge. In jedem Hausgenossen sah er eine Art von Vampyr, der sein Blut und seine Taschen aussauge und sein in jahrelanger Müh’ und Arbeit erworbenes Eigentum vernichte.
Nachdem er ihr das ganze Verzeichnis vorgelesen, rief er Käthe an den Tisch, reichte ihr Feder und Tinte und zeigte ihr die Stelle unten auf der Seite, wo sie ihren Namen unterschreiben solle.
Beschämt, ohne sich zu rühren, stand sie vor ihm. Schreiben sollte sie? Mein Gott, das hatte sie nicht gelernt, kaum lesen konnte sie. Ihr Mütterchen ließ sie nichts weiter lernen. So lang sie klein war, kümmerte sich niemand um sie, außer, daß man ihr siebenmal täglich zu essen gab. Und als sie heranwuchs, herrschte Not in der Hütte und Käthe mußte in die Fabrik auf Arbeit gehen. Dies alles aber konnte sie doch unmöglich dem Herrn sagen.
Daher drehte sie hartnäckig die Finger, bis die Gelenke knackten, so beschämt war sie und so verlegen. Am liebsten wäre sie samt dem Tische und dem Unglücksbuche in den tiefsten Keller gesunken, um nichts mehr zu sehen von der Gotteswelt.
Budowski wurde schon ungeduldig. Warum unterschrieb sie nicht? Fiel es ihr vielleicht zu schwer, die Verantwortlichkeit für so viele schöne Sachen zu übernehmen? Dann mag sie sich schleunigst einen anderen Dienst suchen! Das Mietsgeld aber muß sie herausrücken und eine andere Magd besorgen.
Käthe ward es stockdunkel vor den Augen. Wieder ohne Stelle? Zurück in Rosas Stübchen? Nimmermehr! Diese Gefahr gab ihr Mut.
„Gnädiger Herr!“ begann sie mit leiser Stimme. „Ich… ich… kann nicht schreiben… deshalb…“
„Dummkopf!“ unterbrach er sie. „So mach’ wenigstens drei Kreuze darunter, das genügt!“
Mit zitternder Hand ergriff sie die Feder und machte einen krummen Strich und darunter einen riesigen Klex. Der zweite (Quer)strich aber durchschnitt das Papier und hinterließ auf dem weißen Blatt einen ungleichen Schlitz.
„Barmherziger Gott! Dies Rindvieh verdirbt mir das ganze Buch. Wie wirst du erst mit dem dir anvertrauten Küchengerät umgehen, wenn du solche Lumperei nicht einmal ordentlich machen kannst!“
Käthes Verwirrung fand keine Grenzen. Mit ihrem Bauernverstand erriet sie jedoch den Mangel an Logik in seiner Beschimpfung. Für die Küche war sie gemietet, nicht zum Schreiben. Wenn sie den Löffel im Kochtopfe rührt, wird sie diesen nicht zerbrechen. Mit dem Papier ist es etwas anderes.
Gleichwohl erwiderte sie nichts, denn er war immerhin ihr „Herr“, wenn er ihr auch etwas verschroben erschien. Daher ging sie still in das Schlafzimmer, um die Betten zurecht zu machen.
Dabei dachte sie bei sich: Wenn der junge Mann, der auf ihre Herrin wartete, deren Geliebter war, weshalb plauderten sie nicht lieber vor der Tür oder gingen nach dem Schloßgarten… War doch die Nacht so wundervoll!… Übrigens mag die Herrin tun was sie will, Käthe hatte damit nichts zu schaffen.
Das eine wußte sie jedoch, daß jene eine Sünde tat. Denn mochte der Herr noch so widerlich und häßlich sein, so ziemte es sich doch nicht, ihn so schändlich zu hintergehen. Geht die Herrin zur Beichte, so wird ihr der Priester keine Absolution geben. Käthe würde lieber sterben, wenn er ihr dies versagte.
Obgleich sie das brennende Lämpchen vor das Bett des Herrn stellte, verblieb das Schlafzimmer im Halbdunkel und nur die matten Umrisse der beiden Betten mit den rotwollenen Decken traten deutlicher hervor.
Darüber hingen zwei Heiligenbilder in vergoldeten Rahmen – die Mutter Gottes und der Heiland mit der Dornenkrone.
Budowski saß auf seinem Bette und starrte auf die kaum noch sichtbaren Felder der gewürfelten Bettdecke, während Käthe die Fenstervorhänge zuzog und auf das Nachttischchen vor dem Bette der Herrin eine Wasserflasche stellte.
Eine wahre Karikatur bildeten diese beiden durch die unzerreißbaren Fesseln der Ehe zusammengeschmiedeten Leute. Während er die Felder seiner Bettdecke zählte, lauschte sie vom Rollen der Droschke gedämpften Liebesworten!…
In die Küche zurückgekehrt, um die Tassen abzuwaschen und den Samowar zu putzen, fühlte Käthe jetzt erst, daß sie – hungrig war. Hastig aß sie daher die für sie bestimmte Semmel und trank den schon ziemlich abgekühlten Tee. Ihr riesiger Körper verlangte nach festerer Nahrung, da die Arbeit des Tages ihren Appetit mächtig anregte. Gleichwohl mußte sie sich mit der ihr vom Herrn zuerteilten schmalen Kost genügen lassen.
Das zu Einkäufen in der Stadt bestimmte Geld blinkte auf dem Küchentische in Gestalt zweier blanker Zwanziger. Sorgfältig wickelte sie es in ein Läppchen und legte es beiseite.
Obgleich ihr die Augen fast zufielen, wollte sie vor der Heimkehr der Herrin nicht einschlafen. Übrigens sollte sie ja die Tür wieder öffnen, die der Herr eigenhändig verschlossen hatte. Nachdem sie dies besorgt, begann sie ihr Abendgebet zu sprechen.
Vor ihrem Bette niederknieend, legte sie die abgearbeiteten Hände auf das Bettlaken. Grundsätzlich[WS 6] sprach sie allabendlich sieben Vaterunser, sieben Ave und ein Credo. Die Abspannung nach all den frischen Eindrücken trübte aber dermaßen ihren Sinn, daß sie sich kaum noch wach erhalten konnte.
„Vater unser“, begann sie, aber eine Flut von anderen Gedanken verwirrte ihren Sinn.
Unwillkürlich nahm dabei die Gestalt Johanns mit seinen weißen Zähnen und seiner blühenden Gesichtsfarbe den ersten Platz ein.
„Der du bist im Himmel…“
Johann ist entschieden ein schmucker Bursch und hat auch so breite Schultern. Warum verhöhnte er sie nur so unbarmherzig und sah sie dabei so seltsam an?
„Geheiligt werde dein Name…“
O! Auf der Treppe, als sie sich dort im Dunkeln trafen, wußte sie sich schon zu helfen; vor der Tür aber lachte er sie geradezu aus.
„Zu uns komme dein Reich!…“
Auslachen aber läßt sie sich nicht gern. Daß sie dumm und häßlich ist, weiß sie allein… Was kann sie aber dafür?… War es recht von ihm, sie so auszulachen, weil sie gern heiraten möchte?… Was ist dabei?… Soll sie etwa so wie Rosa verkommen bei einem verheirateten Mann?…
Immer matter fühlte sie sich und blickte mit tiefem Seufzer und Aufbietung der letzten Kräfte empor zu den Heiligenbildern.
„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden…“ Weiter kam sie nicht.
Dieser nichtswürdige Johann trat ihr immer wieder vor Augen und lachte sie aus. Und doch hatte er ganz das Äußere eines ordentlichen Menschen…
Übrigens, wenn sie ihn gar nicht mehr beachtete, wird er sie auch in Ruhe lassen…
„Unser täglich Brot gib uns heute…“
Jetzt empfand sie einen Druck im Magen, als müsse sie unbedingt etwas essen. Immer mehr aber übermannte sie auch die Müdigkeit.
Zum letzten Male sich aufraffend, starrte sie auf ihre riesigen Hände und hatte ganz den Eindruck, als hätten sie kein Gefühl und gehörten nicht mehr zu ihr. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, rührte sie hastig die Finger…
Allmählich erlosch das an der Wand hängende Lämpchen und erfüllte den Küchenraum mit unerträglichem Qualm. Eine dunkle Rauchsäule erhob sich bis an die Decke und schwarzer Ruß regnete herab auf das Küchengerät.
Durch das Gitterfensterchen schallte gedämpft der Straßenlärm herauf, jenes letzte Aufatmen der selbst im Entschlafen noch unruhigen Stadt, die niemals ganz verstummen möchte.
In Käthes ganzer Gestalt prägte sich Übermüdung aus. Offenbar war sie vom heutigen Tage vollständig erschöpft, und trockene Semmel und kalter Tee vermochten nicht, sie zu kräftigen.
Gegen Mitternacht knarrte leise die Tür und durch den kleinen Salon schlich die Hausfrau im Dunkeln nach der Schlafstubentür.
Als das matte Lampenlicht ihr Antlitz traf, hätte jeder, der da wußte, woher sie kam, gewiß sich nicht wenig gewundert, wenn er die vollkommene Ruhe in den grauen Augen und auf den blutleeren Lippen gesehen hätte.
So kaltblütig kehrte die Treulose unter das Dach des Gatten zurück und unterschied sich in nichts von der gleichgültigen Frau, die tagelang den fleckigen Morgenrock durch den engen Raum ihres eigenen Heims schleppte.
Gleichgültig legte sie die Kleider ab und warf sie an die Erde. Ein Weilchen stand sie so da mit entblößten Armen, die unter dem Spitzenhemde hervorsahen.
Budowski lag mit dem Kopfe tief in den Kissen und schien hart und fest zu schlafen.
Mit unverändertem Gesichtsausdruck blickte Julia nach ihm hin, ohne Spur von jenem Abscheu, der bei einer Treulosen leicht zu erklären gewesen wäre.
Im selben Augenblick erwachte Budowski und sagte, den Kopf auf den Ellenbogen stützend: „Bist du endlich da? Ich glaubte, du kämest niemals wieder?“
Ohne sich umzuwenden oder etwas zu erwidern, löste sie nur ihr üppiges Haar und warf es in zwei prächtigen Strähnen nach vorn.
Die Kaltblütigkeit dieser seltsamen Frau schien alles Maß zu überschreiten:
Zurückgekehrt von einem verbotenen Stelldichein, zeigte sie die Ruhe eines von der Andacht heimgekommenen Mädchens.
„Na, wie steht’s mit der Alten?“ fragte Budowski. „Ist sie schon tot?“
„Noch nicht, aber bald wird sie sterben“, erwiderte Julia mit größter Gleichgültigkeit und schlüpfte dann in das Bett.
Jetzt erst überlief sie ein Schauer, daß die Zähne knirschten und mit nervöser Hast nach der Bettdecke schnappten…
Bald darauf aber lag sie wieder ganz ruhig da und zitterte nicht einmal, als Budowski ihr mit zischender Stimme die Worte hinwarf:
„Barmherziger Gott! Wann endlich wird die Alte sterben!“
Käthe übernahm ihre neuen Pflichten und bemühte sich, allen Anforderungen der Herrschaft zu genügen.
Dies war jedoch keine leichte Aufgabe.
Im Hause ging alles verkehrt und Käthe fühlte sich bis in das Innerste erschüttert durch dieses neue System, welches ihr durchaus nicht paßte.
Die an Geiz grenzende Sparsamkeit, die schlechte Kost und die auf ihre Schultern gewälzte Arbeitslast hätten jede andere, weniger kräftige Natur zugrunde gerichtet oder wenigstens erheblich geschwächt. Käthe erfüllte jedoch alle Pflichten jenes Haustieres, welches im gewöhnlichen Leben den Namen „Mädchen für alles“ trägt.
In aller Frühe schon tummelte sie sich in der engen Wohnung herum, um den mit astigen Brettern schlecht gedielten Fußboden aufzuwischen und zu bohnen.
Mit auf die Hüften gestemmten Armen und gerötetem, schweißtriefendem Gesicht hielt sie sich nur mit Mühe auf den beiden zerfaserten Wachsbürsten aufrecht, die immer wieder unter ihren nackten Füßen ausglitten. Wie im Dampfbade schwitzte die Riesengestalt bei der hastigen Bewegung.
Käthe aber liebte diese Arbeit und es bot ihr eine Art Zerstreuung, wenn sie durch kräftiges Aufdrücken eine glänzende Furche hinterließ, und der kleine Salon sich mit dem Dufte von geschmolzenem Wachs erfüllte, das sie mit den Bürsten hin und her rieb.
Ermattet kauerte sie dann auf dem kleinen Teppich vor dem Sofa, auf dem ein rundes Tischchen mit einer riesigen Lampe stand. Letztere war, obgleich auf einer Auktion für einen Spottpreis erstanden, das wertvollste Hausgerät. Niemals angezündet und mit einem grünem Schirm bedeckt, trug sie ihre Bronceurne mit der Würde der Vorsteherin eines Pensionats für höhere Töchter.
Budowski schätzte sie über alles hoch und reinigte sie eigenhändig mit allerlei aufgesammelten und sorgfältig verwahrten Lappen von verschiedener und ziemlich geheimnisvoller Herkunft.
Außer der Lampe befanden sich im Salon noch ein Sofa, sechs mit Seegras gepolsterte und mit kirschrotem Wollstoff überzogene Sessel und zwei kleine Landschaftsbilder in Öldruck, auf denen die vorderen Bäume kleiner waren als die hinteren.
Ferner eine Wandnische mit Porzellanfiguren und Tassen, Riechfläschchen und Nippsachen, sowie einigen Büchern. Und endlich hingen vor den niedrigen Fenstern an weißlackierten Stangen Musselinvorhänge in gewöhnlichem Muster in steifen, wie gebrochenen Falten.
Obgleich im Salon nur wenig Platz war und die Gegenstände sich fast berührten, herrschte darin fast die Öde eines Hotelzimmers mit grauen, einförmigen Tapeten.
Es fehlte die Hausfrau mit ihrem Nähtischchen und niedrigen, weichen Sesseln, und der einfache Blumentisch, der die Hauptzierde der ärmeren Wohnungen bildet. Auch vor dem Fenster lächelte kein frisches Grün, nicht einmal ein Fliederzweig schmückte das düstere Zimmer.
Käthe, die von jeher Blumen liebte, namentlich jene billigen mit den großen Zweigen, die sie an ihr Dörfchen erinnerten, kaufte sich einst für drei Groschen einen ganzen Fliederbusch und kehrte mit ihm triumphierend vom Markte heim.
Auf dem ganzen Wege atmete sie den Duft der bläulichen Blüten mit vollen Zügen ein.
Dies erfrischte sie nicht wenig und verdeckte den scharfen Geruch des Schnittlauches und der Zwiebeln, die sie im Korbe trug.
Heimgekehrt, goß sie frisches Wasser in einen kleinen Steinkrug und trug ihn mit den Blumen in das Schlafzimmer, um ihn dort auf die Kommode zu stellen.
Budowski, der sich eben rasierte und im Spiegel Käthe mit den Blumen vorübergehen sah, war ganz verdutzt beim Anblick dieses unerhörten Luxus.
„Blumen? Wozu? Die sind gut für Verschwender, die das Geld zum Fenster hinauswerfen…“
Und bevor Käthe noch ein Wort sagen konnte, fuhr er auf sie los und machte ihr die bittersten Vorwürfe über solche Vergeudung.
Sie verteidigte sich, so gut sie konnte: die gnädige Frau liebe die Blumen, habe sie geglaubt, und dies sei doch keine so große Ausgabe…
Julia schwieg, wie gewohnt, während des ganzen Streites und hörte dem Auftritt mit schlaftrunkenen Augen zu. Nur ab und zu richtete sie den Blick nach den bläulichen Sternen mit dem zarten Gelb in der Mitte. Der Fliederduft drang bis an ihr Bett und die Augen schließend zog sie ihn mit den zitternden Nasenflügeln ein. Die Hand aber nach den Blumen auszustrecken wagte sie nicht.
Budowski stand inzwischen immer noch vor Käthe und überschüttete sie mit einem wahren Hagel von Schmähungen. Ebenso widerlich, wie lächerlich sah er in seinen riesigen Filzschuhen und der Flanelljacke seiner Frau aus, die er morgens aus – Sparsamkeit anzog und die, vor Jahren mit rotem Vorstoß und hinten einer breiten Falte verziert, sich auf seinen spitzen Schultern förmlich stemmte, sodaß die Taille dicht unter den Schulterblättern saß.
Sein Zorn wuchs noch, je hartnäckiger und beredter Käthe sich zu verteidigen suchte.
„Alle Frauen lieben die Blumen!“ sagte sie, ihrer Herrin sich zuwendend, als suche sie dort Unterstützung. „Übrigens muß man unter das Muttergottesbild auch Blumen stellen.“
„Hier ist keine Herrin!“ rief Budowski. „Hier bin ich Herr und die Mutter Gottes mag sich ohne Blumen behelfen!“
Da Julia sich noch immer nicht rührte, blickte Käthe nach dem über dem Bett hängenden Muttergottesbilde und es war ihr, als verlangten sie beide sehnlichst nach dem Flieder. Und mit plötzlichem Entschlusse näherte sie sich Julia, um die alte rote Decke, unter der sie lag, mit einem duftigen Blumenregen zu überschütten, indem sie ihr zurief: „Bitte, gnädige Frau, nehmen Sie die Blumen!“
„Das zieh’ ich dir vom Lohne ab!“ schrie Budowski.
Als Käthe das Zimmer verließ, wußte sie recht gut, daß die drei Groschen ihr für immer verloren seien… Der Herr spaßt nicht lange und zieht ihr sicher das Geld ab…
Mag es immerhin so sein und die Herrin, die auf der Gotteswelt sonst keine Blumen riecht, sich wenigstens an diesen erfreuen!… Und indem sie die Fleischbrühe anrichtete, dachte sie bei sich, was die Herrin wohl anfangen werde mit dem Flieder.
Als der Herr auf sein Bureau gegangen war, begab sich Käthe in das Schlafzimmer, um nachzusehen. Den ganzen Fußboden fand sie dort überschüttet mit zerzupften Fliederblüten und Blättern. Augenscheinlich hatte Budowski in seiner Wut die Blumen seiner Frau aus der Hand gerissen, zerzupft und an die Erde geworfen.
Julia saß in weißem Negligé vor dem Nachttischchen und kämmte sich mit zerbrochenem Kamme das Haar. Anscheinend ganz ruhig, zeigte sie keine Spur von Bedauern über die vernichteten Blumen, während Käthe bei deren Anblick sich eines höchst peinlichen Gefühles nicht erwehren konnte.
Einige Blütenzweige, die an der Bettdecke hängen und wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben waren, hob sie auf und steckte sie hinter den Goldrahmen des Muttergottesbildes.
Jetzt erst fühlte sie sich etwas beruhigt.
Einige Wochen, nachdem Käthe den neuen Dienst angetreten, kam die Herrin abends in die Küche und übergab ihr den uns bekannten Brief mit der Weisung, ihren früheren Auftrag auszuführen, d. h. den Brief dem Herrn zu übergeben, mit dem Hinzufügen, ein Bote habe ihn gebracht.
Käthe wagte nicht, da sie einmal in die ganze Sache verwickelt war, zu widersprechen oder ungehorsam zu sein.
Wie damals also übergab sie, als sie den Samowar hereinbrachte, den Brief dem Herrn, nur mit dem Unterschiede, daß sie jetzt auf dessen Frage wie ein Echo die Worte wiederholte: „Ein Bote hat ihn gebracht“…
Auch diesmal glückte das Manöver…
Bald darauf verließ die treulose Frau wieder das Haus des Gatten, um in die Arme des Geliebten zu eilen…
Unterwegs bemerkte Käthe, die sie wie gewohnt begleitete, in Julias Haar einen der Fliederzweige, den sie aus dem Rahmen des Heiligenbildes entnommen hatte.
Um keinen Preis der Erde hätte Käthe dies getan. Was Gott gehört, kommt allein ihm zu, und niemand hat das Recht, sich mit Blumen zu schmücken, die man Gräbern oder Heiligenbildern dargebracht.
Als die Droschke die Herrin davon getragen, stand Käthe noch lange in tiefem Sinnen vor der Kirchenmauer, ohne auf die Anreden der vorübergehenden Soldaten zu achten.
Daheim in ihrem Dörfchen ging sie fleißig in die Kirche, um den Katechismus auswendig zu lernen und dabei den kleinen Geschichten zu lauschen, die der Priester in der Predigt manchmal vorbrachte.
Unter anderen erzählte er einmal von einem hartgesottenen Sünder, der dem Herrn Jesus die mit roten Edelsteinen geschmückte goldene Krone stehlen wollte. Als er jedoch eines Nachts eine Leiter anlehnte und nach der Krone griff, streckte der Heiland die ehernen Arme aus, packte die Hand des Nichtswürdigen und ließ ihn nicht wieder los.
Diese Geschichte hatte Käthe nicht wenig aufgeregt. Und heute stahl die Herrin dem Heiligenbilde jenen Fliederzweig…
Als sie, heimgekehrt, dem Herrn ihre Rechnung abgelegt, bemerkte er ausdrücklich: „Der Flieder wird nicht berechnet, sondern dir vom Lohne abgezogen!“…
Bei diesen Worten empfand sie einen seltsamen Druck unter dem Herzen.
Drei Groschen waren zwar noch kein Vermögen, immerhin aber doch ein Stück Geld, und der Flieder hatte zu nichts genützt, nur die drei Groschen waren verloren!…
Seitdem kaufte sie nie wieder Blumen und ging auf dem Markte stolz an ihnen vorbei.
Den ganzen Tag über arbeitete sie daheim ohne Rast und Ruh’, wie in einer Tretmühle, die sie mit schweren Füßen in Bewegung setzte, indem sie den Nacken willig beugte unter dem Joch, welches ihr die Hand des Schicksals auferlegte.
Nachdem sie das Essen besorgt, mußte sie sich die Zeit zum Waschen und Plätten förmlich stehlen.
Das Brennholz wurde ihr zugezählt, ohne Rücksicht auf die Größe der Stücke, sowie darauf, wieviel sie zum Kochen unbedingt brauchte.
Oft weinte sie, wenn das letzte Stück verbrannt war, und der Reis noch steinhart im Topfe lag.
Lose Bretter von der Bettstelle nahm sie dann zu Hilfe, und einmal wagte sie sogar, eine alte Fußwanne zu verbrennen, deren Trümmer sie im Keller zerstreut vorfand.
Die niedrige, dunkle Küche mit all ihren Gerüchen nach Zwiebeln, Pilzen und ranziger Butter erschien ihr manchmal wie ein Vorraum der Hölle, in dem sie dennoch leben und arbeiten mußte, sie, die ebenso von Gott erschaffen war, wie andere Weiber…
Jung und kerngesund, opferte sie in dieser Finsternis und Schwüle ihre ganze Kraft für magere Kost, für Knochen, die man ihr zum Abnagen hinwarf, für altbackene Semmeln, die irgendwo liegen geblieben, und für ein paar lumpige Gulden, die man ihr vierteljährlich mürrisch auszahlte, nachdem man alle „Schäden“ abgezogen, wie sie sich bei so hastiger Arbeit kaum vermeiden ließen.
Ewig erhitzt und abgehetzt, lief sie vom Herde zum Tische, vom Tische zum Plättbrette, um nach dem Fleische zu sehen, die Ofentür mit Lehm zu verkleben, die Wäsche zu stärken, die Wischlappen abzuspülen, oder ein paar Eimer Wasser zu holen.
Und dabei die ewige Angst, daß ihr etwas anbrenne oder verderbe!
Alle Geräte waren abgenutzt oder durchgebrannt, die Butter knapp zugemessen, und die Hausfrau kümmerte sich gar nicht um die Küche.
Käthe liebte es zwar nicht, daß man ihr in die Töpfe guckte. Immerhin aber gehörte es sich, mit der Hausfrau sich beraten zu können.
Alles, was sie verdarb, berechnete der Herr ganz genau und zog es ihr vom Lohne ab…
Manchmal fiel ihr das glühende Plätteisen auf den Fuß, oder eine Kohle aus dem Ofen, die sie sofort mit den Fingern aufheben mußte.
Und so hart und an das Feuer gewöhnt ihre Haut auch war, nicht selten zeigte sie Blasen, oder die Kohle haftete so fest am Finger, wie ein Blutegel. Feuerzangen gab es nicht, weil sie der Herr für Luxus hielt…
Und all diese kleinen und großen Leiden mußte Käthe in ihrer dunklen, engen Küche geduldig ertragen, in der sie sich vom frühen Morgen bis in die späte Nacht herumtummelte, oft keuchend, aber immer guten Willens und mit noch ungeschwächter Kraft.
Nachdem sie das Essen aufgetragen und den Tisch abgedeckt, hatte sie das Geschirr abzuwaschen und die Kasserolle zu scheuern, knieend auf dem Steinfußboden mit um die Schläfen flatterndem Haar. Oft, wenn sie das Spülwasser hinabtrug, stolperte sie auf der schmalen, dunklen Hintertreppe.
Dabei hatte sie eine seltene Gabe, sogenannte Schäden zu machen. Nur mühsam bewegten sich ihre massigen Glieder in den engen Räumen. So oft sie die Hand nur ausstreckte, stieß sie stets an irgend ein Gerät; so oft sie sich nur bückte, warf sie etwas um.
Dazu kam auch, daß die Küche meist stockfinster war, weil der Herr aus Sparsamkeit nicht erlaubte, bei Tage die Lampe anzubrennen.
Selbst das Brot schnitt er ihr selber – natürlich so dünn wie möglich – ab, und sie aß es meist erst spät in der Nacht.
Was Wunder also, wenn sie beständig etwas zerschlug, und wohl oder übel, aber schweren Herzens, so manches Glas und so manchen Teller oder Topf bezahlen mußte.
Und fast mehr noch als über die dunkle Küche ärgerte sie sich über die eigene Ungeschicklichkeit.
Nachmittags ging es an das Waschen, Bügeln oder Rollen. Allwöchentlich war sogenannte „kleine“, allmonatlich dagegen „große Wäsche“. Dann war die Küche erfüllt vom widerlichen Geruche nach Soda und Seife, schmutziger Wäsche und fast erstickendem Dunste.
Alles dazu nötige Wasser mußte Käthe tags vorher allein sich herauftragen und in eine Tonne gießen, die vor der Küchentür auf dem Hausflur stand. Oft war es ihr dabei, als habe die Tonne gar keinen Boden, denn das Wassertragen nahm kein Ende. Kaum hatte sie, nach links hinüber gebeugt, den vollen Eimer heraufgeschleppt und in die Tonne geleert, mußte sie wieder hinunter.
Und diese ewige Wanderung war keine Kleinigkeit auf der steilen Treppe mit den holprigen Stufen, sodaß der Kopf schwindelte und der Fuß ohne Halt nur zu leicht ausglitt, zumal wenn eine Last den Körper vorwärts zog; und nicht einmal ein Geländer war vorhanden, an dem man sich beim Fallen hätte anhalten können.
Auch Käthe war es oft, als müßte sie stolpern und die Treppe hinabstürzen.
Und ebenso ging es ihr beim Holztragen, nur daß dabei auch manchmal ein Stück herausfiel und die Stufen hinabrollte. Dann mußte sie noch einmal mit Licht hinab, um es zu holen, zitternd vor Angst, daß inzwischen jemand es sich angeeignet haben könnte.
Gegen Abend erst brannte sie ihr Lämpchen an und beendete ihre Tagesarbeit bei künstlichem Lichte.
Hatte sie viel Arbeit, so wusch oder bügelte sie noch bis Mitternacht, manchmal auch noch länger.
Barfuß, mit aufgeschürztem Rock und bis über die Ellenbogen aufgestreiften Ärmeln bewegte sich ihre Riesengestalt mitten in den weißen Dampfwolken, durch welche die gelbe Flamme des Lämpchens hindurch schimmerte, wie das matte Licht eines Sternes dritter Ordnung. Auch alles Küchengerät verschwand in diesem Halbdunkel. Nur die gelbe Farbe des Messings blinkte noch hindurch und der Silberglanz des Bleches und bisweilen erglühte die mit einer leichten Rostschicht bedeckte Ofentür und warf purpurroten Schein, oft erzitternd vom starken Luftstrome.
Zu Käthes Füßen lagen ganze Stöße von ausgerungener Wäsche in kleinen Wannen, Tonnen oder Tonschüsseln, gewunden wie weiße Schlangen und noch im Wasser schwamm das gebläute feinere Weißzeug, wie ein ganzes Nest von totem Gewürm.
Fast die Hälfte des Küchenraumes nahm das breite und unbedeckte runde Waschfaß ein. Angefüllt mit heißer Lauge und frisch aus dem Kessel geworfener Wäsche, stützte es sich auf zwei Lehnstühle, deren einer wie befranzt war mit zerzaustem Rohr und anstatt des vierten Beines eine Leiste aus knorrigem Scheitholz hatte.
Käthe bückte sich über das Waschfaß und tauchte unverzagt die roten, schwieligen Hände in den heißen Laugensud, um jedes einzelne Stück Wäsche herauszunehmen und es gehörig ausgerungen in die sogenannte „Bährung“ zu legen.
Unwillkürlich stöhnte sie dabei, und dicke Schweißtropfen rannen von der Stirn.
Durch das offene Gitterfenster wehte zwar ab und zu ein schwaches Lüftchen. Die Stickluft der Küche aber verschlang es sofort mit der Gier eines wilden Tieres und bot der nach Luft förmlich schnappenden nicht die Spur von Kühlung.
Feines Weißzeug waschen, das ist kein Spaß: siebenmal geht jedes Stück durch die Hände, bevor es auf die Leine gehängt wird.
Die Handflächen schwellen an wie ein Kissen vom starken Reiben und die Haut löst sich ab in Fetzen.
Käthe wußte, daß dagegen Glycerin etwas hilft. Zehn Pfennige aber ausgeben für die dummen Hände, das lohnte sich ihr nicht.
Auf der Kommode stand zwar ein Fläschchen, aber Käthe wagte nicht, um ein paar Tropfen zu bitten, damit die Herrin sich über solche Dreistigkeit nicht ärgere.
Außer ihrer Überbürdung mit Arbeit hatte Käthe noch anderes zu erdulden.
Obgleich nur eine arme Magd, liebte sie etwas Gesellschaft und Unterhaltung mit irgend einer zugänglichen Person. Bei Budowskis aber war Käthe immer mutterseelenallein, eingesperrt wie ins Gefängnis in der engen, dunklen Küche, wo sie hinter den feuchten Mauern kaum eine Ahnung hatte von den hellen Sonnenstrahlen des Frühlingsmorgens oder der erquickenden Kühle der hereinbrechenden Nacht.
Stumm schritt sie also in ihrem Käfig hin und her und unterdrückte die Worte, die sich ihr auf die Lippen drängten, wie auch das Bedürfnis nach Unterhaltung, indem sie sich bemühte, mit tiefen Seufzern, wie die einer verdammten Seele, sich einigermaßen zu erleichtern. Die ganze Brust und Kehle trug sie voller Worte, die sie aussprechen mußte, obgleich sie sich über deren Sinn oft selbst nicht klar war.
Frau Julia aber saß immer mürrisch und müßig im Schlafzimmer, oder sie lag auf dem Bette, halbangekleidet, schweigend und mit zusammengepreßten Lippen. Sprach sie ja einmal, so geschah dies mit leiser, sanfter Stimme, ohne sich auf eine Unterhaltung einzulassen, im Gegenteil bemüht, sie sofort abzubrechen.
Die übrigen Mägde im Hause behandelten Käthe von oben herab und mit unbeschreiblicher Geringschätzung. Diente sie doch bei einer „Herrschaft“, die den schlimmsten Ruf im Hause hatte.
Budowskis Geiz war allgemein bekannt und über Julias nächtliche Ausflüge gingen allerlei dunkle Gerüchte um auf den Hausfluren und Hintertreppen. Dabei wohnten sie im dritten Stock, hatten nicht einmal ein Vorzimmer und kauften das Brennholz nur stückweise. Solche Leute können keine Achtung erwecken bei der Dienerschaft, geschweige denn die Dienerschaft, die bei solcher „Herrschaft“ bleibt.
Käthe bemerkte sofort die unfreundlichen Gesichter ihrer Kolleginnen.
Ihre höfliche Verbeugung oder Begrüßung erwiderten sie mit eisigem Schweigen oder leisem Brummen.
Die übrigen Mädchen, besonders die bei einer alten Jungfer dienende Mary, deren Hauptbeschäftigung es war, die beiden struppigen Pinscher mit den süßen Namen „Paris“ und „Lala“ spazieren zu führen, wandten sich höchst auffällig von Käthe ab, als wünschten sie keine nähere Bekanntschaft mit dem „Mehlsack“ aus dem dritten Stock.
Dieser Spottname wuchs Käthe allmählich auf den Leib. Gar manchmal hörte sie ihn beim Vorübergehen vor den offenen Küchentüren, bald genäselt von der gräflichen Köchin, bald gekreischt von der übermütigen Mary.
Nur zu bald fühlte Käthe, welch eine undurchdringliche Scheidewand sie von den anderen Mädchen trenne, die in rosa oder bunten Kleidern Sonntags mit dem „Schatz“ zusammentrafen.
Sie hatte weder solch ein Kleid, noch solch einen Schatz.
Überdies durfte sie auch nicht jeden Sonntag ausgehen, sondern, wie Budowski ausdrücklich ausgemacht, nur drei Stunden in jedem Monat.
Nachdem sie sich also sonntäglich angekleidet, setzte sie sich auf ihre Truhe, um ihre Nägel zu besichtigen oder die Beine übereinanderzuschlagen. Unzweifelhaft war dies eine ganz angenehme Beschäftigung, die jedoch unmöglich die ganzen Nachmittagsstunden auszufüllen vermochte, sodaß diese unsäglich langsam dahinschlichen.
Einst versuchte Käthe ein Liedchen zu singen, welches sie noch in der Fabrik gehört hatte. Der Worte zwar erinnerte sie sich nicht mehr, die Melodie aber hatte sie gut behalten. Anfangs summte sie diese nur vor sich hin und versank dabei in Erinnerungen an vergangene Zeiten. Allmählich aber wurde sie dreister und sang das Liedchen so laut, daß es an den engen Küchenwänden widerhallte.
Plötzlich wurde die Tür vom Eßzimmer geöffnet und herein trat Budowski. Nervöser als jemals, gebot er der Sängerin mit entsprechender Handbewegung Schweigen.
„Barmherziger Gott“, stöhnte der Filz. „Wozu heulst du so laut?“
Tiefbeschämt verstummte sie. Nur um die eigene Stimme einmal wieder zu hören, hatte sie sich etwas vorgesungen und der Herr warf ihr vor, sie „heule so laut“! Das betrübte sie doch sehr und drückte sie nieder.
Den Rest ihrer Freistunden verbrachte sie auf der Truhe hockend und wagte nicht, sich zu rühren, um ja kein Geräusch zu machen.
Als sie durch das Gitterfensterchen ein Stück vom blauen Himmel über sich sah, schnürte es ihr fast die Kehle zu und sie war dem Weinen nahe.
Solch junges Blut sehnt sich doch auch nach der Welt und nach Menschen.
Käthe beschlich solche Sehnsucht, daß ihr das Herz wehtat.
So saß sie denn da in ihrem Winkel und blickte empor zu dem Stückchen Himmel und dachte bei sich, wie schön es doch sein müßte, an solchem Tag in die Stadt zu gehen oder mit der Pferdebahn zu fahren!
In der dritten Woche ihres Dienstes bei Budowskis sah Käthe, als sie Sonntags nachmittags nach Wasser ging, durch die halb offene Tür die gräfliche Köchin am Fenster sitzen mit einem Buch in der Hand, in dem sie durch die Brille eine Andacht las, oder Buß-Psalmen.
Käthe besaß kein Gebetbuch, konnte aber, wenn auch nur notdürftig, lesen.
Ein Buch ist kein Glycerin und die Herrin würde sich nicht ärgern über ihre bescheidene Bitte, ihr irgend ein schönes oder frommes Buch zu borgen. Dann setzte sie sich, wie die gräfliche Köchin, ans Fenster und läse nach Herzenslust, aber nur ganz leise, um den Herrn ja nicht zu stören, wie damals, als er sie beim Gesange überfiel.
Dann verginge ihr der Sonntagnachmittag wenigstens schneller!
Nachdem sie sich dies so überlegt, begab sie sich in das Schlafzimmer, wo Frau Julia, wie gewohnt, mit offenen Augen auf dem Bette lag.
Für Julia unterschied sich der Sonntag von anderen Tagen nur dadurch, daß Budowski ihr erlaubte, ihr dunkelgrünes, mit Samt besetztes Kleid anzuziehen und daß er sie morgens zur Kirche begleitete.
Dieses Kleid trug sie dann den ganzen Tag und lag, ohne auf das Nörgeln des Gatten zu achten, daß sie damit nur den Samt verknülle, völlig angekleidet auf dem Bette.
Als Käthe vor ihr stand, öffnete sie die wie immer schläfrigen Augen und blickte mit einer Art von Erstaunen in das gerötete Gesicht des Mädchens.
Budowski putzte eben, wie stets zu dieser Zeit, die Lampen. Dies war seine gewohnte Beschäftigung, die ihm die langen Nachmittagsstunden ausfüllte.
Als Käthe mit schüchterner Stimme ihr die Bitte um ein Buch vorstammelte, geriet Julia sichtlich in Verlegenheit. Sie hatte Käthe sehr gern und fühlte gegen sie eine gewisse Dankbarkeit dafür, daß sie ihr half, den Gatten zu hintergehen… Gern also hätte sie ihren Wunsch erfüllt, aber Käthes Bitte erschien ihr so sonderbar, daß sie wirklich kaum wußte, wie sie sich aus dieser Lage herauswinden solle.
Eine Magd bat sie um ein Buch!
Was sollte sie ihr zu lesen geben, sie, die außer den Familiennachrichten in der Zeitung fast gar nichts weiter las? In der Apathie ihres geist- und seelenlosen Schneckenlebens wäre es ihr niemals in den Sinn gekommen, daß eine Magd sie um ein Buch bitten könne.
Gleichwohl fühlte sie die Berechtigung dieser Bitte und strengte, an den blutleeren Lippen nagend, all ihr bischen Verstand an, um irgend ein Buch herauszufinden, über welches sie ohne Wissen des Gatten verfügen konnte.
Denn Budowski um irgend ein Buch zu bitten, welches dort in der Nische mitten unter den leeren Riechfläschchen schlummerte, das wäre gerade so, als träte sie auf ein Otternnest.
Sie selbst besaß gar keine Bücher, außer einem Gebetbuche mit Samteinband. Hier aber überwog die Selbstsucht das gute Herz:
Käthes plumpe, wenn auch rein gewaschene Hände mit den breiten Fingern boten ihr dafür keine Gewähr, daß jener Samteinband unbeschädigt aus der Küche zurückkehre.
Und dennoch mußte sie mit der Magd ins Reine kommen, die in aller Demut vor ihr stand und auf die Erfüllung ihrer Bitte wartete.
Plötzlich erinnerte sie sich, daß sie zur Hochzeit von der Mutter ein Buch erhalten, mit dem Titel „Das Weib, oder eine Geschichte zum Lachen und Weinen“, Originalarbeit von J. G.…
Julia hatte dies Buch noch niemals gelesen, vielmehr es in der Kommode verwahrt, unter der Wäsche. Nur beim Öffnen des Schubfaches sah sie ab und zu den roten Einband zwischen den weißen Falten des frisch gerollten Leinenzeuges.
So würde es am besten sein. Selbst wenn Käthe den Einband beschädigte, so wäre dies nicht von Belang, denn er war billig und nicht von Leder, sondern nur von Pappe.
Ob Form und Inhalt für Käthe verständlich sein werde, darum kümmerte Julia sich nicht. Mag sie lesen, wenn sie lesen will, ob sie es versteht und ob es ihr nützt, das ist Nebensache. Übrigens täte sie besser, sie legte sich schlafen um zwei Uhr nachts, nachdem sie den Flur gescheuert.
Trotzdem zeigte sie Käthe, wo das Buch in der Kommode lag. Sie selbst war zu schwerfällig, um aufzustehen und es ihr einzuhändigen.
Als Käthe, das dünne Büchlein an die Brust pressend, das Schlafzimmer verlassen, atmete Julia erleichtert auf, um dann fast das ganze Gesicht in den Kissen zu bergen und in den blutarmen Frauen eigentümlichen Halbschlummer zu versinken.
Hochbeglückt kehrte Käthe in die Küche zurück.
Endlich hatte sie eine Unterhaltung und wußte, daß ihr jetzt die Stunden schneller vergehen würden.
Jetzt war es erst vier Uhr und sie hatte noch vier Stunden Zeit, bis sie den Samowar zum Tee besorgen mußte. Bis dahin las sie wenigstens die halbe, vielleicht auch die ganze Geschichte.
Nächste Woche durfte sie zwar ausgehen. Da ihr aber die Geschichte weit interessanter war, wollte sie lieber zu Hause bleiben, um sie bestimmt zu Ende zu lesen.
Und ganz erfüllt von der Wichtigkeit des Augenblicks, stellte sie den Küchenstuhl dicht an das kleine Fenster, durch welches, wenn auch nur spärlich, das Tageslicht eindrang.
So hell war es freilich nicht, wie bei der gräflichen Köchin. Denn dort war die Küche viel geräumiger und hatte ein breites Fenster.
Was half es aber; das ließ sich eben nicht ändern; also hieß es, die Augen gut aufmachen und das Buch möglichst an das Licht halten.
Und mit freudestrahlendem Gesicht öffnete Käthe das Buch und bemühte sich zunächst, den Titel und den Namen des Verfassers und Herausgebers zu buchstabieren.
Dann drehte sie das Titelblatt um und las leis und langsam, oft stockend und sich verbessernd folgendes:
- „Das Weib ist die halbe Menschheit, das Ziel der Forschungen der Weisen aller Jahrhunderte und der Verherrlichungen aller Dichter, in Wirklichkeit aber nichts weiter, als eine – Sphinx für die Menschen, wie für sich selbst…“
Schwer aufatmend unterbrach Käthe hier das Lesen, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich fester auf den Stuhl.
Noch immer begann die „Geschichte“ nicht. Trotzdem aber las sie weiter, immer weiter, erst seufzend, dann stöhnend und den Mund verzerrend, bis sie endlich, körperlich und geistig zermartert, im höchsten Unwillen das Buch fortwarf und den Kopf zur Brust senkte.
Eine Stunde schon hatte sie gelesen, bis der Angstschweiß ihr auf die Stirn trat, und noch immer verstand sie nichts. Worte kamen dort vor, die sie ihr Leben lang nicht gehört und kaum richtig auszusprechen vermochte.
Frau Julia wollte sie nicht danach fragen. Sollte sie, nicht genug, daß sie das Buch von ihr erbeten, sie noch mit der Frage beunruhigen, die sie sich nicht selbst zu beantworten wußte in ihrer Beschränktheit, weshalb
- „nicht nur die St. Simonisten usw. als Hauptbedingung der Frauen-Emanzipation die ‚Aufhebung der Ehe‘ aufstellten?“
Und noch lange saß Käthe vor dem kleinen Fenster und starrte auf das Buch wie ein hungriger Bettler, dem man anstatt Brot eine aus Holz geschnitzte Frucht gab.
Langsam schlichen die Stunden dahin und wie im Schlafe nur rückte der Zeiger vor auf dem schadhaften Zifferblatte der Küchenuhr.
Fast gedankenlos starrte Käthe nach der rußigen Wand…
Nächsten Sonntag mußte sie entschieden einmal ausgehen; was sollte sie sonst wieder anfangen den ganzen Nachmittag. Denn hier erstickte sie fast, so schnappte sie nach frischer Luft.
Zwar hatte sie niemand, der sie auf dem Spaziergange begleiten konnte. Muß denn aber jedes Mädchen einen „Schatz“ haben? Darüber hatte sie ihre eigene Ansicht:
Nur mit einem Manne konnte sie sich einlassen, der sie heiraten wollte, und von Liebeleien wollte sie nichts wissen. Hatte sie doch oft genug schon das traurige Ende von Mädchen gesehen, die, kaum erwachsen, schon an einen „Schatz“ dachten. Weshalb sie sich damit so beeilten, konnte sie gar nicht begreifen. Sie kamen ja doch nur in den Mund der Leute und trieben sich immer nur auf der Straße umher.
Und da sie selbst erst spät sich so kräftig entwickelte, begriff sie um so weniger, was jene Mädchen im Blute haben mochten, wenn sie, fast noch im Kindesalter, schon so herangereift waren, daß sie, ihren zarten Körper preisgebend, vorzeitig sich in die Arme des ersten Besten warfen.
Übrigens bestritt sie durchaus nicht, daß das Leben eines immer alleinstehenden Mädchens ungemein traurig und beschwerlich sei, zumal wenn es gar niemand habe, mit dem es Freud und Leid teilen und einmal ausgehen könne.
Aber so ganz ohne Wahl, fast ohne sich zu kennen, einem jeden sich anvertrauen, sich duzen, sich von ihm traktieren lassen und in später Nacht heimbegleiten oder mit ihm auf dem Hausflur herumstehen, wer das tut, der muß entweder Stroh im Kopfe haben oder nicht an die Zukunft denken.
Träfe sie jedoch einen braven Mann in sicherer Stellung, der ihr ehrlich seine Absichten ausspräche, so ginge Käthe gern mit ihm spazieren oder käme abends mit ihm zusammen, um ihn, wenn auch nur auf Augenblicke, wiederzusehen…
Ein „Schatz“, das ist ein Ärgernis vor Gott, – ein Bräutigam, das ist schon etwas anderes, fast ein Ehemann, nur daß die Trauung noch fehlt. Diese aber läuft nicht davon und immerhin kommt solch ein Mädchen nicht in der Leute Mund. –
Die zweite unwillkürliche Sorge Käthes aber war und blieb – Johann.
Mit dem jedem auf Verführung ausgehenden Manne angeborenen Instinkte wurde er geradezu Käthes Todfeind.
Bei näherer Überlegung gelangte er zu der Überzeugung, daß sie eine „Jesuitin“ sei und daß der Widerstand, den sie ihm bei der denkwürdigen Begegnung auf der Treppe geleistet hatte, nichts weiter gewesen als der reine „Jesuitismus“.
Dies dumme, einfältige Frauenzimmer spielte die Heilige und verdrehte die Augen, anstatt, wie alle anderen, ihn einfach mit Fäusten abzuwehren, als er ihr auf dem engen Durchgang begegnete und sie dort ein wenig an die Wand drückte.
Sie verwahrte sich für den Gatten; nur deshalb war sie so spröde. Unter die Haube will sie und denkt irgend einen Dummkopf mit ihrer Unschuld zu fangen.
Und der ganze Zauber ihres sanften Blickes, der ihn damals vorübergehend so blendete und in seiner Seele alle Begierden dämpfte, verschwand vor der rohen Bosheit, die unwillkürlich das ganze Wesen des in seinem Stolze verletzten Mannes erfüllte.
Rücksichtslos überhäufte er sie mit tausend Vorwürfen, die, je irrtümlicher sie waren, um so heftiger wurden, obgleich er ihre Ungerechtigkeit selbst herausfühlte.
Am meisten ärgerte ihn ihr Wunsch, zu heiraten. Nach seiner Ansicht war dies das schlimmste Zeugnis ihrer Moralität:
Gewiß wollte sie sich mit dem Gatten nur den Rücken decken, um allerlei Unfug zu treiben.
O, er kannte solche Frauen, kannte sie sogar sehr genau und konnte so manche bei Namen nennen. Dies führte aber nur zu Hetzereien unter den Weibern, und das liebte er nicht.
Trotz all seines Grolles aber kam er im Geiste immer wieder auf jenes stramme Mädchen zurück, dessen Gestalt er, ungeachtet des Spottnamens „Mehlsack“, den die anderen Mägde ihr gegeben hatten, bewunderte.
Unbarmherzig ihrer höhnend, gedachte er mit wahrer Wonne jenes Augenblickes, da er ihr so nahe war, daß er ihren warmen Atem auf seiner glühenden Wange fühlte.
Mochten die anderen Frauenzimmer mit ihren spitzen Schultern sie verspotten, so viel sie wollten, tief in der Seele erkannte er Käthe alle körperlichen Reize zu und wußte aus Erfahrung, daß solch ein frisches, kerngesundes Mädel unter hunderten nicht zu finden sei.
Ha! Träfe er sie noch einmal im Dunkeln auf der Treppe, jetzt verzieh er ihr die ihm zugefügte Kränkung nicht so leicht, sondern drückte sie so kräftig an die Wand, daß sie all ihren „Jesuitismus“ verlöre. Dann hülfe ihr kein Augenverdrehen; das zweitemal sollte sie ihm nicht entgehen;… dann streute er ihr einfach Sand in die Augen und machte sich aus dem Staube.
Nur eine gute Eigenschaft hatte sie noch an sich, sie war immer so sauber und rein gewaschen, daß jeder sie gern ansah. Obgleich sie oft mitten aus dem Scheuern heraus die Treppe hinablief, um die Lappen abzuspülen, – ihre Jacke war immer wie neu und ihre Hände, obgleich dick und rot, waren, wie auch die Arme, so appetitlich anzusehen, daß ihn immer die Lust anwandelte, sie zu kneifen. Auch ihr Kopf war nicht übel und das Haar so glatt gescheitelt und gekämmt und an den Schläfen so glänzend wie ein Spiegel, wie er es liebte.
Wahrhaftig, es war jammerschade, daß sie dumm genug war, einzutrocknen und immer solch sauertöpfiges Gesicht zu machen, anstatt das Leben zu genießen.
So umkreisten Johanns Gedanken sie beständig, um neue Reize herauszufordern, die er dann aber zu ihrem Nachteile auslegte, indem er sie sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber im schlimmsten Lichte zeigte.
Seine eifrigste Helfershelferin war dabei die Mary aus dem zweiten Stock.
Dieselbe war zwar klein und stämmig, aber doch von zierlicher Figur, weil sie sich mit einem alten Korsett ihrer Herrin fest schnürte.
Mit Johann hielt sie enge Freundschaft, deren Quelle jedoch nicht allzu lauter war.
Sie nahm das Leben von der leichtesten Seite und schaltete mit ihrer Jugend so verschwenderisch wie ein Nabob mit seinen Schätzen. Daher hatte sie auch immer eine Menge „Bekanntschaften“, ohne sich jedoch irgendwie an eine zu binden.
Jeden Sonntag ging sie vor das Tor oder in irgend einen öffentlichen Garten mit einem anderen. Wegen „Paris“ und „Lala“, jener Pinscher, die sich immer im Freien bewegen sollten, hatte sie unbeschränkte Freiheit.
Sobald sie das Essen aufgetragen, glättete und brannte sie sich das Haar, schminkte sich die Wangen und schwärzte sich die Brauen mit einem angebrannten Pfropfen. Dann nahm sie beide Hündchen auf den Arm und rauschte mit den steifgestärkten Röcken zur Tür hinaus.
Ihre heitere, flatterhafte Natur paßte vortrefflich zu Johanns Charakter, der in seiner „Freimaurer“-stimmung ein dauerndes, an den Altar erinnerndes „Verhältnis“ nicht liebte.
Mary verlangte so etwas auch gar nicht. Vom Heiraten sprach sie niemals und dachte auch nicht einmal daran, sich eine so schwere Last auf den freien Hals zu bürden.
Nach kurzer Einleitung kündigte sie plötzlich der ob dieses Ereignisses höchst erstaunten Schar ihrer Bekannten ihr „Verhältnis“ und küßte sich seitdem mit Johann bei offenen Türen, ohne sich irgendwie zu genieren, zum großen Ärgernis der gräflichen Köchin, die fortan nicht mehr ungestört nach Gemüse in den Keller gehen konnte, ohne auf dem schmalen Durchgange dem im Dunkeln kichernden und kosenden Pärchen zu begegnen.
Mary hatte außer dem dunklen Augenpaar und dem Stumpfnäschen noch eine besondere Gabe: Sie verstand es, den Mann „auszuziehen“, d. h. nach ihrer Meinung, ihn zu allerlei kleinen Opfern für sie zu verleiten, die sie mit Entzücken entgegennahm.
Auch Johann mußte dies durchmachen. Sein erstes „Opfer“ war ein kleines silbernes, echt vergoldetes Kreuzchen mit einem Türkis in der Mitte. Tag und Nacht sprach sie von diesem Kreuzchen, welches für lumpige drei Gulden bei dem Goldschmied an der Ecke des Marktplatzes zu kaufen war.
Dann folgte ein Paar Ohrringe in Form von zwei goldenen Blättchen auf schwarzer Emaille. Allerdings war der Preis ziemlich hoch, gegen acht Gulden. Mary hatte aber „von klein auf“ so zarte Ohren, daß sie sich vom – Tombak sofort entzündeten.
Johann kaufte ihr auch die Ohrringe, setzte aber den Hut schief auf den Kopf und gelobte sich, mit ihr zu brechen. Dies Gelöbnis erwies sich jedoch als unnötig. Denn Mary, die der Roman mit dem Portier schon langweilte, beschloß, etwas „höher“ zu gehen und schenkte ihr Herz einem strammen Bombardier im braunen Wams mit dunkelblauem Käppi.
Mit Freuden trat Johann seinen Platz ab und ohne Kampf und Streit wurde diese heiße Liebe getrennt, die noch soeben mit ihrem Lärm Hausflur, Treppe, Keller und Boden erfüllte, alle Mieter störte und die öffentliche Moral verhöhnte.
Allem Brauche zuwider währte jedoch die Freundschaft zwischen Johann und Mary ungestört fort und manchmal sogar, wenn letztere sich verspätete, nahm ersterer sich selbst sein „Sperrgeld“ in Gestalt eines Kusses auf Marys warme Schultern und von der Haustür bis auf die Treppe erschallte ihr gedämpftes Kichern… –
So standen die Dinge, als Käthe dort in das Haus kam. Als daher Johann in seiner verletzten Eigenliebe offen gegen Käthe auftrat und noch dazu sie „Küchendragoner“ nannte, unterstützte ihn Mary eifrigst bei seinen Spöttereien.
Mit dem Instinkte, der auch dem auf niedrigster Stufe stehenden Weibe eigentümlich ist, fühlte sie heraus, daß Käthe trotz alledem Johann gefiel und ihn beschäftigte.
Obgleich sie längst einen anderen „Schatz“ hatte, wollte sie nicht, daß Johann sich so schnell über ihren Verlust tröste. Daher trat sie entschieden gegen Käthe auf, indem sie die anderen Mädchen gegen sie aufhetzte und sie im ganzen Hause lächerlich machte.
Nicht minder half sie Johann bei allerlei Schabernack, für den dann die Ärmste mit ihrem kargen Lohne aufkommen mußte.
Bald zerrissen sie ihr die alten, zusammengebundenen Wäscheleinen, bald gossen sie ihr das Regenwasser aus der Tonne, das sie sich mühsam aufgefangen hatte. Über die dunkle Treppe zogen sie Bindfaden und freuten sich, wenn sie das Poltern der einige Stufen hinabfallenden Käthe hörten.
So oft sie über den Hof ging, erschallte hinter ihr her spöttisches Gelächter.
Aus dem Fenster heraus lachte das gräfliche Stubenmädchen und zeigte dabei in der hellen Mittagssonne ihr gekräuseltes Blondhaar. Hinter ihr stand in der schwarzen Haube die Köchin und ebenso lachte die rappeldürre Krämerin unten im Laden, die es Käthe nicht verzeihen konnte, daß sie an ihrem Krame vorbeiging, um auf Geheiß ihres Herrn in einem benachbarten Geschäfte ihre kleinen Einkäufe zu machen.
Nicht minder lachten die Mägde des im Seitenflügel wohnenden Tapezierers, das schieläugige Kindermädchen und die dicke Köchin, wie auch die Tapezierersfrau selber, die sich als frühere Küchenfee mit Vorliebe in der Küche beschäftigte.
Am meisten aber lachten Mary und Johann. Letzterer auf den Besen gestützt, mit der Pfeife im Munde und der Mütze schief auf dem linken Ohr.
Langsam, gesenkten Hauptes schritt Käthe vorüber. War es ihr doch, als sei ihr die Kehle zugeschnürt, da sie recht gut wußte, sie allein sei die Ursache dieser allgemeinen Heiterkeit, und zwar wegen ihrer großen, auch nach ihrer eigenen Ansicht viel zu plumpen Gestalt.
Und immer tiefer beugte sie den runden Nacken, als müßte sie all’ dies Gelächter auf sich nehmen, welches allmorgendlich auf dem Hofe erschallte und sich an den Mauern entlang fortsetzte bis zu den Fenstern, um dort ein Echo hervorzurufen und wie Stockschläge auf die grausam Getroffene herabzufallen.
Was hatte sie denn nur verbrochen, daß man sie so behandelte? Daß sie viel größer gewachsen war als die andern, war doch nicht ihre Schuld.
Und sie selbst hätte gewiß nicht so gelacht beim Anblick einer anderen, und wäre die zweimal größer als sie selbst. Kann doch nicht jede so aussehen wie von Porzellan.
Obgleich sie allen so viel wie möglich aus dem Wege ging, um keinem hinderlich zu sein, lachten sie dennoch sie aus und ließen ihr keine Ruhe.
In ihrer grenzenlosen Sanftmut fand sie kein scharfes Wort, um ihre Witze und Spöttereien von sich abzuwehren. Wußte sie doch, sie könne, wenn sie nur dazu den Mut hätte, den ganzen Spötterschwarm zum Schweigen bringen, der auf sie losstürzte, wie auf die Allerverworfenste.
Niemand aber bereitete ihr so viel Kummer, als gerade – Johann.
In ihrer Einfalt und Biederkeit suchte sie keine Ausflüchte und wünschte nicht, sich selbst zu täuschen. Gleichwohl fühlte sie, daß Johann ihr sehr gefiel. Und diesem Gefühle gab sie sich hin mit dem Gehorsam eines von jeher an Nachgiebigkeit gewöhnten Wesens.
Als er sie damals auf der engen Treppe so roh behandelte, erfüllte sie die gewohnte Angst bei Annäherung jedes Mannes. Als er aber dann auf ihre Bitte zurücktrat und sie ruhig vorübergehen ließ, war sie fest davon überzeugt, fortan ihn leiten zu können und, nachdem sie ihn überwunden, in ihm anstatt eines Feindes einen Freund gewonnen zu haben. Bei Tageslicht bemerkte sie dann, daß er ein stattlicher Mann sei. Und diese Beobachtung machte ihr Freude, ohne daß sie sich darüber klar werden konnte.
Die Unterhaltung an der Haustür aber und Johanns Spöttereien berührten sie schmerzlich. Damals erschien er ihr wie umgewandelt.
Mit der Sicherheit eines Gassenhelden trat er auf und sein Ton verriet kein Wohlwollen.
Als er später sich den mit ihr feindlich gesinnten Weibern verband und offen mit ihr in Fehde trat, war sie tiefbekümmert und konnte nachts lange nicht einschlafen, da ihr jede Spötterei aus seinem Munde durch den Kopf ging.
Obgleich sie sehnlichst wünschte, ihm niemals wieder zu begegnen, trat ihr seine breitschultrige Gestalt überall in den Weg.
War dies ihre oder seine Schuld?
Anscheinend war beides der Fall…
Endlich hatte Käthe den Sonntag erlebt, an dem sie ausgehen durfte (unter ausdrücklicher Bedingung schneller Rückkehr).
Von früh an freute sie sich auf diesen kurzen Genuß der Freiheit und schmiedete Pläne über die angenehmste Verwendung des freien Nachmittags.
Ihr war zumute, als harre ihrer jenseits der engen Küchenmauern ein Vergnügen, welches sie reichlich für die drei Wochen lange Gefangenschaft entschädige.
Zwar hatte sie niemand, mit dem sie spazieren konnte, und es war ihr fast peinlich, so allein am Sonntag über die Straße zu gehen.
Aber die heiße Sehnsucht nach Menschen, wenn auch nur ganz gleichgültigen, nur nicht mit spöttischen Gesichtern, hatte sie wochenlang fast verzehrt und ließ sie jetzt ihre Vereinsamung vergessen und sich der Hoffnung auf eine, wenn auch nur augenblickliche Zerstreuung erfreuen.
Spät in der Nacht noch hatte sie ihren Rock, dessen violetter Wollenbesatz durch den langen Gebrauch abgenutzt war, ausgebessert. Für die letzten Pfennige kaufte sie sich Petroleum, setzte sich dann auf ihren Lieblingsplatz, die Truhe, und nähte.
Kräftig schwang sie die Hand mit der großen, schon etwas verrosteten Nadel, die hartnäckig aus dem Gewebe nicht wieder heraus wollte, sodaß Käthe sie manchmal mit den Zähnen herausziehen mußte, samt den violetten Fäden, an denen der Rost sich festsetzte.
Trotz ihrer nur geringen Eitelkeit nahm das Haarmachen eine gute halbe Stunde in Anspruch und das Gesicht-, Hals- und Händewaschen auch noch mindestens ein Viertelstündchen.
Als sie, gerötet vom Reiben mit dem groben Handtuch, den Kopf über dem Waschfaß erhob, fühlte sie sich vom kalten Wasser höchst erfrischt und warf den dicken Zopf, der ihr auf die Brust herabgefallen war, mit Behagen zurück.
Ein Weilchen stand sie so in voller Jugendkraft und Frische mit halbentblößtem Oberkörper da. Gesicht und Arme bis zu den Ellenbogen waren stark gebräunt und unterschieden sich dadurch vom übrigen Körper.
Eine Purpurwelle gesunden Blutes pulsierte in diesem kernigen Körper, welcher nach Genuß verlangte und vom praktischen Verständnis für die sinnlichen Seiten des Lebens zeugte, welche die Welt vor ihr nicht verborgen hatte.
Aufgewachsen unter Leuten, die ohne alles Schamgefühl ihre Kinder in die tiefsten Geheimnisse des häuslichen Zusammenlebens einweihen, wußte sie von allem und sah nicht selten Bilder, welche die Gebildeten mit dichtem Schleier verhüllen.
In dieser Beziehung war sie also vollständig aufgeklärt, da man sie schon als Kind in allen Winkeln herumstieß und sie alles mit ansehen und hören ließ, ohne Rücksicht auf ihre Jugend und ihr mädchenhaftes Zartgefühl.
Trotz alledem aber schlummerte ihr Körper noch lange Zeit und entwickelte sich nur langsam, indem er das Material zum Prachtbau weiblicher Formen vorbereitete.
Jetzt, wo diese Entwicklung nahezu vollendet war, erwachte in dem Riesenkinde das – Weib mit der Ahnung nahen Unheils und dem vollen Bewußtsein seiner Bestimmung.
Nur zu bald mußte das Übermaß der Kräfte in ihrem Körper stürmisch verlangen, auf ein anderes Wesen überzugehen, welches, sobald es in das Leben gerufen, von diesen von Blut strotzenden Gliedern die Möglichkeit des Daseins, der Bewegung und des Denkens und Handelns empfangen würde.
Unbewußt wünschte Käthe sich diese Erleichterung. Denn instinktiv erriet sie, daß noch eine Arbeit ihrer harre auf der Welt und daß deren Vollendung von ihr selbst ausgehen müsse, von ihrem beschleunigten Blutumlauf und der seltsamen Unruhe, die ihr wie Schauer über den Rücken lief.
Zu beschränkt und geistig zu wenig entwickelt, um zwischen den Erfahrungen in der Kindheit und ihrem gegenwärtigen Zustand die richtige Linie zu ziehen und eine Erklärung zu finden, dachte sie: „Jeder nach seiner Art“, wenn ihr plötzlich der Kopf schwindelte.
Ihr Instinkt aber warnte sie, woher die Schwäche komme: sie hockte zu viel zu Hause und deshalb stieg ihr das Blut in den Kopf. Daher müsse sie sich ein wenig ergehen, dann werde ihr gewiß leichter.
Trotzdem aber verließ sie die Unruhe nicht; manchmal setzte sie ihr sogar um so empfindlicher zu. Dann war ihr, als stecke ihr unter der Haut ein andere Wesen, welches dort mit Gewalt den Ausgang suche.
Als endlich der ersehnte Nachmittag genaht war und Käthe, nachdem sie ihren Anzug vollendet, die Straße betrat, war sie wie geblendet von all dem sonntäglichen Glanz und wie betäubt von dem Lärm, der in gemischtem Chor bei all dem Staub in versengender Hitze erschallte.
Die mit Hunderten von Spaziergängern bedeckten Bürgersteige ergossen von ihren Rändern eine ganze Flut von Menschen, gleich riesigen Rinnsteinen, die bei Regengüssen ihr trübes Wasser über das Straßenpflaster wälzen.
Meist waren es Handwerker mit ihren Frauen und Kindern; Soldaten, auf der Suche nach irgend einer nicht allzu grausamen Schönen; oder endlich Unterbeamte mit ihren Familien, die, ihre mageren, schlecht genährten Gestalten dahinschleppend, mit der Menge irgend einen Vergnügungsort aufsuchten, um dort den sauer verdienten Groschen nach den langen, farblosen Wochentagen auszugeben.
Dienstmädchen, am Arme des „Schatzes“, drängten sich durch die Menge, um überall zuerst zu sein. Überzeugt von der Macht ihrer Reize, hielten sie sich selber, trotz der unmodernen zerknüllten Kleider, die ihre plumpen Gestalten bedeckten, für entzückend schön.
Das heiße Verlangen, die verhaßte Herrin nachzuäffen, prägte sich im seltsamen Sonntagsstaate aus, in den diese derben, grobknochigen Frauenzimmer die an die bauschigen Falten des Alltagsrockes gewohnten Formen einpreßten. Schmutzige Barègekleider, verziert mit andersfarbigen Fälbeln und Bändern, zusammengerollt wie in Tuten, oder mit ausgefasertem Samt, spannten sich hartnäckig bei jeder Kniebeuge und wurden fast bei jedem Schritt mit den Hacken abgetreten. Unter den Tarlatanhalskrausen sah man ein Stückchen des roten und dicken Halses, an dem am schwarzen Samtbändchen das übliche Medaillon hing. Auf dem Kopfe thronten die seltsamsten Hüte mit wehenden Federn oder Büscheln von maigrünem Gras mit riesigen Rosen und Vergißmeinnicht.
Manche gingen auch im bloßen Kopfe, ohne ihren Neid beim Anblick eines verblüffenden Hutes auf dem Kopf einer bemittelten Begleiterin zu verhehlen.
An ihrer Seite schritten meist Soldaten, mit Siegermiene sich wiegend.
Ulanen in blauer Ulanka und rotem Käppi spreizten die Beine und blickten verächtlich auf die Jäger und das übrige „Fußvolk“ herab. Kanoniere in braunem Wams, zur Linken das kurze Faschinenmesser, bemühten sich, mit den Ulanen Schritt zu halten, deren Übermut keine Grenzen kannte.
Die Droschken, die vorüberfuhren, waren vollgepfropft mit Menschen. Ermuntert nur durch die Peitsche, schleppten die mageren Gäule sich, ab und zu stolpernd, über das Straßenpflaster.
Alle zehn Minuten mußten die Leute ausweichen vor den vorübersausenden Tramwagen.
Auch in diesen herrschte unerhörtes Gedränge. Und trotzdem stiegen bei jeder Haltestelle neue Fahrgäste ein, die, sich am Geländer anklammernd, auf der Treppe standen und sich einzudrängen versuchten, um sich fast mit Gewalt ein Plätzchen zu erkämpfen.
Schmutzige Kneipen, wo lärmende Musik erschallte, öffneten ihre morschen Türen. Dumpfe Säle oder enge Höfe, prahlerisch „Gärten“ genannt, mit langen Reihen von wackligen Tischen, auf denen Bierkrüge oder Schnapsgläser standen und mit verblüffender Häufigkeit geleert wurden.
Bei matter Beleuchtung durch Tonlampions drängten sich Männer, Weiber und Kinder, um den Sonntag bei Bier oder Schnaps und bei Käse oder sauren Gurken zu beschließen, mit denen sie sich den kranken Magen vollstopften, um dann in später Nacht heimzuwanken und durch wüsten Lärm oft unter Fluchen und Toben die Einwohner aus dem Schlafe zu wecken.
Dienstmädchen am Arme ihres „Schatzes“ eilten ins Freie und verspäteten sich vor der Haustür, um vor den Augen der Vorübergehenden ihren Roman weiterzuspinnen.
Die Prüderie und die falschen Anschauungen ihrer Brotgeberinnen, die ihnen die Erlaubnis versagten, den „Schatz“ in der Küche aufzunehmen, zwangen sie gewissermaßen zu solchen Straßenzusammenkünften, die für die öffentliche Moral gerade nicht von Vorteil waren.
Als Käthe sich plötzlich mitten in diesem Menschenschwarme befand, verlor sie fast allen Mut.
Jede Vorübergehende hatte, wenn nicht einen Mann, so doch wenigstens eine Bekannte oder Freundin zur Seite, mit der sie plauderte oder deren Mitteilungen sie anhörte. Sie aber ging ganz allein, und wenn auch alltags niemand sie begleitete, schämte sie sich doch in diesem Sonntagstreiben ihrer Vereinsamung, als sei dies ihre eigene Schuld.
Dazu kam noch, daß sie ohne Hut ging, im bloßen Kopf, dessen glattgestrichenes Haar in der Sonne glänzte. Dies zeugte von ihrer Armut, denn nur ganz mittellose Mädchen gehen Sonntags ohne Hut aus.
Gleichwohl beneidete sie nicht die anderen um ihren auffallenden Staat, weil sie wußte, daß sie ihr gegenüber reich waren. So hat es Gott gewollt und eingeteilt. Dafür wird er auch sie im Jenseits hundertfach entschädigen.
Übrigens war ihr Rock noch ziemlich neu, auch die Jacke frisch gebügelt und am Halse mit rotem Band eingefaßt. Also war sie ganz sauber gekleidet und ihre Armut war nicht ihre Schuld.
Nur daß sie so allein ging, war ihr peinlich.
Jeder, der sie sah, mußte, Gott weiß was, denken, wenn sich nicht einmal irgend ein weibliches Wesen mit ihr einlassen wollte und sie so mutterseelenallein gehen mußte. Das war doch höchst unangenehm!
Plötzlich fiel ihr – Rosa ein.
Vielleicht hatte auch sie heut ihren „Ausgehetag“. Das wäre wirklich sehr schön!
Nur ging Rosa leider sehr selten am Sonntag aus, weil sie im Milchgarten dann am meisten mit den Gästen beschäftigt war, die dort scharenweis sich einfanden.
Gewöhnlich aber hatte doch wenigstens eine Kellnerin frei und vielleicht war Rosa heut gerade an der Reihe. So lenkte Käthe ihre Schritte nach dem Milchgarten, erfuhr jedoch dort, daß Rosa entlassen sei und vom „baren Gelde“ lebe.
So versicherte die Wirtin selbst, die wegen der großen Hitze den Platz an der Kasse ihrem Gatten abgetreten hatte und in der Küche beim Milchausschöpfen saß.
Käthe entfernte sich also wieder und stand ein Weilchen auf der Straße, um zu überlegen, ob sie Rosa daheim aufsuchen und sie fragen solle, was diese Veränderung in ihrer Lebensweise zu bedeuten habe. Nach einigem Besinnen dachte sie an Felix. Seit seinem denkwürdigen Antrage beim Abholen der Truhe hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Sie fühlte, sie habe ihn sich zum Feinde gemacht und fürchtete sich daher, ihm vor die Augen zu treten. Ihre Freundschaft mit Rosa gewann jedoch das Übergewicht und zehn Minuten später überschritt sie die Schwelle der Freundin.
Hatte auch für sie dies „Leben vom baren Gelde“ etwas Auffallendes, so wich Käthe doch überrascht zurück vor dem Anblicke, der ihr dort vor Augen trat.
Auf dem Bette gegenüber der Tür saß Felix in funkelnagelneuem Anzuge mit pomadisiertem Haar und geschwärztem, zu beiden Seite der Nase emporgewichstem Schnurrbart.
Vor ihm war an das Bett anstatt des Tisches eine Truhe geschoben, bedeckt mit den Resten eines leckeren Mahles, welches wahrscheinlich aus der nächsten Garküche herbeigeholt worden war.
Teller und Gläser standen ungeordnet auf der Truhe und auch einige Flaschen mit und ohne Etikette lagen dort umher, wie bis in den Tod getreue Soldaten auf dem Schlachtfelde.
Neben dem Bette stand Rosa, bleicher als sonst, aber vollständig angekleidet und glatt gekämmt, was bei ihrer früheren Nachlässigkeit im häuslichen Anzuge etwas ganz Ungewöhnliches war.
Das seidene Kleid, augenscheinlich vom Althändler gekauft, hing förmlich an ihr herunter und hob sich mit seinem grellen Ziegelrot wie ein Schmutzfleck von der geborstenen Wand ab.
Ein abenteuerlicher Hut bedeckte den Kopf und die Hände steckten in schmutzigweißen Handschuhen, viel zu kurz, um die Stelle unter dem Ärmelrande zu bedecken, sodaß ein Stück des vom Zusammenpressen geröteten Armes sichtbar wurde.
Offenbar hatten sie sich zum Spaziergange gerüstet. Denn auch Felix preßte den glänzenden, aber nur aufgefrischten Zylinder auf den Kopf und die pfefferkuchenbraunen Glacés auf die Hände.
Das enge Stübchen erfüllte der widerliche Geruch der schlecht zubereiteten Speisen; dieses Gemisch von üblen Gerüchen aber verdeckte nahezu der Tabaksqualm, der in dichten Schichten langsam zur Decke stieg, um dann auf alles Gerät bis auf die Diele herabzufallen.
Käthe, die an Rosas Vernachlässigung im Anzuge gewöhnt war, stand ein Weilchen ganz erstaunt da vor all dem Staat, der ihr plötzlich die Augen blendete.
Diesen Eindruck vervollständigten noch die leeren Flaschen, die Hühnerknochen und Salatreste und der glänzende Zylinderhut des Schneiders.
Gewiß war heut hier Geburtstag oder Namenstag. Und sie wußte nichts von einem so wichtigen Feste. Ohne diesen Zufall hätte sie es mit Schweigen übergangen und die Freundin dadurch tief gekränkt!
Herzlich erfreut, daß sie noch rechtzeitig daran erinnert wurde, streckte sie beide Hände aus und trat einige Schritte vorwärts, um ihren Glückwunsch auszusprechen.
Rosa aber runzelte bei Käthes Anblick zornig die Stirn und verzerrte das Gesicht. Ein ganzer Strom von Schmähworten wälzte sich von ihren Lippen auf das Haupt der Eingetretenen herab: „Wie? Du wagst es noch, hier einzutreten und vor mir dich zu zeigen, als sei gar nichts vorgefallen? – O, ich weiß alles: Felix hat es mir gesagt. Und ich mag nichts mehr zu tun haben mit solch einer, die einer anderen den Schatz abspenstig machen will!“…
Dann ergoß sich in den engen Raum des Stübchens eine neue Flut von Ausdrücken, wie sie Rosa in den schmutzigen Winkelgäßchen aufgesammelt hatte, in denen sie aufgewachsen war.
Käthe aber stand regungslos da, als könne sie keinen Gedanken fassen und nicht begreifen, um was es sich handle.
Rosa verbarg inzwischen mit weit geöffneten Augen ihren Felix wie ein Kleinod, welches man ihr entreißen wolle.
„O, jetzt weiß ich, was unter dieser heiligen Haut steckt und lasse mir nichts mehr vormachen. Ganz andere Wunder habe ich schon gesehen und weiß, woran ich bin!“
Widerhallend an der niedrigen Decke kreischte ihre Stimme: „Seht doch, dieses Schelmstück! Vor der Nase wollte sie ihn mir fortschnappen! Aber hätte sie ihm auch gebratene Hühnchen auftischen können und ähnliche Leckerbissen? Hat sie doch selber kaum, womit sie ihre Blößen bedeckt. Sieht sie nicht aus, wie ein Bettelweib?“
Entsetzt über diesen Angriff wankte Käthe zur Tür auf den Hausflur hinaus und hörte noch auf der Treppe, wie Rosas schrille Stimme allerlei Verwünschungen ihr nachschrie.
In ihrer Einfalt und Treuherzigkeit konnte sie nicht begreifen, was sie Rosa gegenüber verschuldet. Nur das wußte sie, daß sie die einzige Freundin verloren hatte. Ach! Jetzt konnte sie sterben vor Kummer und hatte keine Menschenseele mehr, vor der sie ihr Herz auszuschütten vermochte!
Mit Rosa hatte sie einst in derselben Fabrik gearbeitet und dort dieselben schädlichen Dünste eingeatmet und abends waren sie zusammen heimgekehrt auf dem Straßenpflaster der Vorstadt. So manches Jahr hatten sie in Eintracht gelebt und sich gegenseitig ausgeholfen, bis hier ein Mann ihnen in den Weg trat und sie voneinander trennte, ohne daß sie wußte, aus welchem Grunde.
Sollte denn immer und überall solch ein Mann die Ursache ihrer Trübsal werden?
Allmählich gingen ihr allerlei Gedanken durch den Kopf. Weshalb sagte Rosa, Käthe wolle ihr den Felix abspenstig machen?
Hatte dieser sie doch selbst überfallen, als sie auf der Truhe saß, um ihre Strümpfe zu stopfen. Damals sagte er, Rosa sei ihm zu alt und zu nichts mehr nütze und dann nahm er sie an der Hand und sagte ihr Schmeicheleien.
Und heute machte ihr Rosa die bittersten Vorwürfe, als sei sie daran schuld.
Rosa mußte doch wissen, daß sie nach den Männern gar nicht hinsieht und auch um Felix sich nicht kümmerte, sogar damals, als sie zusammen wohnten.
Übrigens war ihr fremdes Eigentum von jeher heilig. Einer anderen den Gatten oder den Geliebten abspenstig machen, ist geradezu Diebstahl und sie hatte ihr Leben lang noch nicht gestohlen!
Jetzt wußte sie wirklich nicht mehr, wohin sie gehen und was sie mit sich anfangen solle. Auf Rosa hatte sie ganz sicher gerechnet, und nun darin sich bitter getäuscht.
Noch länger in den Straßen allein herumzuirren, war ihr zu langweilig und zu traurig. Alle anderen gingen in Begleitung und sie nur sollte allein gehen wie ein Hund ohne Herrn?
Dabei zerriß diese Rosa ihr fast das Herz mit ihrer Lästerzunge: sie nannte sie… Ach, sie konnte es gar nicht ausdenken, wie sie beschimpft wurde!…
Am besten wäre es, wenn sie in die Kirche ginge. In ihrem neuen Dienste hatte sie zu wenig Zeit und kam nur selten dazu. Wer mit Gott, mit dem ist Gott! Man muß nur beten, das gibt gewiß Trost und Linderung…
Also ging sie in die Kirche, als den einzigen Ort, zu dem der Zutritt ihr am Sonntagnachmittag möglich war.
Nachdem sie die mit grünem Tuch beschlagene Tür geöffnet, schlüpfte sie schüchtern hinein, anfangs wie betäubt von der dumpfen Luft und dem Gesange, der die hohen, dunklen Mauern erfüllte.
Auf doppelreihigen Bänken saßen dort die Leute, deren Umrisse sich im Halbdunkel des Raumes fast verloren. Über ihnen wölbte sich düster die mit braunem Gewölk bemalte Decke, gestützt auf massige, hohe Pfeiler mit schadhaftem Stuck, von dem der Gips längst abgefallen war.
Die mit grünen Vorhängen verhüllten Bogenfenster ließen keinen Lichtstrahl ein. Nur in der Nische des Hochaltars blinkten die vergoldeten Säulen und die Draperien der Engel, die in Lebensgröße ein riesiges Kreuz trugen.
Käthe kniete vor einem Seitenaltar nieder und faltete die Hände zum Gebete.
Vor ihr erhob sich der Marienaltar, weiß, mitten im Grün der Blätter und Blüten, die ihre Papierkronen in einfachen Vasen entfalteten.
Darüber neigte sich das liebreiche Antlitz der in ein glänzendes Blechgewand gekleideten Mutter Gottes. Vier Korallenschnuren, mit großen Nadeln auf Leinwand festgesteckt, schmückten den Hals und zu ihren Füßen lagen auf dem weißen Tischtuche gelbe Wachsfiguren, von frommen Frauen als Gelübde dargebracht. Dies berührte Käthe höchst peinlich. Kam sie doch heute mit leeren Händen und legte kein Opfer nieder!
Gestern kaufte sie sich Petroleum und wohlriechende Seife für ihr letztes Geld. Hätte sie sich mit gewöhnlicher Seife gewaschen, konnte auch sie jetzt ihr Opfer darbringen.
Was half ihr aller Wohlgeruch. Die Mutter Gottes bedarf dessen nicht und fragt nicht nach Eleganz.
Zerknirscht kniete Käthe vor den Altarstufen und gelobte sich, nach drei Wochen mit einem recht schönen Opfer wiederzukommen, etwa einem Herzchen oder einem Kreuzchen von gelbem Wachs.
Inzwischen ward es in der Kirche immer dunkler. Ab und zu schallte durch die immer auf- und zugehende Tür das Rollen einer Droschke bis in das Kirchenschiff, verstummte aber dort, wie betroffen über die eigene Keckheit.
Die barmherzigen Brüder sangen nicht mehr und entfernten sich nach und nach oder lasen beim Lichte ihrer dünnen Talgkerzen Gebete ab.
Allmählich wurde es still in der ganzen Kirche. Die Leute verschwanden in der Dämmerung wie Schatten, die sich in formlose Massen verwandelten.
Tiefer Friede schien aus den dunklen Kapellen zu wehen, von den Spitzbogen des Gewölbes herabzuschweben an den Mauern entlang und die Menschenherzen zu erfüllen, die an den Stufen des Altars Trost und Linderung suchten.
All die formlosen Massen, die in den dunklen Winkeln auf den Knieen lagen, beugten sich immer tiefer zur Erde unter dem Eindrucke des Friedens, welcher die schmerzdurchzuckten Herzen beseelte.
Wäre nicht dieser stille Zufluchtsort, wo sie den ganzen Sonntagnachmittag verweilen konnten, wohin sollten diese traurigen, vereinsamten Wesen sich flüchten?
Wohin geriete diese ganze Schar, die nur in ihrem blinden, fanatischen Glauben sich aufrecht erhält und die Kraft schöpft zum Kampfe mit der Not und der Versuchung?
Welche Schenke öffnete solcher Trübsal die gastliche Tür und der heißen Träne, die auf den Fußboden der Kirche fällt?…
Wohin sollte solch ein armes Geschöpf sich begeben, wie Käthe, die so heiß und bitterlich an den Stufen des Altars weinte?
O, sie wußte längst, daß sie nur hier sich ausweinen konnte.
Die ganze Not ihres Lebens, ihre frühe Verwaisung, die schwere Arbeit bei schlechter Kost, die Sehnsucht nach der Welt, den Spott der Leute und endlich – Johanns Gleichgültigkeit gegen sie, – dies alles konnte sie hier beweinen, ohne sich ihrer Tränen zu schämen.
Rings um sie her knieten Weiber, die ebenso traurig waren wie sie und deren Gesichter in der Dämmerung verschwanden, während nur noch die gesenkten Häupter und die auf der Brust gefalteten Hände zu sehen und die tiefen Seufzer mit dem Stoßgebete „O, Maria!“ zu hören waren.
Lange noch lag Käthe auf den Knieen und klagte stumm der Himmelskönigin ihr Leid.
Denn schöne Worte kannte sie nicht, wußte aber, daß die Mutter Gottes derselben nicht bedürfe und auch das Gebet einer armen Magd gnädig hinnehmen werde…
Erst heute hatte Rosa sie so schlecht behandelt, ohne allen Grund. Und das war wirklich fast zu viel des Herzeleids. Aber auch dies wußte gewiß schon die allerheiligste Jungfrau.
Sie selbst aber hatte den besten Willen, alles in Ordnung zu bringen, nur wollte es ihr nicht gelingen.
Fast täglich zerbrach oder zerschlug sie etwas in der Küche, sodaß sie am Monatsschlusse fast nichts mehr erhalten würde von ihrem Lohne. Und doch mußte sie sich neue Schuhe kaufen, weil die Sohlen nicht mehr hielten und der Schuster sie nicht mehr ausbessern wollte.
Dabei zwang die Herrin sie zur Lüge, obgleich sie selbst wahrhaftig nicht sündigen wollte. Die Herrin aber drohte und sprach dann wieder so lieb zu ihr!
Und endlich dieser Johann. Ach! Er grollte ihr so sehr, weil sie damals auf der Treppe sich nicht von ihm küssen lassen wollte. Die allerheiligste Jungfrau aber liebt unsittsame Mädchen nicht und zürnt allen, die sich nicht gut führen.
Übrigens war dies nicht recht von ihm, daß er sie wegen eines verweigerten Kusses so vor den anderen Mädchen verhöhnte…
Sie hätte ihn niemals ausgelacht, selbst wenn er eine Torheit beging…
Den Nächsten zu verspotten ziemt sich nicht, und Johann war doch auch ihr Nächster…
Träfe ihn ein Unglück, so gäbe sie ihm mit Freuden sogar all ihre Habe und den ganzen Vierteljahrslohn, um ihm aus der Not zu helfen…
Barfuß ginge sie selber, er aber wüßte dann, daß er es mit einem ehrlichen Mädchen zu tun habe, welches er nicht so verhöhnen dürfe…
So schüttete Käthe in der düsteren Kirche, vor der in Dämmerung gehüllten Mutter Gottes knieend, all ihr Herzeleid aus.
Ab und zu nur noch blinkte das Silberblech des Gnadenbildes im Widerschein der zu Füßen brennenden ewigen Lampe.
Noch immer weinte Käthe still vor sich hin und wischte sich die Tränen mit der Hand oder zog sie in die Nase ein in Ermangelung des Taschentuches.
Die anderen Weiber rings um sie her zählten unter tiefen Seufzern all die kleinlichen Sorgen und Leiden ihres elenden Alltagslebens auf in kläglichem Flüstertone, der sofort verhallte an den feuchten, geschwärzten Mauern.
Endlich verschwand sogar der Hochaltar mit seinen vergoldeten Säulen im Schatten und nur noch das schwarze Kreuz erhob im matten Lichte wie triumphierend seine scharfe Umrisse.
Als Käthe, aus tiefem Sinnen erwachend, sich umsah, erschrak sie nicht wenig über die inzwischen hereingebrochene Dämmerung.
Wie in Schlummer eingewiegt von dem hier herrschenden Gottesfrieden, hatte sie einige Stunden auf den Knieen gelegen, ohne sich um ihren Dienst zu kümmern. Gewiß war es schon sehr spät geworden und die Herrschaft wartete längst auf den Samowar. Sie aber vergaß, zur rechten Zeit heimzukehren.
Daher eilte sie schnell hinaus und stieß dabei die noch immer auf den Bänken hockenden Betschwestern an.
Auf der Straße war es etwas heller als in der Kirche. Und dies beruhigte sie ein wenig.
Nach Hause aber hatte sie noch ziemlich weit, denn ihre Herrschaft wohnte dicht an der Vorstadt. Also mußte sie sich sehr beeilen, um Ärger und Vorwürfe vielleicht noch zu vermeiden.
Draußen herrschte noch reges Leben und Hunderte von Vorübergehenden kreuzten sich nach verschiedenen Richtungen. Hie und da brannte schon das Gas, blinkte aber nur von fern im Schatten des Laternenpfahles, wie gelbliche Sternschnuppen.
Mit Anbruch der Nacht steigert sich der Fieberzustand der Stadt und erfüllt die Luft mit ungesundem Hauche.
Immer aufdringlicher werden die Männer, immer kecker im matten Gaslicht die geschminkten Weiber.
Auch Käthe fühlte diesen betäubenden Hauch und ein seltsamer Schauer überlief ihr den Rücken. Instinktiv beschleunigte sie ihre Schritte, als wolle sie der Notwendigkeit ihres Falles entgehen.
Auf dem Fuße folgte ihr ein Mann, der sie fast anstieß. Dies war irgend ein Kanonier, den sein „Schatz“ im Stiche gelassen und der nun in der Menge nach einer anderen suchte, welche nach seiner Ansicht sich eine Ehre daraus machen würde, seine Liebste zu werden.
Die so allein gehende Käthe lenkte sofort seine Aufmerksamkeit auf sich. Solch’ großes, strammes Mädchen war ihm gerade recht. Und mit der ganzen Roheit eines Mannes, dessen Sinne plötzlich erwachten, drängte er sich immer dichter an sie heran, um sich ihr bemerkbar zu machen.
Sie aber lief immer schneller, um ihm aus dem Wege zu gehen, bis ihr fast der Atem ausging. Nein! Das fehlte gerade noch, daß sie ein Mann überfallen mußte, während sie sich so beeilte, heimzukehren!
Schon fühlte sie am Ellenbogen den Arm des Kanoniers, der sie immer dreister anstieß mit der Keckheit eines Gassenhelden. Dazu kam noch, daß er gewiß betrunken war, denn sein heißer Atem war ein Gemisch von Bier- und Schnapsdunst.
Käthe zählte vor Angst schon die Straßen und maß im Geiste die noch verbleibende Entfernung bis zu ihrem Ziele. Zwischen Droschken und Trams hindurch wand sie sich, um auf die engere Straße nach der Vorstadt zu gelangen.
Dort wohnte ihre Herrschaft und von weitem sah sie schon die Laterne brennen vor der Haustür.
In zehn Minuten schon konnte sie zu Hause sein und die Herrschaft um Verzeihung bitten. Im Geiste beschäftigte sie sich schon mit dem Samowar. Wäre nur nicht dieser Kanonier immer dreister geworden!…
Er kniff sie sogar schon in den Arm, als sie in der Menge ein Weilchen stehen bleiben mußte. Jetzt war er ihr schon so nahe gerückt, daß er sie fast in den Rinnstein stieß.
Und dabei lachte er laut und redete sie an:
„O“, sagte er, „nicht übel wär’ es, wenn wir zusammen vor das Tor gingen, um ein Gläschen Bier zu trinken. Bis zum Zapfenstreich ist es noch lange hin; ich habe also Zeit genug, und wir würden schnell Bekanntschaft schließen. Als Kanonier war ich schon in so manchem fremden Lande, weiß mit den Weibern umzugehen und lasse mich nicht so leicht abweisen!“
Ohne ihm zu antworten, eilte Käthe weiter. O, das sollte ihr fehlen, so in der Nacht herum zu spazieren.
Daß ein Mann sich ihr aufdrängte, daran war sie längst gewöhnt. Nur darum handelte es sich ihr, daß auf solche Weise keine ordentliche „Bekanntschaft“ zu schließen sei. Mit Soldaten läßt sich ein braves Mädchen überhaupt nicht ein; denn diese halten es nur zum Narren. Tränke sie also mit diesem Kanonier ein Gläschen Bier, so würden die Leute sie mit Recht geringschätzen.
Sie beschleunigte also ihre Schritte noch mehr und stieß unterwegs fast alle Leute um, nur um sich so schnell wie möglich von dem zudringlichen Verehrer zu befreien. Dieser aber ließ sich nicht abschrecken, sondern lief ihr nach, durch ihren Widerstand angestachelt und über diese wilde Jagd inmitten der Menge belustigt. Im pausbäckigen Gesichte funkelten die kleinen Äuglein und immer wieder streckte er die Hand aus, um das große, dralle Mädchen zu erfassen, welches ihm mit seltener Gewandtheit immer wieder entschlüpfte.
Alle Vorübergehenden blieben stehen, um sich das seltsame Paar näher anzusehen, eilten aber der Verfolgten keineswegs zu Hilfe.
„Bah! Irgend eine Köchin!… Sie wird schon allein sich Rat schaffen!… Etwas Ordentliches ist dies überhaupt nicht. Wer wird sich also darum kümmern!“
Endlich hatte sie ihre Haustür erreicht und betrat keuchend den Flur.
Dort herrschte fast völlige Dunkelheit. Johann hatte die Flurlampe noch nicht angezündet.
Fast außer Atem lehnte Käthe sich an die Wand und schloß die Augen, um ein wenig auszuruhen, bevor sie die Treppe bestieg.
Plötzlich umschlangen sie kräftige Arme und zerrten sie in den dunkelsten Winkel des Hausflures.
Der Kanonier wollte seine Beute nicht so leicht loslassen. Fest an die Wand preßte er die dermaßen Erschrockene, daß sie nicht einmal sich zu wehren versuchte. Er wollte ihr schon beweisen, daß mit einem k. u. k. Kanonier nicht zu spaßen sei, daß er sich nicht behandeln lasse, wie ein Hund (woran sie gar nicht dachte), dies sollte ihr schlecht bekommen!
Käthe aber verlor all ihre gewohnte Kraft. Die Arme sanken ihr herab, anstatt den Frechen zurückzustoßen. Denn hinter dem Rücken des Soldaten bemerkte sie – Johann, oder ahnte vielmehr nur dessen Nähe. Dicht vor ihnen stand er, aber fast ganz im Schatten verloren. Käthe jedoch wußte bestimmt, daß er es war.
Und Verzweiflung ergriff sie bei dem Gedanken, daß er sie im Kampfe mit dem betrunkenen Soldaten sähe. Dies lähmte sie förmlich und benahm ihr allen Mut und alle Kraft.
Ihrer Brust aber entrang sich nur jener einzige Schrei des um seine Ehre ringenden Weibes, der, so erhabenen Klanges, so voller Klage, Schmerz und weiblicher Ohnmacht ein und derselbe ist und bleibt in allen Schichten des Volkes.
Auf diesen Hilfeschrei tauchte plötzlich aus dem dunklen Hintergrunde die Gestalt des hinter der Haustür stehenden Johann auf und von seinem starken Arme zurückgestoßen, wurde der Kanonier mit dumpfen Krachen an die gegenüberstehende Wand geschleudert.
Auf diese Weise von ihm befreit, trat Käthe einige Schritte vor, blieb aber beim Schalle der zwischen den beiden Männern ausgetauschten Hiebe und Backenstreiche wie angewurzelt stehen.
Vor ihr im dunklen Hausflur wälzten sich die beiden auf der Erde herum wie ein Riesenknäuel. Mit dem Schalle der Hiebe mischten sich wilde Flüche oder kurze, abgerissene Worte unterbrachen die Schläge.
Augenscheinlich bemüht, den k. u. k. Kanonier zur offenen Haustür hinauszuwerfen, durch die der Straßenlärm hereinschallte, drängte Johann ihn mit Gewalt dorthin nach der Schwelle.
Hartnäckig aber wehrte sich der Kanonier und wollte nicht vom Platze weichen.
Dabei überschüttete er Johann mit einem Hagel von Schmähworten, wie „Verdammter Zivilhund!“, „Lumpiges Kanonenfutter!“ usw.
Wie erstarrt vor Angst stand Käthe vor den beiden Männern, die einander vor Wut fast erschlugen und den Hausflur mit wildem Lärm erfüllten ihrethalben, die sie gar nicht näher kannten.
Am meisten zitterte sie bei dem Gedanken, der Kanonier könne sein Faschinenmesser ziehen, das ihm an der Linken hing. Ach! Dann wäre Johann verloren und sie wäre daran schuld!
Und in ihrer namenlosen Angst nagte sie an den eigenen Fingern, um den Schrei zu unterdrücken, der sich ihrer Kehle entringen wollte.
Plötzlich atmete sie freier auf:
Der Kampf war beendet…
Der mit braun und blau geschlagenem Auge und verstauchter Hand zur Haustür hinausgeworfene Kanonier schleppte sich unter lauten Verwünschungen heimwärts nach seiner Kaserne, von seinem Liebesabenteuer höchst unbefriedigt.
Auf dem Kampfplatz blieb Johann als Sieger zurück und bemühte sich, das seiner tüchtig verhauenen Nase entströmende Blut zu stillen.
Schüchtern näherte sich ihm Käthe, um ihm ihren Dank auszusprechen.
Er aber eilte an ihr vorüber in sein Stübchen unter der Treppe und entzog sich so ihrem Gefühlsausdrucke, indem er sogar die Tür hinter sich verschloß.
Käthe stand also ganz allein auf dem Hausflur und lehnte sich an die Wand, um noch einmal die Vorgänge des ganzen Tages sich vor Augen zu führen. Ach! daß sie doch immer solches Unglück haben mußte.
Erst wurde sie beschimpft von Rosa… Dann schlich sie in die Kirche und saß dort bis zum späten Abend, und endlich überfiel sie irgend ein Soldat!… Und dies mußte durchaus Johann mit ansehen!
Jetzt mochte er vielleicht denken, jener sei ihr früherer Liebster, oder, was noch schlimmer, sie selbst habe denselben hinter die Haustür gelockt.
Und nicht einmal erklären konnte sie ihm dies alles. Denn er hatte sich vor ihr in sein Stübchen geflüchtet.
Unmöglich durfte sie ihm dorthin folgen und hätte ihm doch so gern ihren Dank ausgesprochen und ihn um Verzeihung gebeten, wegen der Ungelegenheiten, die er ihretwegen gehabt.
Das war doch sehr schön von ihm, daß er den Kanonier so abfertigte! Zwar zerschlug ihm dieser die Nase; immerhin aber war es gut, daß es dabei verblieb. Denn es hätte noch weit schlimmer werden können…
Was also war zu tun?
Vielleicht fände sich morgen, wenn sie nach Holz oder Semmeln hinunterging, die Gelegenheit für sie, das Versäumte nachzuholen!
Endlich stieg sie langsam die Treppe empor. Dieser Sonntag war ihr doch gänzlich mißlungen.
Anstatt sich zu zerstreuen, hatte sie nur Verdruß gehabt!
Wäre sie nicht so allein durch die Straßen gegangen, hätte sie sich solchem Überfalle nicht ausgesetzt. Wäre sie doch lieber zu Hause geblieben! Nur ist es nicht gerade angenehm, drei Wochen lang sich von früh bis spät abzuarbeiten und dann nicht einmal irgend eine Freude zu haben!
Fast beneidete sie jetzt die anderen Mädchen, die, nachdem sie ihr Sonntagsvergnügen genossen, zur Alltagsarbeit mit größerer Lust und voller angenehmer Erinnerungen an den froh verlebten Tag heimkehrten.
Dafür aber gibt es nur ein Mittel: irgend einen Liebsten zu haben. Mit wem sollte sie sonst spazieren gehen und irgendwo sich niederlassen, um ein Gläschen Bier zu trinken? Das ist einmal nicht anders in der Welt!…
Als Käthe die Küche betrat, sah sie zu ihrem höchsten Erstaunen im matten Lampenlicht die Gestalt ihrer Herrin, die sich über den Samowar beugte. Sie blies mit größter Anstrengung die bleichen Backen auf und man vernahm im engen Küchenraum ihre keuchenden Atemzüge. So versuchte sie vergeblich, die Kohlen unter dem Samowar anzufachen.
Das reichlich vergossene Wasser, die überall herumliegenden Kienspäne und halbverbrannten Zündhölzer und Papierfetzen, dies alles zeugte von den langen und eifrigen Bemühungen dieser trägen Frau, das Abendessen vorzubereiten.
Ohne Spur von Ärger wandte sie sich um nach Käthe und sprach mit kläglicher Stimme: „Gut, daß du kommst! Ich weiß mir gar nicht zu helfen mit diesem Samowar. Das Wasser will ewig nicht kochen!“
Hurtig ging Käthe an die Arbeit und entschuldigte sich dabei mit warmen Worten wegen ihres langen Ausbleibens. Sie habe nicht gewußt, daß es schon so spät geworden und sei daher zu lange sitzen geblieben. Die gnädige Frau sei so gut gewesen, sie zu vertreten, und sie wisse wirklich nicht, wie sie ihr dafür danken solle. Im Nu aber werde das Wasser kochen und dann bringe sie sofort den Samowar in das Zimmer.
Und nachdem sie der Herrin die Hand geküßt, zündete sie die Kohlen an unter dem Samowar und blies mit der ganzen Kraft ihrer kerngesunden Lungen, bis der Widerschein der Glut ihr das darüber geneigte Gesicht wie Purpur rötete.
Frau Julia lehnte sich dabei an die Wand und verfolgte mit den Blicken jede ihrer Bewegungen.
Wie seltsam! Sie selbst hatte sich fast eine halbe Stunde lang mit dem Samowar abgequält und Käthe erledigte in wenigen Minuten diese langweilige Arbeit.
Um Käthe vor dem Zorn des Gatten zu schützen, hatte sie, als dieser beim Lesen vorjähriger Zeitungen eingenickt war, sich leise in die Küche geschlichen, um alles für den Tee vorzubereiten. Dazu trieb sie übrigens das ganz natürliche Gefühl der Dankbarkeit. Da Käthe allein ihr die nächtlichen Ausflüge ermöglichte, hielt sie sich für verpflichtet, sie wenigstens auf diese Weise für ihre uneigennützigen Dienste zu entschädigen.
In ihrer beschränkten Denkungsart glaubte sie, auch Käthe kehrte heim von irgend einem zärtlichen Stelldichein. Daher sah sie mit einer Art krankhafter Neugier sie an, als wolle sie erforschen, ob alle Leute auf dieselbe Weise sich lieben und diese Liebe ebenso äußern.
Käthes Liebster mußte ebenso kerngesund und vierschrötig sein, wie sie; sonst wäre dies ein höchst lächerliches Paar.
„Hast du dich gut unterhalten? Wo warst du denn?“ fragte sie plötzlich das am Samowar beschäftigte Mädchen.
„Ach, gnädige Frau! Wo soll ich wohl gewesen sein? In der Kirche war ich die ganze Zeit!“ erwiderte Käthe, indem sie das Haupt erhob.
Frau Julia wunderte sich nicht wenig darüber. Sie selbst ging nur Sonntags früh zur Messe in die Kirche, wenn es dort hell war und alle Leute hingingen.
Was sollte sie dort nachmittags in der Kellerluft anfangen, geschweige denn dort sitzen bis in die späte Nacht.
„Warum gingst du nicht spazieren?“ fragte sie, indem sie sich auf den wackligen Schemel setzte, die Augen schloß und gleichgültig auf die Antwort wartete.
Überhaupt fühlte sie sich in dieser Küchenatmosphäre am wohlsten: da konnte sie ohne viel Worte und ohne Geist und Stimme anzustrengen, sich am leichtesten unterhalten.
„Ach, wie gern“, erwiderte Käthe hastig, „wär’ ich bei dem herrlichen Wetter spazieren gegangen, hätt’ ich nur jemand zur Begleitung gehabt. Deshalb ging ich in die Kirche und betete dort zur heiligen Jungfrau. Treibt ein Mädchen sich so allein herum auf den Straßen, so sieht das immer schlecht aus!“
„Wie? Hast du denn noch keinen Liebsten?“ fragte Julia und riß erstaunt die Augen auf.
„Nein, gnädige Frau!“ entgegnete Käthe verlegen und verbarg sich im Schatten.
Jetzt, nachdem sie so allein dastand und noch dazu mit Rosa entzweit war, fühlte sie, daß es so nicht länger bleiben könne, daß sie jemand haben müsse, der ihr zugetan und Freud und Leid mit ihr teile.
Fast schämen mußte sie sich, daß sie noch keinen Liebsten hatte. War sie doch weder häßlich, noch gebrechlich, vielmehr nur zu kräftig und gesund. Und dennoch ging sie noch immer so allein, als ob jeder sie meide.
Dies geschah nur, weil sie durchaus heiraten wollte, die Männer aber immer nur zum Zeitvertreib solche Bekanntschaften schlossen.
Nachdem Frau Julia die Küche verlassen und Käthe den Tee besorgt, ging ihr, als sie wieder allein in der Küche saß, der einmal in ihr erwachte Wunsch nach Anknüpfung irgend einer „ordentlichen“ Bekanntschaft mit seltsamer Hartnäckigkeit im Kopfe herum.
Entschieden wäre es gar nicht so übel, wenn Sonntags immer irgend ein braver Mann zu ihr käme, sich an den Tisch setzte und hübsch mit ihr plauderte, während sie das Geschirr abwüsche, seine Fragen beantwortete und ihm ihren Tee nebst ihrem Zucker vorsetzte.
Dies wäre doch weit angenehmer, als so allein stundenlang auf der Truhe zu sitzen oder sich, Gott weiß, weshalb, auf der Straße herumzutreiben, sei es auch nur, um in die Kirche zu gehen.
Mit unbeschreiblicher Wonne schloß sie die Augen, um mit Hilfe ihrer Phantasie sich das Bild eines solchen Lebens vorzuzaubern, welches sie mit dem Reize einer ihr völlig unbekannten Neuheit so mächtig anzog.
Deutlich stellte sie sich ihn vor, diesen „Jemand“, wie er mit ihr am selben Tische saß und den Tee trank, den sie ihm eigenhändig bereitete.
Wer weiß, wenn sie noch ein paar Groschen übrig hätte, so kaufte sie zum Tee noch einige Semmeln und etwas geräucherte Wurst.
Das essen die Männer so gern.
Rauchen aber durfte er nicht, um die Herrschaft nicht zu ärgern. Gewiß jedoch entsagte er gern ihr zu Liebe auf einige Stunden dem Pfeifchen oder der Zigarre.
Übrigens könnte er sich an das Fensterchen stellen; dann zöge der Rauch auf das Dach, und keine Spur davon bliebe zurück in der Küche.
Dieser „Jemand“ müßte ein braver, fleißiger Bursche sein, denn die Faulenzer liebte sie nicht. Zarte Hände brauchte er nicht zu haben, wohl aber ein frisches, fröhliches Gesicht, blaue Augen und gesunde, blendend weiße Zähne. Und unwillkürlich trat ihr immer wieder Johanns Gestalt vor die Augen.
Ja, gewiß, er war ein solcher „Jemand“, so fleißig und immer munter, so stattlich und so brav. Dabei vergaß sie ganz all seine Spöttereien, die wie Keulenschläge auf sie herabfielen. Nur das wußte sie, daß er zu ihrem Schutze sich auf den Kanonier stürzte und sich sogar die Nase zerschlagen ließ.
Wäre er kein braver Mann, so hätte er gleichgültig zugesehen, wie sie mit dem Kanonier ihre Not hatte.
Vielleicht hätte er sie sogar ausgelacht und den anderen Mädchen alles erzählt. Daß er dies nicht tat, das war doch sehr hübsch von ihm, und sie empfand gegen ihn tiefe Dankbarkeit, die sie durchaus auch ihm kundgeben wollte.
Übrigens spielte hier nicht nur Dankbarkeit die Hauptrolle. Unbewußt unterlag Käthe einem stärkeren Willen, der sie zu Johann hinzog.
Wie glücklich wäre sie, böte sich eine Gelegenheit, sich mit ihm auszusprechen! Ihre einzige Sorge war nur, daß sie ihn allein treffen und ihm ihr Herz ausschütten könne.
Das Sprechen fiel ihr zwar schwer und überhaupt war sie etwas schwerfällig. Gleichwohl hoffte sie, Gott werde ihr schon helfen. So recht von Herzen wollte sie ihm danken und ihn inständig bitten, sie nicht mehr so zu verhöhnen, weil ihr dies viel Verdruß mache.
Gewiß werde er nur darüber lachen und dabei ihr seine tadellosen weißen Zähne zeigen, sich aber dann mit ihr versöhnen und, wer weiß, wenn sie ihn einlüde, auch zu ihr heraufkommen, sich an den Tisch setzen und mit ihr plaudern und Tee trinken.
Dann wird sie ihn überzeugen, daß er unrecht tat, sie so sonderbar zu behandeln.
Und sagen wird sie ihm, wer sie ist und woher sie stammt. Auch Taufschein und Dienstbuch wird sie ihm zeigen und ihn zu guterletzt zu ihren Gunsten bekehren.
Wird er aber auch kommen wollen und der Herr es erlauben, daß eine Mannsperson in der Küche sitzt?…
Da lag der Hund begraben!…
In aller Frühe trat Johann heraus, um die Straße zu fegen und zu sprengen.
Das Trottoir war noch ziemlich leer und auf seiner grauen Fläche blinkten die Strahlen der Morgensonne. Hier und da eilten halbzerlumpte Arbeiter vorüber, noch beschmutzt vom Staub und Schweiß des gestrigen Tages. Mägde mit verschlafenen Augen schleppten Eimer und Kannen, aus denen das Wasser überschwappte. Marktwagen rollten auf dem holprigen Pflaster vorbei. Und nach und nach wurden die Haustüren geöffnet und aus den Hausfluren drang der Lärm der erwachenden Einwohner.
Ab und zu erschallte der matte Klang einer Glocke, der die Ordensbrüder zur Morgenandacht rief.
Durch das graue Gewölk am Horizont lugten bläuliche Streifen und verkündeten der noch schlummernden Stadt einen sonnig heiteren Tag. Nur langsam aber erwachte die Stadt, als sei sie auf all den Zauber eines Sommermorgens nicht neugierig, oder vielmehr, als habe sie sich überlebt, wie ein alter Wüstling, der an den Anblick der noch unberührten Schönheit gewöhnt ist.
Mit Eifer begann Johann zu fegen.
Sein kerngesunder Körper bedurfte der Bewegung und ermüdenden Arbeit. Am liebsten fegte er die Straße am frühen Morgen, wenn die nächtliche Kühle noch zwischen den Häusern wehte und ihn angenehm erfrischte. Sein enges Stübchen bot seiner breiten Brust zu wenig Luft.
Da er früh meist mit schwerem Kopfe aufstand, ging er sofort auf die Straße, um den Besen zu schwingen und, wie er sagte, sich den Dunst aus dem Kopfe zu fegen.
Auch heute stand er schon sehr früh auf dem Posten.
Sein Gesicht trug von der Nase bis zum rechten Ohre bläuliche Flecken, als Zeichen des gestrigen Kampfes und als Beweis der derben Faust des k. u. k. Kanoniers.
Johann liebte es natürlich nicht, daß ihm etwas weh tat. Die Geschwulst der Nase aber setzte ihm höchst empfindlich zu.
Der Kanonier besaß ungewöhnliche Kräfte, und obgleich Johann sich an ihm mit der doppelten Zahl von Faustschlägen rächte, so änderte dies nichts an der Sachlage und die Nase schmerzte ihm nach wie vor.
Unmutig knurrte er daher immer wieder vor sich hin: „Verdammter Hund! Verwünschtes Frauenzimmer!“
In der Tat, wozu mischte er sich in das ganze Abenteuer! Mochte der Soldat immerhin die „Jesuitin“ ein wenig abwürgen, kein Hahn hätte danach gekräht!
Und dennoch war es ihm höchst verdrießlich, mit anzusehen, wie ein anderer die Käthe küssen wollte.
Zwar hatte er sich von ihr abgewandt, da er in ihrem Wunsche, sie zu heiraten, ein unüberwindliches Hindernis sah.
Seine männliche Selbstsucht aber verlangte, daß keiner sie ohne seine Einwilligung anrühren dürfe.
Auch gestand er sich jetzt selber ein, daß er von jeher solche stramme Mädchen liebte und daß Käthes Blick ihm bis ins Herz drang.
So oft sie an ihm vorüberging, hatte er zwar irgend ein Schmähwort auf den Lippen, sein Blick aber folgte mit Wohlgefallen ihrer üppigen Gestalt.
Unbewußt zog ihn auch immer wieder ihre gute Führung an und ihre stete Vereinsamung, über die sie sich offen bei ihm beklagte, erfüllte ihn mit Bewunderung, fast könnte man sagen, mit Hochachtung.
Gewiß war Mary weit munterer und zugänglicher als die stille und sanfte Käthe. Dächte er aber jemals an das Heiraten, so würde er Mary nicht nehmen; als Liebste, das wäre etwas anderes. Ginge sie dann mit einem anderen, so wäre dies keine solche Beschimpfung, als wenn sie dies als seine Frau täte.
Als Frau wäre Käthe entschieden vorzuziehen: Für ihn aber taugte das Heiraten nicht. Als Liebste wiederum wollte Käthe nicht mit ihm gehen. Wozu sollte er da noch an sie denken!
Und dennoch kehrte sein Gedanke immer wieder zu ihr zurück, wie die Fliege zum Honig.
Am liebsten dächte er an etwas anderes. Fast schämte er sich. Die Leute könnten am Ende denken, er wolle für jenen „Bräutigam“ gelten, den Käthe so sehnlichst erwartete. Wäre dies nicht der Fall, so hätte er schon längst sich mit Käthe ausgesprochen.
Gestern hatte er dies alles nur vergessen, solche Wut hatte ihn gegen den Kanonier erfaßt, der das arme Mädchen nicht in Ruhe ließ.
Wie gut war es, daß er sie beschützte und den Kanonier verscheuchte!
Nur mit dieser Nase, das war gerade nicht angenehm. Die Bestie schmerzte und schwoll vom Fausthiebe immer mehr an!…
Inzwischen trat Käthe leise aus der Haustür und blieb ein Weilchen stehen, offenbar sehr verlegen.
Endlich fand sich der Augenblick, wo sie mit Johann allein sprechen konnte, wie sie es sich die ganze Nacht hindurch überlegt hatte. Als sie jedoch so vor ihm stand, hatte sie alles wieder vergessen und wurde immer verwirrter.
In der Angst vor seinem Spott hielt sie, anstatt ihm ihren Dank herzustammeln, den Wasserkrug krampfhaft fest in der nervös zitternden Hand.
Auch Johann hatte sie längst gesehen und sie erschien ihm im Rahmen der etwas niedrigen Haustür noch stattlicher und größer.
Im hellen Lichte der Morgensonne zeigte ihr Antlitz ein rosiges, an den Schläfen dunkleres Rot.
Der Hauch der Jugend umwehte sie und die Frische einer der klaren Flut entsteigenden Nymphe…
So erschien sie ihm als die „Jungfrau“ im vollen Sinne des Wortes und Johann wußte nur zu gut, daß dies keine Täuschung war.
Und plötzlich, angeregt durch den gestrigen Kampf mit dem Kanonier, unterbrach er zuerst das Schweigen und wandte sich an Käthe mit den Worten: „Guten Morgen, Fräulein!“
Käthe fühlte sich hierüber hochbeglückt und ihre Dankbarkeit steigerte sich noch mehr, da er ihr den Anfang mit dieser höflichen Anrede so erleichterte. Das war wiederum sehr hübsch von ihm! Jetzt wurde es ihr weit leichter ums Herz. Mit bei ihr ungewohnter Entschlossenheit näherte sie sich ihm und sagte, die Augen niederschlagend: „Herr Johann, gestern haben S’ sich so bemüht, mich von jenem Soldaten zu befreien. Dafür möcht’ ich Ihnen herzlich danken und Sie zugleich um Verzeihung bitten, daß S’ durch mich so viel Verdruß gehabt haben!“
„Bah!“ erwiderte er und stützte sich auf den Besen mit der Miene eines unüberwindlichen Ritters. „Das war nur eine Kleinigkeit und nicht der Rede wert! Zwar zerschlug er mir das Nasenbein; das wird aber schon wieder heilen und dafür hab’ ich ihn auch so angemalt, daß er sich aus der Haustür kaum herausfand!“
So stolz und verächtlich sprach er über seine Heldentat! Mit Teilnahme und Bewunderung blickte sie nach seiner Nase, die in seinem runden Gesicht in allen Farben schillerte.
„Das muß aber doch sehr weh tun!“ sagte sie dann förmlich gerührt beim Anblicke des sichtbaren Zeichens eines Kampfes, dessen unschuldige Ursache sie war.
„Ei! Das hat gar nichts zu sagen!“ rief er, die Hand schwenkend. „Wozu aber, Fräulein, kriechen Sie bei Nacht so mutterseelenallein herum? Das hat immer seine Gefahren und lockt entschieden nur die Männer an!“
Jetzt wurde sie feuerrot. Nein! Denkt er etwa, sie ging absichtlich so allein, um Bekanntschaften zu suchen? Darüber mußte sie ihn aufklären. Mag er endlich erfahren, mit wem er es zu tun habe.
„Ach, Herr Johann“, entgegnete sie, allmählich lebhaft werdend. „Glauben S’ ja nich, daß ich gern so allein ging. Mir selbst ist das peinlich, durch die Straßen zu laufen ohne Bekannte. Leider aber hab’ ich keine Bekannten und meine Familie wohnt weit von hier, obgleich sie höchst achtbar ist!“
Und in der Betonung dieser Worte prägte sich das Bischen Stolz aus, welches sie noch tief in der Seele bewahrte.
Belebt durch diese plötzlich und unerwartet ihr so günstige Wendung wurde sie gesprächiger und blickte, ganz wider ihre Gewohnheit, mit den dunklen, jetzt lebhaft leuchtenden Augen ihm offen ins Gesicht.
Johann lauschte ihren Worten mit Behagen, hocherfreut, daß er jetzt die für ihn so schwere Rolle eines Feindes mit der eines Freundes dieses ihn so anmutenden Wesens vertauschen konnte.
Als sie zu sprechen aufgehört, blickte er sie noch ein Weilchen wohlgefällig an.
Mit Unrecht nannten sie die Mädchen im Hause den „Mehlsack“. Keines derselben konnte sich mit Käthe vergleichen, so kernig, frisch und hübsch erschien sie ihm jetzt.
Beim Sprechen stellte sie die Kanne beiseite und kreuzte beide Arme anmutig auf der Brust. Diese vollen, runden, wenn auch etwas geröteten Arme lenkten Johanns Blick auf sich und erregten in ihm ein Lüstchen, einmal kräftig über den Ellenbogen hineinzukneifen. Die Vernunft aber überwog, da er Käthe nicht beleidigen mochte, die, wie er wußte, solche Scherze nicht liebte.
Später, wer weiß, vielleicht wird sie sich daran gewöhnen und er wird schon sehen, was sich machen läßt. Vorläufig vollständig zufrieden mit der Wendung, welche die Sache genommen, stellte er den Besen fort und näherte sich Käthe, bis sie einander gegenüberstanden, nur durch den schmalen Rinnstein getrennt, in dem das bläuliche Abwasser der nahen Färberei vorüberfloß.
„Fräulein“, hob er an, als interessiere er sich lebhaft für ihre Vereinsamung, „das muß doch höchst langweilig sein, beständig so allein zu sitzen.“
„Freilich“, bestätigte sie. „Ich hab mich schon oft gelangweilt, wenn ich in der Küche nichts mehr zu tun hatte oder nich arbeiten durfte wegen des Sonn- oder Feiertages. Meine Herrin ist herzensgut, aber entsetzlich wortkarg; der Herr dagegen etwas mürrisch, und beide reden fast niemals mit mir. Was Wunder auch: sie sind die Herrschaft und ich bin nur die Magd, also bin ich ihnen zu dumm. Immerhin is der Mensch doch kein Hund oder ein stummes Geschöpf und möchte doch auch gern manchmal mit jemand sprechen. Dort aber kann ich nur mit den vier Wänden plaudern, so verlassen sitz ich da. Am Werktag is es noch erträglich; kommt aber der Sonntag, ach, Herr Johann, Sie glauben nicht, wie bang mir da ums Herz is! Kein Waisenkind kann sich so bangen. Und geh ich auf die Straße, so irr’ ich herum, wie eine Motte. Das is einmal so meine Bestimmung.“
„Gewiß, Fräulein“, bestätigte Johann mit teilnehmendem Kopfnicken. „Ein Mädchen so allein, das ist wie eine Elster im Walde. Jedes Mädchen muß seinen Liebsten haben, der ihm zur Seite steht und es vor Unbill schützt.“
Plötzlich verstummten sie beide, wie verlegen über diese Wendung des Gespräches.
Sie dachte an Johanns starke Faust, die ihr so kräftig zur Seite stand. Er hingegen fragte sich selbst, ob es sich nicht lohne, ihr Liebster zu werden. Wäre nur nicht dieses Heiraten!
Ei was! Wer kaufen will, muß handeln! Vielleicht ließe sie noch etwas ab von ihren Bedingungen. Die Weiber wissen oft selber nicht, was sie wollen! Manchmal ist eine morgens „Jesuitin“ und abends – Freimaurerin. Also muß man es versuchen. Gelingt es nicht, so ist auch nicht viel verloren!
Und mit plötzlichem Entschluse schlug er ihr einen gemeinschaftlichen Spaziergang vor nach drei Wochen, wenn sie ihren Ausgehtag habe.
„Wir gehen vor das Tor oder in die Menagerie. Fräulein, wohin Sie nur wollen. Mir ist alles einerlei. Ich bin dort überall bekannt!“
Dabei nahm er die Miene eines blasierten Menschen an, dem auf der Welt nichts mehr neu oder fremd ist.
Käthe stand ein Weilchen da, als könne sie kein Wort erwidern. In ihr kämpfte irgend ein Instinkt der Frauenseele am Vorabende ihres Falles mit dem Wunsche, sich in Johanns Begleitung zu zerstreuen.
Sie hatte das Gefühl, als müsse sie „Nein!“ sagen und sich von diesem Manne abwenden, der sie so seltsam anzog.
Bisher hatte sie auf ähnliche Vorschläge stets „Nein!“ gesagt. Heute aber fühlte sie sich völlig ohnmächtig. Die Absage wollte nicht über ihre Lippen, die der Wunsch, mit Johann den ganzen Nachmittag zu verleben, immer wieder schloß.
Er aber hielt ihr Schweigen für ein Zeichen ihres Einverständnisses und schilderte ihr mit glänzenden Farben das Vergnügen solch eines Spazierganges zu Zweien. Und unwillkürlich gab sie sich diesem Zauber hin. Mein Gott! So viele Mädchen gehen spazieren mit Männern! Weshalb sollte sie sich ewig langweilen in der Einsamkeit?
Führte Johann auch öfters recht lose Reden im Munde, so schien er doch kein schlechter Mensch zu sein und ein Mädchen konnte unbedenklich mit ihm durch die Straßen gehen.
Übrigens mußte sie ihn doch wenigstens durch Höflichkeit für die bei ihrer Verteidigung verhauene Nase entschädigen. Eine Ablehnung würde ihn beleidigen und so durfte sie doch nicht verfahren.
So hüllte sie in ihrer Einfalt den Wunsch, sich zu zerstreuen, in den Schein der Dankbarkeit, und fühlte sich nicht abgeneigt, den vorgeschlagenen Spaziergang anzunehmen. Dadurch würde sie sich doch noch immer nicht bloßstellen. Die ordentlichsten Mädchen gingen ja mit Bekannten spazieren, wenn dies nur brave Menschen waren.
Und mit einem Lächeln der Befriedigung erklärte sie sich bereit, auf Johanns Vorschlag einzugehen.
Er aber neigte sich zu ihr und entwarf immer lebhafter ihr den Plan, der sie mit freudigem Erstaunen füllte.
Seitdem begannen für Käthe bessere, hellere Tage und das veränderte Verhältnis zwischen ihr und Johann belebte ihr einförmiges Dasein.
Sofort wurde sie unempfindlich gegen alle Spöttereien der übrigen Mädchen. Was konnte sie dies kümmern, wenn Johann sich nicht daran beteiligte!
O, jetzt konnten sie immerhin sie den „Mehlsack“ nennen. Achselzuckend ließ sie den Hagel von Schmähworten über sich ergehen.
Jetzt wußte sie, daß sie doch kein Mehlsack sei. Wäre sie dies, so würde doch gewiß Johann Sonntags nicht mit ihr spazierengehen.
Denn bekanntlich war er höchst wählerisch und ging nur mit hübschen und ordentlichen Mädchen auf der Straße.
Sie selbst hielt sich wahrlich nicht für eine Schönheit. Die ewigen Spöttereien aber hatten ihr doch so zugesetzt, daß sie manchmal dachte, sie sei wirklich ein wahres Scheusal. Johann selbst hatte ihr aber gesagt, sie sei nichts weniger als häßlich, und daran dachte sie oft im Stillen, wenn sie auf den Knieen ihr Abendgebet sprach.
Damals ging sie mit dem Handkorb in die Stadt im sauber gewaschenen Perkaljäckchen.
Johann stand vor der Tür und sprach mit dem Krämer. Als er sie sah, trat er zu ihr und begrüßte sie mit jener Schmeichelei. Dabei lachte er und zeigte seine blendend weißen Zähne. Solche Zähne liebte sie und blickte ihn daher an, wie ein Heiligenbild, eilte aber dann verschämt davon.
Fortan hatte sie nur die eine Sorge: immer recht sauber und nett gekleidet zu gehen. Dies hielt aber sehr schwer. Nicht etwa, weil sie aus Trägheit nicht bei Nacht ihre Schürzen und Röcke waschen und plätten mochte.
O nein! Mit Freuden säße sie bis an den hellen Tag in der Küche, um nur morgens mit frischer Wäsche zu rauschen, wenn sie Johann im Hause begegnete.
Aber mit ihrem Herrn, das war eine wahre Plage: Petroleum, Seife und Holz – alles teilte er ihr zu, ebenso wie das Essen, und die Arbeit für die Herrschaft ließ ihr keinen Augenblick Zeit übrig.
Allmählich also gewöhnte Käthe sich das Lügen an, indem sie irgend eine nächtliche Arbeit ausdachte, um nur ein Viertelstündchen für sich zu gewinnen.
Anfangs fiel ihr dies sehr schwer. Die jedem Weibe angeborene Verstellungskunst gab ihr jedoch allerlei Ausflüchte ein.
Ein wenig Zeit für sich selbst ließ sich allerdings leicht stehlen. Um so schwieriger aber Petroleum, Seife und Holz. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, etwas von der durch den Herrn zugeteilten Seife oder Stärke sich anzueignen.
Plötzlich kam ihr der Zufall in Gestalt ihrer Herrin zu Hilfe.
Budowski versorgte in seinem maßlosen Geize seine Gattin kaum mit den allernotwendigsten Toilettegegenständen. Frau Julia wiederum in der orientalischen Trägheit ihres abgeschlossenen, untätigen Lebens liebte vor allem betäubende Wohlgerüche, sei es auch nur von gewöhnlichen Räucherkerzen, die sie öfters auf der Kommode anzündete.
Sie hatte aber immer gar kein Geld und ihr Gatte auch nur wenig und dann stets sorgfältig verwahrt. Nur ausnahmweise gab er ihr einen Gulden als Mietsgeld für eine neue Magd.
Daher sann sie unaufhörlich auf allerlei Mittel zur Befriedigung ihrer Leidenschaft für jene Wohlgerüche, die ab und zu die engen, schmutzigen Räume der Wohnung erfüllten.
Auf Budowskis Frage, woher sie das dazu erforderliche Geld genommen, erwiderte sie, ihre Mutter habe ihr einige übriggebliebene Räucherkerzen gegeben.
Julia log mit der ganzen Seelenruhe einer blutarmen Blondine und ihre Stimme veränderte sich dabei nicht einmal.
In ihr schlummerte eine gewisse Niederträchtigkeit, die sich in träger Flut nach außen ergoß, auf deren Oberfläche aber silberklares Wasser trug.
Meist verständigte sie sich mit ihren Mägden, die den Herrn mit dem Marktgelde betrogen und dann den Gewinn mit der Herrin teilten. Dieser Gewinn war zwar immer nur gering und betrug meist nur einige Pfennige. Julia aber sammelte dieselben geduldig, um nur ihre Neigungen zu befriedigen.
Dabei fühlte sie nicht einmal, wie sehr sie sich erniedrige, wenn sie mit der eigenen Magd eine Gemeinschaft einging, um den eigenen Gatten zu betrügen.
Aufgewachsen wie fast jede Tochter eines Unterbeamten, verlebte sie ihre Kindheit in der verdorbenen Luft eines Winkelpensionates und trug in ihrer schlummernden Seele nicht einen einzigen besseren Trieb und kein einziges Gefühl der eigenen Würde.
Ihr ausschließliches Lebensziel war, zu – heiraten, und als sie endlich einen Mann erwischt, schritt sie mit ihm vom Altar und lebte ohne leitenden Gedanken, indem sie den Gatten doppelt betrog, materiell und moralisch:
Seine Taschen leerend, schleppte sie seinen guten Namen durch die dunklen Winkel eines Romans mit einem jungen, ihr fast unbekannten Studenten.
Zuerst sah sie den auf der Straße.
Eine Zeit lang ging er jeden Sonntag in die Kirche und stellte sich meist ihr gegenüber, um sie schmachtend anzublicken. Sofort erkannte er eine leichte Beute in dieser Frau, die nach verbotener Frucht lechzte und zu schwach und zu träge war, um ihm ernstlich Widerstand zu leisten.
Die schwächliche Gestalt des Gatten schien ihn nicht abzuschrecken und Julias hellgraue Augen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren, ermutigten ihn zu weiteren Schritten.
Obgleich noch jung, war er schon recht gewandt und ein gründlicher Kenner der Weiber. Er nahm sie, wo er sie fand, ohne jede Wahl und verließ sie mit Widerwillen, sobald das Verhältnis ein dauerndes Joch zu werden drohte.
Sein leichtgekräuseltes Haar, sein hoher Wuchs und die breiten Schultern erleichterten ihm die Eroberungen in den niederen Volksschichten. Auf die höheren verstieg er sich niemals.
Er liebte, bewundert zu werden und seinen vermeintlichen Wert unbedingt anerkannt zu sehen. Damen von Bildung oder mit seidenen Strümpfen fürchtete er, im Gefühle, daß er sich ihnen gegenüber nur lächerlich mache.
Mit Kennerblick durchschaute er Julias flachen Sinn, den er schon am zweifelhaften Weiß ihrer Strümpfe erkannte.
Nur kurz war der Kampf… Natürlich siegte der flotte Student und Julia wehrte sich nicht einmal…
Halb im Traume kam sie zum ersten Stelldichein. Erst später wurde sie allmählich lebhafter…
Ob sie dem jungen Manne wirklich zugetan war, ließ sich schwer entscheiden. Bei ihren Zusammenkünften zeigte sie dieselbe träge Gleichgültigkeit, wie bei den Besprechungen mit ihrer Magd über die Höhe des ersparten Marktgeldes.
Wenn sie ihre geliebten Räucherkerzen anbrannte, blinkten ihre Augen mit demselben ungesunden Glanze, wie beim Besteigen der ihrer harrenden Nachtdroschke…
Und ebenso schnell erlosch wieder dieser Glanz beim rötlichen Schein der verglimmenden Räucherkerzen, wie beim letzten Kusse, den der Geliebte ihr auf den weißen Nacken preßte…
Julia wollte Käthe wiederholt schon auf ihre Seite ziehen und ihr den Gedanken jenes kleinen Marktgelddiebstahles beibringen.
Immer aber meinte sie, Käthe sei an dieselben schon selber gewöhnt und werde ihr die Sache schon erleichtern.
Scheinbar gleichgültig hörte sie die Rechnung mit an, die Käthe allabendlich vor ihrem Gatten selbst ablegen mußte. Im Grunde aber lauschte sie gespannt auf die von Käthe angegebene Zahl, die Budowski in jenes bekannte schwarze Buch einschrieb.
All ihre Bemühungen waren jedoch vergeblich. Obgleich sie sich mit dem angeborenen weiblichen Instinkte auf die Kleinlichkeiten der Wirtschaft weit besser verstand als ihr Gatte, konnte sie in Käthes Berechnung nicht die geringste Ungenauigkeit entdecken, oder den Versuch, auch nur einen Pfennig zu veruntreuen.
Dumpf grollend saß sie im Halbdunkel da und blickte nach der an der Tür stehenden Käthe.
Also mußte sie wirklich das A B C der kleinen alltäglichen Sünde diese Magd erst lehren?
Das ärgerte sie und schon der Gedanke daran langweilte sie unbeschreiblich.
Am liebsten käme sie, wenn alles fertig ist.
Wie aber alles ein Ende nehmen muß, so mußte auch Käthes makellose Ehrlichkeit ein für allemal in das Schwanken geraten und in die Brüche gehen.
So brav und redlich wie bisher sollte sie nicht länger durch das Leben gehen, wenn anders sie nicht zu den nach den Begriffen ihrer Umgebung der Vernunft beraubten Wesen gehören wollte.
Ihre nicht auf festen Grundsätzen beruhende Ehrlichkeit mußte in der Finsternis schwanken, in der sie keinen Grund mehr unter ihren Füßen fand.
Übrigens wurde wieder der Zufall Julias Bundesgenosse:
Käthe war verliebt…
Diese Liebe war ganz alltäglich und dennoch nicht ohne sentimentalen Anflug.
Vor allem war Käthe ein Weib, welches in die Welt erst eintrat, nachdem sie beim ersten Anblick Johanns ein anderes Gefühl empfand als jene Angst, die bisher alle Männer in ihr erregten.
Sie fühlte das lebhafte Bedürfnis nach einem freundschaftlichen Wort und freundschaftlichem Umgange.
Ohne dies zu wissen, machte Julia sie zur Mitschuldigen an ihrem Frevel durch ein einziges freundliches Wort, welches sie ihr in der dunklen Küche hinwarf.
Jenes Bedürfnis aber war noch lange nicht durch die sanfte Stimme eines zweiten Weibes befriedigt.
In Käthe war vielmehr das Weib erwacht, welches laut seine Rechte forderte, nicht nur in sinnlicher, sondern auch in geistiger Bedeutung.
Auch ihre Seele träumte gern am Waschfasse, wenn ein Lied aus der Kindheit mit tiefem Seufzer der von Rauch und Kochdunst erfüllten Brust sich entrang und den vom fortwährenden Feueranblasen aufgedunsenen Lippen entschwebte.
Käthe liebte zum ersten Mal.
Welchen Schlamm sie auch später durchwatete in ihrem elenden Leben, dieses Gefühl, wenn es sich auch nur in Form der Sinnlichkeit äußerte, mußte seine Spuren in der Erinnerung eines Weibes hinterlassen.
Dies ist der einzige Winkel im Frauenherzen, der sich niemals verändert. Diese Erinnerung haftet darin für immer, oft wie betäubend vor Wehmut und Schmach, aber in gleicher Weise bei der gichtbrüchigen Bettlerin, wie bei der vornehmsten Dame…
Käthe zergliederte die Gefühle nicht, die sie erfüllten, seit sie Johann kennen gelernt.
Ebenso wie seine tadellosen Zähne, die beim Lächeln zwischen den Lippen blinkten, liebte sie seine Blicke, die er ihr bei jeder Begegnung im Hause zuwarf und in denen ihr Instinkt allerlei „schöne Dinge“ erriet.
Oft beobachtete sie, in einer Ecke des Hausflures verborgen, seine stämmige Gestalt, wenn er so gewandt und kräftig den Besen schwang.
Dann bewunderte sie seine unter der etwas zu engen Bluse ein wenig gerundeten breiten Schultern und den gebräunten, teilweise mit blondem Flaum bedeckten Stiernacken.
In gleiches Entzücken versetzte sie seine Stimme, wenn er ihr „lustige Geschichten“ erzählte, von denen sie bisher keine Ahnung hatte.
So wohl war ihr immer zumute, wenn seine sanfte Stimme in ihr Ohr drang, daß ein süßer Schauer sie durchrieselte. Dann vergaß sie sogar seine weißen Zähne und seine breiten Schultern und lauschte, an die Wand gelehnt, seinen Worten und schloß dabei die Augen, um ihn gar nicht zu sehen und alles besser zu hören.
Oft ergriff sie eine förmliche Rührung, gewiß als Anfang von Nervenerregung.
Da sie eine solche aber bisher gar nicht kannte, beschränkte sie sich darauf, die Tränen mit dem Wischlappen zu trocknen und sich eine ganze Reihe abgerissener Sätze zuzuflüstern, als Ausdruck einer Wehmut, die sie jetzt häufiger als sonst befiel.
Auch jetzt konnte sie nicht sagen, daß er allzu höflich gegen sie war.
Für die Eroberung der Weiber hatte er sein ganz besonderes System: Manchmal quälte er sie nur, um sie die volle Überlegenheit seiner männlichen Würde fühlen zu lassen.
Käthe gegenüber änderte er zwar dieses System mit Rücksicht auf den eigentümlichen Charakter, hielt aber immer an den Grundsätzen fest, die er zwischen einem Pfeifchen und dem anderen mehr oder minder in den Worten ausdrückte: „Mit den Weibern ist es, wie mit schlechten Besen: Nur immer dreist, sonst sind sie halb Hund, halb Ziege, so mißtrauisch. Nur immer den Kopf hoch, dann fallen sie dir von selbst in die Tatzen.“
Dies tat er auch Käthe gegenüber, indem er ihr zurief, so oft sie über den Hof ging, sie solle ihm nur nicht die Tür umreißen.
Sie aber lächelte sanft, als sei dies nur die Einleitung zu Zärtlichkeiten.
Manchmal hielt er sie beim Vorübergehen an und kniff sie, ohne ein Wort zu sagen, nicht allzu stark, nur wie im Scherz in den Arm.
Auf jeden anderen Mann wäre sie sicher ärgerlich geworden.
Johann aber durfte sich offenbar viel herausnehmen. Denn wenn sie auch ein wenig schmollte, mußte sie dennoch im Stillen bekennen, daß ihr bei jedem solchen „Kneifen“ so wohlig wurde, als tränke sie Tee mit sechs Stücken Zucker.
Nur einmal hatte sie so den Tee bei ihrer früheren Herrschaft getrunken, als das Kindermädchen betrunken heimkehrte vom Begräbnisse der Mutter und wahrscheinlich aus übergroßer Trauer nichts in den Mund nehmen mochte. Damals nahm sie also die doppelte Menge Zucker und schlürfte den köstlich versüßten Tee löffelweise ein.
Dasselbe Gefühl hatte sie jetzt, wenn Johann sie kniff.
So gab sie sich allmählich dem Einflusse dieses Mannes hin, ohne auch nur die Möglichkeit ihres nahen Falles anzunehmen…
Zu Johann zog es sie hin wie zu niemand auf der Welt. An die Folgen dachte sie nicht einmal…
In der Arbeit störte sie das nicht, nur höchst seltsam beim Abendgebete, welches sie durchaus nicht beenden konnte, wenn sie vor dem Bette kniete.
Immer wieder kam ihr der Gedanke an Johann in den Sinn und an den Sonntag, den sie zusammen verleben sollten.
Wohin werden sie gehen? Was werden sie unternehmen? Was sollte sie anziehen und woher das Geld nehmen zu der Stärke, die für das „Rauschen“ der Röcke durchaus nötig war?
Fast geriet sie in Verzweiflung, als sie ausrechnete, wie viel mehr oder weniger sie noch von ihrem Monatslohn zu erhalten habe.
Mit dem Mietsgulden mußte sie eine Vase, zwei Tassen und drei Gläser bezahlen, die sie zerbrochen hatte. Dazu kam noch die zerfallene Wanne im Keller, für die der Herr ihr so und so viel abziehen wollte. Und der Flieder für die Herrin kostete auch noch drei Groschen…
Ohne Groll dachte sie jetzt an den Fliederzweig, den jene zum Stelldichein sich in das Haar gesteckt. Jetzt war sie schon etwas nachsichtiger gegen solche Verirrungen…
Freilich vom Muttergottesbilde hätte die Herrin nichts fortnehmen sollen. Wenn sie aber keine andere Blume hatte, so konnte sie zur Not auch dies tun.
Eines Morgens kam Frau Julia in die Küche und traf dort Käthe, als sie eben die Markteinkäufe aus dem Korbe herausnahm.
Die frische Luft und die schnelle Bewegung wehten auf ihre Wangen eine Blutwelle, die wie Purpur durchschimmerte unter der gebräunten Haut.
Ihre Finger strichen mit einer gewissen Wonne über die feuchten Salatblätter, die sie auf dem Tisch ausbreitete, um die verwelkten abzureißen und in eine danebenstehende Wanne zu werfen.
Bei Julias Eintritt trocknete sie sich die Hände, um den bekannten Brief entgegenzunehmen, welcher der Herrin als Vorwand zu ihrem Stelldichein diente.
Julia aber gab ihr heute keinen Brief, sondern starrte nur auf das kleine Geld, welches auf dem Tische zwischen den Salatblättern blinkte.
Erstaunt über diesen ungewohnten Besuch und förmlich betroffen über das Fehlen des sonst üblichen Briefes, blickte Käthe ihr in die Augen.
Die im übrigen seltene Anwesenheit der Herrin in der Küche kündete meist deren nächtliche Ausflüge an.
Heute also mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein und jene einen anderen Auftrag für sie haben.
Jetzt konnte sie ohne Scheu mit ihr reden. Seit Käthe erfahren, daß die Männer alle „nichts taugen“, es aber doch ganz angenehm sei, mit ihnen zu plaudern und zu lachen, erfüllte sie Julias Wünsche um so lieber.
Auch diesmal war sie zu jedem Dienste bereit. Gewiß handelte es sich wieder um jenen jungen Herrn, und sie würde alles gern besorgen.
Übrigens wäre dies ein Vorwand mehr, um über den Hof zu laufen, wo sie soeben Johanns Stimme hörte, als er die Tapeziererfrau gründlich ausschalt, weil sie das Spülwasser mitten auf dem Hofe ausgegossen hatte.
Die Herrin aber gab ihr diesmal keinen Auftrag an den Verehrer. Mit geschlossenen Augen lehnte sie an der Wand und flüsterte ihr zu, auf welche Weise die anderen Mägde sich ihr nützlich machten. Dies sei doch durchaus kein Diebstahl. Solchen verabscheue sie selber. Was aber dem Herrn gehöre, sei auch ihr Eigentum. Was wäre also dabei, wenn Käthe den „Rest“ vom Marktgelde mit ihr teile?
Sie sei sogar mit der kleineren Hälfte zufrieden, weil sie den Herrn mit der Bitte um solche Kleinigkeit nicht belästigen wolle.
Regungslos lauschte Käthe der Herrin. Wie? Diese selbst riet ihr zum Diebstahle? Denn Diebstahl war dies doch und weiter nichts, und „du sollst nicht stehlen!“ lautet das siebente Gebot.
Käthe ward ganz verwirrt im Kopfe und kaum noch konnte sie Julias Worte unterscheiden. Nur deren Sinn verstand sie und wußte, daß jene eine neue Lüge und Verirrung verlangte. Nein! Dazu böte sie niemals die Hand.
Und mit aller Achtung, aber voller Entschiedenheit lehnte sie Julias Verlangen ab und verteidigte sich ohne weitere Erklärungen nur gegen den Vorwurf des Ungehorsams.
„Der Herr würde mir zürnen oder mich verdächtigen und mir ein schlechtes Zeugnis geben. Nein, das kann ich nicht tun…“
Hier brach sie ab. Auf den Lippen aber schwebten ihr die Worte: „Denn das ist eine schwere Sünde!“ In diesem Hause jedoch, wo der Name Gottes niemals ausgesprochen wurde, hielt Käthe diese Begründung in ihrem gesunden Menschenverstande für überflüssig. Wußte sie doch, daß Julia den göttlichen Zorn weniger fürchtete, als den ihres Gatten.
Julia aber verharrte im Eigensinn eines schlecht erzogenen und dabei beschränkten Weibes auf ihrem Verlangen mit erhobener Stimme und immer lebhafter.
Lebenszeichen gab sie überhaupt nur gegenüber dem Laster, ob es nun das Gepräge eines Verbrechens oder nur einer kleinen Alltagssünde trug.
In ihren Adern rollte offenbar etwas verdorbenes Blut, welches seinen Nährboden nur in der Atmosphäre der Lüge fand.
Mit Geschick stützte sie ihre Behauptungen auf scheinbar höchst einfache, im Grunde aber trügerische Gründe und traf damit Käthes beschränkten Verstand, indem sie sich unbewußt auf dessen niedrige Stufe stellte, mit dem Verlangen, sich ein paar lumpige Pfennige zu verschaffen.
„Übrigens“, fuhr sie fort, ohne Käthe anzusehen, „tu’ du, was du willst, mein Kind!… Ich aber müßte mich bald um ein anderes, willigeres und mir mehr zugetanes Mädchen bemühen!“
Plötzlich flimmerte es Käthe vor den Augen. Mechanisch strich sie mit der Hand einige Salatblätter, die an der Schürze hängen geblieben waren, herunter. Wie? Entlassen werden sollte sie um solche Kleinigkeit? Das ging ihr doch tief zu Herzen. Erschien ihr doch diese schmutzige, düstere Küche wie ihre beste Freundin, die sie verlieren solle.
Dazu kam noch, daß Johanns klangvolle Stimme durch das offene Fenster schallte und sie an dessen sie jetzt so mächtig anziehende kräftige Gestalt erinnerte.
Julia entfernte sich gleich darauf und ließ sie unter dem Eindruck ihrer letzten Wort allein zurück, fest davon überzeugt, daß Käthe sich doch noch besinnen werde, wie die anderen Mädchen auch.
Übrigens dachte sie gar nicht daran, das durch Käthe veruntreute Marktgeld auf Heller und Pfennig mit ihr zu teilen, sondern wollte einfach nur nehmen, was jene ihr abends beim Bettmachen unter das Kopfkissen legte…
Ein Weilchen stand Käthe noch vor dem Tische, gesenkten Hauptes und mit schlaff herabhängenden Armen.
Dann begann sie unter schweren Seufzern das Fleisch in kleine, längliche Stücke zu zerhacken. Grünzeug in kleinen Bündeln, eine Metze Kartoffeln, ein viertel Pfund Faßbutter, eingewickelt in eine alte Zeitung und ein wenig Mehl in grauem Papierbeutel, das waren die Einkäufe, bei denen sie den Herrn bestehlen und dadurch die ohnehin schon kargen Vorräte noch schmälern sollte.
Um sie selbst handelte es sich dabei gar nicht. Mein Gott, sie nährte sich mit noch Wenigerem und brauchte kein Marzipan. Was für Speisen aber sollte sie auf den Tisch bringen, der ohnehin schon so ärmlich aussah.
Wahrhaftig, jetzt fühlte sie sich totunglücklich. Beim Gedanken, sie müsse den Dienst verlassen, traten ihr die Tränen in die Augen. Wie? Gerade jetzt sollte sie davongehen, wo sie mit Johann in so gutem Einvernehmen stand und in fünf Tagen sogar mit ihm spazieren gehen konnte.
Wenn sie jetzt, das fühlte sie, dies Haus verließe, wäre alles vorbei und ihn sähe sie niemals wieder.
Und voller Verzweiflung bearbeitete sie mit dem stumpfen Hackmesser das Fleisch, dessen blutige Masse auf der Tischplatte sich ausbreitete. Dann nahm sie aus einem Töpfchen das angefeuchtete Kommisbrot heraus, um es mit dem Fleische zu mischen. Fleischklößchen sollten dies werden, also durchaus kein feines Gericht. Dabei aber sparte sie an Fleisch und nahm die Hälfte Brot dazu.
Dies gab ihr zwar viel zu denken. Der Herr würde ja doch nicht dahinterkommen, ob mehr oder weniger Fleisch sich in der Mischung befinde, die sie mit den Fingern knetete.
Ein viertel Pfund Fleisch – das wäre schon viel erspart.
Die Herrin würde zufrieden sein, und sie selbst hätte wieder ihre Ruhe…
So nahm Käthes Ehrlichkeit allmählich eine immer dunklere Färbung an und der Wunsch, in Johanns Nähe zu bleiben, gab ihr tausend Ausflüchte ein, mit denen sie ihr Gewissen einschläferte.
Die schlechten Beispiele, die sie von Jugend auf umgaben und die Atmosphäre von Lug und Trug, in der sie aufgewachsen, übten gleichfalls ihren Einfluß auf sie aus und unterdrückten in ihr alle guten Triebe.
Die „Marktgeldgroschen“, diese Plage jeder Hauswirtschaft, nahmen allmählich auch in diesem Beamtenelend überhand und machten aus einem ehrlichen Mädchen eine Diebin, wenn auch vorläufig nur eine Anfängerin, die aber doch schon mit dem Makel der Sünde sich befleckte.
Als Julia am nächsten Abende sich schlafen legte, fand sie unter dem Kopfkissen schon einige Groschen, für die sie sich allerlei Räucherwerk kaufte, um die ganze Wohnung mit Wohlgerüchen zu erfüllen.
Zwar zitterte Käthes Stimme, als sie bei der Abrechnung die Zahlen für Mehl und Fleisch veränderte. Die am Fenster sitzende Herrin schien jedoch solche Kleinigkeit gar nicht zu beachten.
Durch das geöffnete Fenster drang ein frischer Luftstrom und das dumpfe Rasseln eines in der Ferne vorübersausenden Bahnzuges.
Julias Blicke folgten dessen, wie Purpursterne auf dem hohen Bahndamme dahineilenden Lichtern in die weite Ferne, wie sie diese sich in ihren nebelhaften Traumbildern vorstellte.
Dies war ja die einzige Tageszeit, in der auch auf ihrem Gesichte die Sehnsucht nach Freiheit sich ausprägte. Daher beachtete sie auch gar nicht die ihr gegenüber an der Wand stehende Käthe, die zum erstenmal in ihrem Leben log und mit der ganzen Unsicherheit der Anfängerin die Worte aussprach, welche den Diebstahl verdecken sollten.
Dieses große Mädchen aus dem Volke trug noch immer die ganze Schüchternheit eines Kindes an sich, welches vor jeder Schlechtigkeit mit Abscheu zurückschreckt.
Nur das Leben und die Verhältnisse stießen Käthe in den Abgrund, langsam und allmählich durch kleinliche Alltagssünden, gegen die sie sich zwar wehrte, aber nicht kräftig genug, wie ein Wesen ohne jeden Halt…
Der Herr merkte den Betrug gar nicht und obgleich sie eine Höllenangst ausstand, wenn sie die Zahlen fälschte, fiel doch kein Schwefelregen auf ihr Haupt.
Die Herrin war vollständig befriedigt und streichelte sie mit der Hand, nachdem sie sogar in der Küche ein Räucherkerzchen angezündet. Der süßliche Duft vermischte sich mit dem Geruche des im Topfe kochenden Weißkohles.
Auch Käthe lächelte befriedigt beim Anblick Julias, deren glatter Kopf in den blauen Wölkchen des über das Licht gehaltenen Kerzchens verschwand.
Nur eines konnte Käthe an jenem Abende nicht fertig bekommen.
Als sie nach beendeter Abrechnung und Küchenarbeit niederkniete zum Abendgebet, vermochte sie dies nicht so wie sonst zu Ende zu sprechen. Unwillkürlich blieben ihr die Worte in der Kehle stecken und die Augen starrten hartnäckig an die Wand, anstatt die Heiligenbilder anzublicken.
Ihre noch reine Seele meinte im blinden Glauben aus den Gesichtern der Heiligen wegen ihrer schlechten Führung einen scharfen Tadel herauszulesen.
Daher kniete sie lange schweigend und wagte nicht, der Mutter Gottes in das Antlitz zu sehen.
Allmählich jedoch gewöhnte sie sich auch daran.
Dies war der Anfang der Zersetzung einer noch unverdorbenen Natur, in die nach und nach das Gift kleiner Alltagsünden geträufelt ward.
Anfangs gab Käthe alle „Marktgroschen“ an Julia ab, um sich gewissermaßen vor sich selbst[WS 7] zu rechtfertigen.
Schon am dritten Tage aber teilte sie das unterschlagene Geld in zwei gleiche Teile und kaufte sich für ihre Hälfte Petroleum, Seife und Stärke.
Die ganze Nacht hindurch wusch und plättete sie, ängstlich lauschend, ob der Herr auch nicht erwache und Licht in der Küche sehe.
Erst nachdem sie das Schlüsselloch verstopft, nahm sie das glühende Plätteisen aus dem Ofen.
Dies war am Sonnabend, dem schwersten Wochentage. Bis Mitternacht hatte sie die Küche gescheuert und aufgeräumt und fiel fast um vor Müdigkeit. Und dennoch frischte sie bis an den hellen Tag ihr rosa Perkalkleid auf, welches seit drei Jahren ihren höchsten „Staat“ ausmachte. Es war ihr zwar schon etwas zu kurz geworden und für die Schultern zu eng. Dafür aber ließ sich Rat schaffen, indem sie ihr schwarzes gehäkeltes Tuch umlegte und vorne zusteckte. Dies würde sogar sehr hübsch aussehen!…
Morgen sollte sie mit Johann ausgehen. O, wie werden sie die anderen Mädchen beneiden. Sie selbst aber würde darüber nicht einmal schadenfroh sein…
Drei Stunden würde sie mit ihm zusammen sein, allerlei Schönes sehen und zum erstenmal im Leben auch ein Vergnügen haben.
Nur eines machte ihr Kummer.
Ihr Kleid war zwar sauber und aufgeplättet. Die Schuhe würde sie so blank wichsen wie die Stiefeln des Herrn, und Hals und Hände sich gründlich waschen. Auch ein Taschentuch hatte sie einst auf der Straße gefunden, als sie morgens nach Sahne ging. Anfangs hielt sie es für einen Flicken, dann aber überzeugte sie sich, es sei ein Battisttuch. Jetzt hatte sie es sich frisch gewaschen und geplättet und morgen würde sie es in der Rechten tragen, wie anständige Mädchen.
Dies alles aber war nichts gegenüber der Sorge, ob Johann sich nicht schämen werde, mit einem Mädchen, welches nicht einmal einen Hut aufhabe, spazieren zu gehen.
Sie selbst liebte die Hüte nicht und ging lieber „im bloßen Kopf“. Johann aber war ein wenig Stutzer und trug Sonntags Gehrock und helle Beinkleider. Jetzt wußte sie wirklich nicht, wie dies werden solle, und ob er sich überhaupt mit ihr auf der Straße zeigen würde. Fast bedauerte sie, der Herrin nicht schon früher gehorcht und sich nicht noch mehr vom Marktgeld „erspart“ zu haben. In sechs Wochen konnte sie schon Geld genug „zurückgelegt“ haben, um sich einen Hut zu kaufen.
Daran hätte sie längst schon denken sollen. Morgen aber mußte sie ohne Hut über die Straße gehen und Johann nur bitten, es ihr nicht übel zu nehmen. Nach drei Wochen werde sie sich besser kleiden; jetzt müsse er sie schon nehmen, wie sie sei.
Mattes Frühlicht fiel auf Käthes über die Lade sorgenvoll gesenktes Gesicht. Steif gestärkt hing das Rosakleid an einem Nagel für das Küchengerät. Endlich erhob Käthe das Haupt und blinzelte mit den Augen nach dem Streifen vom blauen Himmel, der durch das kleine Fenster lugte. Auf ihrem Gesichte hinterließen Schlaflosigkeit und Abspannung ihre Spuren.
Unwillkürlich schlossen sich wieder die wie mit Blut unterlaufenen Augen, wie geblendet von der übermäßigen Anstrengung. Noch rangen die gelblichen Flecken unter der Haut mit der Purpurfarbe des Blutes, die nur ein junger Körper an sich trägt. Auch dies waren nur die Zeichen von schlechter Ernährung und Mangel an Nachtruhe. Offenbar waren die Kräfte nahezu erschöpft, die der Organismus zu seiner Unterstützung und Auffrischung bedurfte. Wer aber kümmert sich um diese Zeichen von Abspannung im Gesicht einer armen Magd und wer gewährt ihre jene Erfrischung?
Jede Nähmaschine wird von Zeit zu Zeit frisch geölt und ausgebessert. Das ist aber etwas ganz anderes:
Eine verdorbene Maschine kann man nicht umtauschen, sondern man muß eine neue kaufen, und das für schweres Geld. Eine kränkliche Magd jedoch wird man leichter los, und hundert andere warten schon auf die erledigte Stelle…
Käthe aber sorgte sich mit solchen Kleinigkeiten nicht ab. Arbeiten mußte sie unbedingt, denn dazu war sie geschaffen.
Heute fühlte sie sich sogar glücklich und beschwichtigte ihr Gewissen mit der wachsenden Neigung zu Johann.
Woher sonst sollte sie die Seife nehmen und die Stärke? Lieber wollte sie gar nicht ausgehen, als so schmutzig!
Und doch war dies „Ausgehen“ ihre einzige Zerstreuung, an die sie schon seit drei Wochen beständig dachte. Beim Anblick ihres gestärkten rosa Kleides und ihrer sauberen Wäsche bereute sie die Unterschlagung des Marktgeldes also gar nicht mehr…
Mein Gott! Diese paar Groschen machten doch den Herrn nicht arm und ermöglichten ihr, vor Johann anständig zu erscheinen.
Nur dieser – Hut fehlte noch!…
„Große Vorstellung! Wilde Tiere aus Asien und Amerika! Waldungetüme! Langgeschwänzte Tiger! Känguruhs und Beuteltiere! Immer herein, meine Herrschaften! Riesenschlangen, drei Ellen im Umfange! Sogleich beginnt die Fütterung! Eintritt zehn Kreuzer, Kinder und Militär ohne Charge die Hälfte!“…
Käthe sperrte Augen und Mund weit auf und schloß letzteren erst, als Johann sie kräftig anstieß.
Beide standen sie vor der Leinwandbude auf dem großen Platze voller Schutt und Steine von verschiedener Größe. An der Außenwand der Bude, nach der Straße zu, hing ein grelles Bild mit zwei Herren im Frack und einer Dame im pfefferfarbigen Kleide, alle drei in Lebengröße. In den ausgestreckten Armen hielten sie eine Riesenschlange, wie sie sich im Innern der Bude befand. Über dem Eingange prangte in großen Lettern die Inschrift: „Westindische Menagerie“, die ebenso unverständlich war für den gemeinen Mann, wie für den Gelehrten.
Anderer Meinung war jedoch Johann. Mit dem Hute schief auf dem linken Ohr erklärte er Käthe mit ungemeiner Sachkenntnis, was diese Worte bedeuten.
Dann bahnte er sich unter Püffen und Rippenstößen an die den Eingang belagernde Menge, also auf nicht eben zarte Weise den Weg zu der kleinen Treppe nach dem Vorraume für die Kasse der Leinwandbude.
Käthe, die sich auf seine Anweisung an seinem Rockschoße festhielt, um ihn nicht im Gedränge zu verlieren, starrte mit Erstaunen nach dem riesigen Ausrufer im phantastischen grünen Wams, mit langen Wachsleinwandstulpen auf den krummgetretenen Stiefeln und einer großen Reitgerte in der dicht behaarten Hand. Mit heiserer Stimme, aber fließend und ohne zu stottern, rief er obige Worte aus und starrte dabei mit gläsernen Augen in die Ferne. Dies war offenbar einer der Führer durch die Menagerie, der einzige, der der Landessprache mächtig, aber ebenso schlecht genährt war und vor Frost zitterte wie die übrigen.
Aus dem Innern der Bude drang das Brüllen einer Löwin und das Heulen eines Wolfes, aber nur gedämpft und weit entfernt von dem gewaltigen erschütternden Lärm in Wüsten und Wäldern. Mehr wie Seufzen und Klagen über die unbarmherzigen Gitter schallte es dumpf durch die Leinwand der Bude.
Ängstlich kauerte Käthe sich nieder und hielt sich noch fester an Johannes Rockschoß, während dieser das Eintrittsgeld bezahlte.
Verächtlich sah er sich um mit den Worten: „Ei! Fräulein, fallen Sie schon um, wenn der Löwe nur den Rachen öffnet? Stehen Sie doch auf, Ihnen wird nichts geschehen. Wozu wär ich denn hier?“
Und den Hut noch schiefer aufdrückend, nahm er ihren Arm, um sie hineinzuführen.
Auf dem Fuße folgte ihnen jener Führer im grünen Wams. Mit der größten Gleichgültigkeit leierte er vor jedem Käfige die gewohnten Erklärungen her, wie eine beständig arbeitende Maschine oder ein Perpetuum mobile, welches sich in die Bude verirrte.
Mit wahrer Andacht betrat Käthe das Innere, nachdem sie auf der Schwelle verstohlen sich bekreuzt, aus Furcht vor den wilden Tieren, die hinter den geschwärzten Gittern ihre Rachen öffneten.
Johann dagegen verhöhnte nur die „Bestien“ und näherte sich, die Hände in den Taschen, immer mehr den Käfigen mit einer Keckheit, die Käthe in Erstaunen versetzte. Noch mehr bewunderte sie ihn, als er einem Luchs ein langes Stück Holz unter die Nase hielt. Um nichts auf der Welt hätte sie dies getan! Nein! Sie sah sich lieber alles von weitem an.
Johann aber lachte nur über ihre Angst und wurde immer dreister.
Allmählich ermutigte dies auch Käthe und sie sah sich aufmerksamer um. Vor ihr auf einer Erhöhung zog sich eine ganze Reihe von Käfigen hin, die vorn mit ziemlich dünnen Eisenstäben versehen waren.
In den Käfigen schliefen die Tiere oder hockten schlaftrunken in den Winkeln und starrten die an die Gitter sich drängende Menge mit seltsamen Blicken an.
Eine wahre Stickluft herrschte in der ganzen Bude.
Der Geruch von nicht allzu frischem Fleisch, dessen Überreste sich in manchen Käfigen anhäuften, vermischte sich mit den widrigen Ausdünstungen der Tier und der die Menagerie besuchenden Menge. Die schrillen Klänge eines klapprigen Leierkastens, der unaufhörlich dieselben Stücke spielte, übertäubten sogar das Brüllen der Tiere und das Stimmengewirr der Menge.
Einige Petroleumlampen erhellten nur spärlich dieses Tier- und Menschenelend, welches aus jedem Käfig und jedem Winkel herausblickte, sogar aus dem Gesichte des Mannes im grünen Wams.
Jetzt stand er dicht neben Käthe und setzte seine Erklärungen fort. Eben zeigte er nach einem Käfig, in dem zwei Waschbären ruhig schliefen und die Nasen zwischen die Gitterstäbe steckten.
„Zwei Waschbären! Das Männchen ein halbes Jahr, das Weibchen zwei Jahre, zusammen also drittehalb Jahre alt!“
Rings drängte sich die Menge, neugierig, nähere Kenntnis zu erhalten über all diese den übrigen, denen sie sonst im Leben begegnete, so unähnlichen Tiere. Dabei stritt sie sich herum und bedauerte ihre Dummheit, die sich auch auf den schweißtriefenden Gesichtern ausprägte.
„Der amerikanische Vogel Strauß!“ fuhr der Mann im grünen Wams fort. „Macht es nicht wie der Kuckuck, sondern legt selber seine Eier!“
Hier hielt es Johann für angemessen, zu bemerken: „Seht doch! Welch seltsame amerikanische Mode!“
Diesen Worten folgte schallendes Gelächter. Nur Käthe hielt sich wie aus Anstandsgefühl den Mund zu, um nicht laut aufzulachen.
Wie verwundert über diesen plötzlichen Lärm in der Bude rissen die Tiere in den Käfigen weit die Augen auf. Der Luchs zog sich zurück in den dunklen Hintergrund und die Eulen schmiegten sich dichter aneinander.
„Die Hyäne! Scharrt die Leichen aus und frißt sie lebendig!“
Allgemeine Aufregung herrschte in der Menge. Nur Johann meinte, sie fresse auch „faule Äpfel“, und ein Ulan setzte Zweifel in jene „lebendigen Leichen“…
Zu weiteren Bemerkungen fand sich jedoch keine Zeit.
Man näherte sich dem Bärenkäfig und laute Beifallsrufe begrüßten die unförmliche Masse, die ihre Zotten schüttelte im matten Lichte der über dem Käfig hängenden Lampe.
Beim Anblicke des Mannes im grünen Wams schleppte sich der Bär dicht an den Rand des Käfigs, stellte sich auf die Hintertatzen und streckte die vorderen aus, wie zur Umarmung, indem er die wie geschwollenen Klauen breit auseinanderspreizte.
Der Mann im Wams näherte sich dem Käfig und ließ den Bären seine Schultern umfassen, als behage ihm diese gefährliche Liebkosung.
Ein Weilchen standen sie so eng verbunden da, wie zwei Leidensgenossen, beide stark und trotzdem schwach, vom Unglück gefesselt, von dem sie sich nicht losmachen konnten.
Der Bär war augenscheinlich diesem Manne sehr zugetan und zog ihn, unaufhörlich brummend, immer dichter an sich.
In der Menge wuchs das Erstaunen mit jedem Augenblicke.
„Wie? Dieser Herr fürchtet sich nicht vor dem Bären? Das muß ein Hexenmeister sein!“
Käthe steckte vor Verwunderung schon das ganze Taschentuch in den Mund.
Nur Johann bewahrte sich den gewohnten Gleichmut und brüstete sich in der nur ihm eigentümlichen Weise: „Was ist dabei so Großes? Das tu’ ich auch, nur hab’ ich keine Lust, mir von der Bestie den neuen Rock zerreißen zu lassen. Das ist gar keine Kunst, nur muß man Kraft in den Händen haben!“
Und mit den breiten, schwieligen Händen vor den Augen der Menge herumfuchtelnd, zeigte er die harte Haut und die unförmlich dicken Finger mit den kurz abgeschnittenen Nägeln.
Mit Bewunderung blickte Käthe nach diesen Händen. Wie kräftig mußten sie sein, wenn Johann sagte, er könne mit ihnen den Bären festhalten!
Schon aber wandten sich alle nach einer anderen Seite. In der dunklen Ecke hing dort ein Vorhang, der augenscheinlich den Eingang zu weiteren Menagerieräumen verhüllte.
Der Mann im grünen Wams trat, nachdem er sich von der Umarmung des Bären befreit, vor den Vorhang und fragte mit lauter Stimme: „Ein Menschenfresser! Wer will ihn sehen?“
Wieder herrschte große Aufregung unter den Zuschauern. Ein Teil derselben konnte nicht begreifen, was dies heißen solle. Gewiß war dies irgend ein unbekanntes Tier, und zwar ein ganz besonderes, weil man es so abgesondert hielt.
Und hunderte von Augenpaaren bemühten sich voller Neugier, durch den Vorhang hindurchzublicken, der solch ein Naturwunder verbarg.
Wieder aber erhob Johann seine Stimme: „Ich weiß, was für ein Satan hinter diesem Vorhange sitzt: Schon öfters sah ich ihn. Er ist ein Mensch wie wir, nur so schwarz wie ein Schlotfeger und dabei ißt er – Menschenfleisch.“
Niemand wollte ihm dies glauben. Das ist doch rein unmöglich. Die Polizei würde so etwas gar nicht erlauben.
Johann schlug jedoch ärgerlich mit der Faust sich auf die Brust, um die Wahrheit seiner Worte zu verbürgen.
Jetzt regte sich in der Menge der Wunsch, dies Ungeheuer näher anzusehen. Da aber dafür besonders bezahlt werden mußte, entfernte sich so mancher entrüstet über diese doppelte Ausgabe und über den Menageriebesitzer, der sich den Eintritt bezahlen ließ und trotzdem nicht alles zeigte, was vorhanden war.
Johann aber bezahlte für sich und Käthe, nahm deren Arm und führte sie hinter den Vorhang. Ihnen folgte etwa ein Dutzend Leute, die sich Sonntags ein solches Vergnügen leisten konnten.
Zum erstenmal befand sich Käthe in so großer Gesellschaft und diese Auszeichnung machte ihr viel Spaß. Dieser Johann verstand es, ein Mädchen zu unterhalten, und es war eine Lust, mit ihm auszugehen!
Der „Menschenfresser“ saß im Winkel zwischen zwei Wänden der Bude auf einer mit rotem Tuch ausgeschlagenen Erhöhung und hob sich dort wirksam ab im hellen Lichte zweier mit Spiegeln versehenen Lampen.
Es war ein armer Kerl aus Polnisch Brody, nur schwarz angemalt.
Für zwanzig Kreuzer täglich hatte er sich verpflichtet, lebendige Kaninchen vor den Augen der Zuschauer zu zerfleischen und aufzuessen.
Anscheinend mit seinem Lose ganz zufrieden, blickte er behaglich auf die Menge herab, die sich zu seinen Füßen zusammendrängte.
Gehüllt in eine Tunika aus schmutzigem Wollstoff, verziert mit bunten Gänsefedern, streckte er nur die nackte Brust vor von kohlschwarzer Farbe, die auch seinen ganzen Körper überzog.
Auf dem Kopfe trug er eine Krone, gleichfalls von Gänsefedern und in den Ohren riesige Tombakringe, die mit dünnem Draht befestigt waren.
Dies alles machte ungeheuren Eindruck auf die Versammelten, die mit Scheu und Entsetzen diesen Schwarzen vor sich sahen, welcher sich von Menschenfleisch nährte. Nur Johann begann wieder zu spotten. In der ersten Reihe stehend, achtete er gar nicht auf Käthes Aufregung und bemühte sich, der Menge vorzureden, der Menschenfresser werde sich demnächst auf sie stürzen und sich irgend jemand auswählen zum Auffressen.
Ein kleiner Schneidergesell verkroch sich sofort in den entlegensten Winkel aus Angst vor einem Überfall. Allgemeine Unruhe entstand in dem kleinen, engen Raume. Unwillkürlich drängten sich die Leute aneinander, ängstlich besorgt um ihre elenden Körper, die sie so mühsam ernähren mußten.
Der Ulan glaubte jedoch Johannes Worten nicht und wünschte Aufklärung. Weshalb ließ man die Leute hier herein, wenn das Scheusal wirklich ihnen etwas antun sollte? Nein, dies erlaubte der Magistrat nimmermehr und erteilte entsprechenden Befehl. Übrigens, sollte hier wirklich jemand aufgefressen werden, so wäre dies gewiß nur das „dicke Fräulein, welches dicht vor dem Vorhange stand.“
Aller Augen richteten sich jetzt auf Käthe, die in der Tat in der ganzen Versammlung das beste Material dazu darbot.
Beschämt und verlegen, schmiegte sie sich unwillkürlich dichter an Johann an, als suche sie bei ihm Schutz und Rettung. Dieser aber spreizte die Beine und schrie dem Ulanen zu: „Halt’s Maul, du Grünschnabel, sonst brenn’ ich dir eins auf, daß du die Engel im Himmel pfeifen hörst!“
Eingedenk seines Faustkampfes mit dem Kanonier, bemühte sich Käthe, ihn zu beruhigen, zumal da auch der Ulan eine entsprechend drohende Haltung annahm.
Zum Glück brachte man soeben ein kleines weißes Kaninchen und die Neugier überwog die Kampflust.
Beide Gegner verstummten und sahen gespannt nach dem Schauspiele, welches sich ihren Blicken bot.
Das Kerlchen aus Brody nahm das unglückliche Kaninchen in beide Hände, riß es geschickt in zwei Hälften, entfernte die bluttriefenden Eingeweide und verzehrte das rohe Fleisch ohne jeden Widerwillen.
Neben ihm erschien jetzt auf der kleinen Bühne der Mann im grünen Wams und erklärte mit eintöniger Stimme: „Sehen Sie, meine Herrschaften, das ist der Menschenfresser. Stammt vom Berge Libanon. Im Türkenkriege fingen und zähmten ihn die Engländer. In Wien fraß er ein altes Weib auf mit Haut und Haaren.“
Mit seiner Stimme mischten sich die schrillen Klänge des Leierkastens, die durch den Vorhang drangen. Wie dieser Leierkasten, der soeben „Verdis Miserere“ schluchzte, ewig dasselbe Stück spielte, um das in der Bude herrschende Elend etwas einzulullen, so wiederholte auch dieser Mann seit Jahren stets dasselbe Geschwätz in allen Städtchen und Dörfern, in denen er sich herumtrieb.
Noch immer war der Menschenfresser mit dem Kaninchen beschäftigt, dessen Blut sich mit seiner schwarzen Hautfarbe vermischte. Das Blut des Kaninchens tropfte an die Erde und erkaltete auf dem roten Tuche oder bespritzte die Leinwand der Bude.
Die dicht vor der Bühne Stehenden hielten schweigend den Atem an und beobachteten jede Bewegung des vermeintlichen Menschenfressers.
Noch enger schmiegte Käthe sich an Johann, der, diese Gelegenheit benutzend, sie in den Arm kniff. Auch jetzt ärgerte sie sich nicht darüber. Denn der leichte Schmerz bereitete ihr Vergnügen, wenn auch nicht in dem Maße wie der Anblick Johanns.
O nein, dies war etwas ganz anderes. Jetzt aber befiel sie eine seltsame Schwäche, wie eine Ohnmacht, die ihr nicht ermöglichte, sich zu wehren und seine allzu kühne Hand zurückzuweisen.
Daher stand sie vor der Bühne, wie noch immer in das Anschauen des Menschen- oder vielmehr Kaninchenfressers versunken, fühlte aber trotzdem recht gut jenes Kneifen über dem Ellbogen. Früher hätte sie sich gewiß dagegen gewehrt – . Jetzt fehlte ihr einfach dazu die Kraft.
Mein Gott! Johann war heute gegen sie so gut! Er holte sie selbst aus der Küche ab und sagte, sie sehe ganz „forsch“ aus. Und doch hätte er die Nase rümpfen können, weil sie „ohne Hut“ ging, wie ein Bettelmädchen. Er aber meinte, er sehe sie lieber „im bloßen Kopf“, das mache sich weit „forscher“.
Dann gingen sie zusammen die Treppe herab, dicht vorbei an der Küche der Frau Gräfin. Die Köchin saß, wie immer nachmittags, am Fenster und las im Gesangbuche. Das Stubenmädchen flocht sich den falschen Zopf, der am Henkel des Samowar hing.
Als sie Käthe mit Johann erblickten, sprangen sie beide auf, warfen Buch und Zopf beiseite und eilten auf die Treppe, um ihnen neugierig nachzusehen.
Käthe errötete vor Freude, als sie an ihnen vorüber schritt. Ihre frischgestärkten Röcke raschelten wie Papierschnitzel und die neubesohlten Schuhe knarrten bei jedem Schritte.
Käthe bedauerte fast, daß Mary schon früher ausging und ihren „Staat“ nicht mit ansah. Wie würde jene sich gewundert haben, daß Johann heut’ mit ihr, dem „Mehlsack“, ausging.
Als Käthe endlich die Menagerie verlassen, blieb sie noch ein Weilchen mitten auf der Straße stehen, um sich an das Tageslicht zu gewöhnen.
Johann rauchte seine lange „Virginia“, deren Strohhalm er sich hinter das Ohr steckte.
Langsam schlenderten sie durch die hellen Straßen, vorüber an den langen Reihen weiß getünchter Häuser.
Lächelnd und rotwangig trippelte Käthe neben Johann, der jedem vorübergehenden „Zylinder“ ein Rauchwölkchen unter die Nase blies.
Als sie den „Stadtberg“ erreicht, wandten sie sich zunächst nach der von hohen Bäumen dicht beschatteten Allee. Unter ihren Schritten knirschte der Kies und die Baumwipfel rauschten im Winde.
Käthe lehnte sich an den kleinen Zaun, der auf der Anhöhe eine Art von Geländer bildete.
Johann stand vor ihr und bemühte sich, seine Zigarre wieder anzuzünden, was bei dem starken Luftzug keine Kleinigkeit war.
Inzwischen erfreute sich Käthe an der prachtvollen Aussicht. Tief unter ihr lagerte die Stadt, die mit ihrem Umfange und der Menge von Prachtbauten einen großartigen Eindruck machte. Fast glich sie einem breiten See mit unregelmäßigen, zackigen Ufern.
Aus der Flut von Dächern und Schloten ragten die Kirchtürme empor, deren Kreuze in den Strahlen der Nachmittagssonne blinkten.
Das schwarze Zifferblatt der Rathausturmuhr zeigte auf fünf.
Und still und friedlich lag die ganze Stadt zu den Füßen dieser Anhöhe, die darüber die mit üppigem Grün bekränzte Stirn erhob.
Unter all jenen friedlichen Dächern und anscheinend verloschenen, weil nirgends rauchenden Schloten hätte niemand so viel moralisches und materielles Elend geahnt.
So glich die Stadt einem im warmen Sonnenscheine sanft schlummernden Tiere, welches im Innern nur Mordgier birgt und Heuchelei.
Lange blickte Käthe auf das Häusermeer hinab. Wohl wußte sie, daß die Stadt sehr groß sei, nicht aber, daß sie solche Ausdehnung habe.
Vergebens schweifte ihr Blick nach den Vorstädten, um das Haus zu suchen, in dem sie wohnte. Da mußte Johann ihr zu Hilfe kommen. Dieser aber war jetzt mit etwas anderem beschäftigt.
Soeben ging ein Händler vorüber, der allerlei Näschereien zu verkaufen hatte. Den ganzen ärmlichen Kram trug er in einem Körbchen am Lederriemen.
Johann wählte ein Paketchen mit Pfefferkuchen in Rosapapier und einige Bonbons mit Versen.
Käthe wurde über diese unerwartete Galanterie feuerrot und öffnete mit vor Aufregung zitternden Händen das Paketchen.
Inzwischen las Johann mit erhobener Stimme die auf den Bonbons liegenden Verschen vor.
Dieselben erschienen Käthe als etwas ganz Ungewöhnliches und besonders ein Vers versetzte sie in große Verlegenheit, sodaß ihr ein Stück Pfefferkuchen fast im Halse stecken blieb, als Johann mit schallendem Gelächter wohl zehnmal wiederholte:
„Jeder Käthe auf der Welt
Ihr – Johann sich zugesellt.“
Nein! Das konnte unmöglich so gedruckt dastehen. Gewiß hatte Johann es schnell sich nur so ausgedacht.
Als sie sich mit eigenen Augen zu überzeugen wünschte, zeigte er ihr das verknüllte Papierchen, auf dem sie wirklich mit vieler Mühe jene Poesie entzifferte: Wie sonderbar! Das war ja gerade wie auf sie gemünzt.
Johann aber raunte ihr allerhand kühne Vorschläge in das Ohr, die er mit den Worten begründete: „Da steht es ja gedruckt, Fräulein, Sie müssen die Meine werden!“
Noch immer nicht völlig überzeugt, ließ sich Käthe jetzt dennoch den Pfefferkuchen und die Pfeffermünzbonbons schmecken. Die Verse erschienen ihr zwar ganz gelungen, aber gab es denn auf der Welt nur einen Johann und eine Käthe?…
Allmählich erlangte sie den scheinbar augenblicklich verlorenen Gleichmut wieder und verbarg auf diese Weise ihre Verwirrung mit einem Lächeln.
Jetzt setzten sie sich auf eine Bank unter eine breitästige Eiche und blickten einander auf ganz verschiedene Art an. Während Johann mit seinen Blicken Käthe förmlich verschlang, – so hübsch erschien sie ihm im sauber gewaschenen Kleid und im glatten Haar, – schlug sie die Augen nieder und erhob sie nur dann und wann, um ihn hold errötend anzuschauen.
Und beiden war so wohlig um das Herz in dieser friedlichen Stille, die nur ab und zu das Rauschen der Blätter oder der Schall der Schritte irgend eines Vorübergehenden unterbrach.
Zu ihren Füßen ruhte die Stadt aus nach der Arbeit einer ganzen Woche und untätig ragten ihre Fabrikschlote gen Himmel.
Rings bis zum Horizonte wurde die Ebene durchschnitten von den nach den umliegenden Dörfern führenden Wegen und nach rechts blinkte das Viereck eines Weihers, wie ein Riesenspiegel in grünem Rahmen.
Über ihnen lugte hier und da durch dichtes Laubwerk der blaue, wolkenlose Sommerhimmel.
Mit vollen Zügen atmeten sie beide die frische Luft ein. Ward sie ihnen doch zwischen den Mauern voller städtischer Dünste nur zu selten geboten.
Käthe, die seit Wochen dieses Lebensbedürfnis entbehren mußte, und nur den Geruch von Seife, Spülich oder Faßbutter gewöhnt war, fühlte sich jetzt wie berauscht, gleich einer Gefangenen, die plötzlich die Freiheit wieder erlangt.
Die an ihnen vorüberwandelnden Pärchen bestanden aus Mädchen mit mehr oder minder frechem Benehmen, und Männern mit herausfordernder siegesgewisser Haltung.
Bei ihrem Anblick erfüllte Käthe eine unbeschreibliche Angst, über die sie sich selber nicht klar werden konnte. Dies war das instinktive Vorgefühl ihres bevorstehenden – Falles…
Mit gestohlenen Akazienzweigen in den Händen, maßen jene Mädchen sie mit Blicken, die sie vollends verwirrten.
Ohne dies hätte sie sich vollkommen glücklich gefühlt, so angenehm war ihr dieser Sonntag-Nachmittag verlaufen.
Johann aber erhob sich von der Bank und lud sie zur Weiterwanderung ein. Da er seinen Plan bis aufs Letzte vollständig durchführen wollte, sollten sie jetzt irgendwo zusammen ein Gläschen Bier trinken.
Als Käthe ein wenig zauderte, versicherte er, sie könne getrost mit ihm gehen, nicht etwa in eine gewöhnliche Kneipe, o nein, er wisse schon, wohin er ein anständiges Fräulein zu führen habe.
Dies sei ein Konzertgarten für die feinste Gesellschaft; sogar Kaufleute und Künstler tränken dort ihr Bier und lauschten der Musik einer – Damen-Kapelle.
„Wie? Einer Damen-Kapelle?“ fragte Käthe erstaunt.
Er aber lachte, hocherfreut, daß er ihr heut’ eine Überraschung nach der andern bieten könnte und erklärte ihr, das seien eben Damen, die ebenso Musik machten wie die Männer.
Da sie gerade bei der Paulinerkirche vorübergingen, blieb Käthe an der Pforte stehen, als wolle sie eintreten, um ein Gebet zu sprechen. Gern hätte sie dies auch getan, da sie seit drei Wochen nicht in der Kirche gewesen war.
„In die Kirche? Wozu?“ scherzte Johann in seiner Weise. „Das ist gut für kleine Kinder; dazu bin ich schon zu klug!“
Dabei schob er den Hut auf das Ohr und sah ironisch nach der Statue des St. Onufry, der in einer Nische an der Kirchentür auf den Knieen lag.
Käthe wurde ganz verwirrt im Kopfe, folgte aber trotzdem Johann langsam in der Richtung nach dem Konzertgarten, aus dem muntre Walzerklänge herausschallten. Dort ging es gewiß weit lustiger zu, als in der düsteren, traurigen Kirche, nur daß…
Nicht ohne Gewissensbisse betrat sie den Garten. Johann aber saß schon an einem Tischchen und rief ihr zu, sie möge sich beeilen und auch Platz nehmen.
In der Tat war es schon sehr voll und überall drängten sich scharenweise die Menschen. Nur durch Johanns Gewandtheit erhielten sie noch Plätze an einem Tischchen dicht vor der Bühne.
Sofort bestellte Johann bei dem ziemlich schmutzigen Kellner: „Zwei Butterbrote mit Schinken und zwei Glas Bier.“
Käthe sah inzwischen sich um, als suche sie nach irgend einem bekannten Gesicht. Plötzlich bemerkte sie unweit an einem anderen Tischchen Mary, die soeben mit einem feinen Herrchen Brüderschaft trank.
Käthe freute sich nicht wenig, daß Mary sie endlich in Johanns Gesellschaft sah. Wenn sie nur nicht von ihr ausgelacht und „Mehlsack“ genannt wurde vor all den Leuten! Das wäre doch höchst unangenehm!
Daher versteckte sie sich nach Möglichkeit und duckte ihre große Gestalt, um nicht von ihrer Feindin gesehen zu werden.
Auf alle Eigenliebe verzichtend, wollte sie lieber nicht des Triumphes über die gewonnene Freundschaft Johanns sich erfreuen.
Mary aber war mit ihrem Galan viel zu eifrig beschäftigt, um auf andere zu achten. Feuerrot von Sonnenglut und erhitzenden Getränken, glättete sie ihr verknülltes Kleid und zeigte dabei die roten Arme, die unter den halblangen Ärmeln hervortraten.
Allmählich beruhigte sich Käthe.
Nachdem der Kellner das Bestellte gebracht, aß sie, ohne sich zu beeilen, ihr Schinkenbrötchen, während Johann schon nach dem zweiten Glas Bier rief. Seine Stimme verhallte jedoch in dem den Garten erfüllenden Lärm.
Hunderte von Leuten mit abgelebten Zügen tauchten die welken Lippen in die mit hellem Bier gefüllten Krüge. Andere tranken Kognak und aßen harte Eier, die sie in grob gestoßenes Salz eintunkten.
Alle Männer rauchten billige Zigarren oder Zigaretten. Manche knöpften sich die Westen auf und lösten die Kragen, um besser trinken zu können.
Auf der Bühne saßen in einer Reihe sechs junge Mädchen. Alle in roten Velvetkleidern und mit demselben Ausdrucke von Abspannung und vorzeitiger Entwickelung in den von der ungesunden Luft, die sie umgab, gewelkten Gesichtern. Hinter ihnen standen einige Männer, gleichfalls im roten Frack mit Blasinstrumenten und Trommeln.
Die Mädchen aber stemmten das Kinn auf die Geigen und strichen, ohne auf die Noten zu sehen, mit dem Bogen auf die Saiten, unbekümmert um alle Harmonie.
Jede von ihnen hatte in einem der Männer, die die Bühne belagerten, ihren Geliebten, der sie ab und zu prügelte, aber dennoch leidenschaftlich liebte. Daher waren die übrigen Zuhörer ihnen auch völlig gleichgültig; sie spielten nur, was auf dem Zettel stand, um dann heimzukehren zu neuen – Schlägen und Liebkosungen.
Das Stimmengewirr und das Klirren der Gläser und Teller überschallte fast die Walzerklänge.
Inzwischen fand Johann auch bald Gesellschaft. Ein Schlosser setzte sich zu ihnen mit seiner hageren Ehehälfte.
Käthe machte ihnen bereitwillig Platz und nach kurzer Einleitung begann die Unterhaltung mit der Klage über das doch allzu sehr gewässerte Bier. Dann plauderten sie zusammen über alles Mögliche. Den Hauptstoff aber bot die „Menagerie“ und beständig war auf Johanns Lippen der „Menschenfresser“. Trotzdem vergaß er Käthe nicht, die, nachdem sie auch ihr Bier getrunken, ruhig dasaß und sich nicht viel am Gespräche beteiligte.
Immer wieder wandte er sich an sie mit der Frage, ob sie auch noch gut sitze und genug Platz habe am Tische.
Dann ließ er noch Semmeln mit Käse bringen und stellte alles vor sie hin mit der Bitte, selbst davon zu essen und die Gesellschaft zu bewirten. Sie selbst nahm sich nur eine Semmel; denn obgleich sie den Käsegeruch liebte, fürchtete sie, sonst „unfein“ zu erscheinen.
Der Schlosser aber ermangelte nicht, vier Schnäpschen zu bestellen und bald standen sie auf dem Tische. Da die Gläschen winzig klein waren, leerte auch Käthe eines mit Behagen. Die übrigen wunderten sich nur, daß man die Gläschen nicht lieber als Fingerhüte benutzte.
Johann wollte es noch einmal versuchen, weil er nicht einmal gefühlt habe, daß der Schnaps durch die Kehle ging, die Zunge sei nicht einmal angefeuchtet von den „paar Tropfen“, sondern vollkommen trocken.
Daher bestellte er noch „vier Persiko“.
Jetzt rückte die Gesellschaft näher aneinander, wie gute Freunde. Wenn es an das „Traktieren“ geht, ist es so am besten. Auch Johann näherte sich noch mehr Käthe, die sich an ihn schmiegte wie im Halbschlummer.
Sie hatte eben keinen „guten Kopf“ und sobald sie auch nur ein Schnäpschen getrunken, schon „gläserne“ Augen. Der „Persiko“ schmeckte weit besser, zwar etwas süßlich, aber höchst angenehm.
Die Schlossersfrau erzählte, sie leide öfters an den „Nerven“, und dabei verzog sie kläglich das Gesicht, um eine Vorstellung von ihren Anfällen zu geben, deren Schauplatz oft die ganze Küche und Werkstatt sei.
„Wenn es mich ankommt, möcht ich jedem ins Gesicht schlagen. Dann beruhigt mich nur „Vanillenlikör“. Der tut mir so gut, daß ich sofort einschlafe“.
Lachend schlug Johann jetzt vor, dies Mittel auch hier anzuwenden. Auch er leide manchmal an den „Nerven“, namentlich wenn man ihm den Kehricht auf den Hof werfe. Daher möchte er versuchen, ob die „Frau Meisterin“ die Wahrheit gesagt habe.
Der Schlosser aber wollte dies nicht zulassen, weil er jetzt an der Reihe sei, zumal, da es sich einfach um eine Arznei für seine Frau handle.
Nach dem dritten Gläschen wurde es Käthe ganz eigentümlich zu Mute. Trinken mußte sie, sonst zürnte ihr die Gesellschaft und nähme sie niemals wieder mit. Wußte sie doch sehr wohl, was die Höflichkeit verlangt.
Nur schwindelte ihr nach dem letzten Likör der Kopf, als fühle sie darin etwas Fremdes, irgend einen Klumpen, den man ihr wider Willen hineingelegt. Bäume und Menschen, Gläser und Tische, alles verwirrte sich vor ihren Augen, bis sie mit beiden Händen sich auf den Tisch stemmte, um sich den Anschein völliger Nüchternheit zu geben.
Ja, gewiß war Johann der bravste Mensch auf der Welt, da er sie so gut behandelte und wie eine Gräfin bewirtete.
Womit hatte sie so viel Güte verdient, und wie sollte sie ihm dafür danken?!
Zwei Gulden hatte er schon für sie ausgegeben und jetzt wieder bestellte er einen „Wermut“, damit ihr wieder besser werde.
Der Schlosser dagegen riet zu einer Tasse Tee mit Arak und die Schlossersfrau wieder zum Vanillenlikör…
Im übrigen ging es im Garten sehr heiter zu. Allmählich angefacht von den berauschenden Getränken, plauderten und lachten die Leute immer lauter.
Manche saßen schon auf den Tischen, um die Kapelle besser sehen zu können.
Johann aber stellte sich auf die Bank, denn da unten müsse er, wie er meinte, sich einfach die Ohren zustopfen.
Ein angeheiterter Ulan stritt sich dort herum mit einem Infanteristen, dessen Uniform und plumpe Gestalt ihn offenbar reizte.
Auf dem Stuhl sich räkelnd, sang er mit Stentorstimme irgend ein Spottlied:
„Die Ulanen allein
Trinken Bier und Wein,
Doch die Infanterie
Glotzt wie das Vieh…“
Die heisere Soldatenstimme mischte sich mit den Klängen der Kapelle, sodaß die näher stehenden Gäste höchst ungehalten wurden über das unerwünschte Solo, welches sie im Anhören der Musik so störte.
Der Ulan aber spottete aller Drohungen und sang immer lauter und schlug den Takt dazu mit dem Glase auf den Tisch.
„Jenes Tuch, das du mir gabst,
Warf ich in die Lumpen bald –
Glaubst du etwa, daß ich dich
Für ein feines Fräulein halt’?“…
„Still dort, du glänzendes Elend!“ schrie Johann, da er es für angemessen hielt, sich einzumischen. „Scheer dich in die Kantine und heule dort weiter – Hier aber laß die Leute zufrieden!“
Mühsam nur öffnete Käthe die Augen und zupfte Johann am Rockschoß. Wozu sich hier herumstreiten mit dem ersten Besten? Schließlich würde er noch gar auf die Polizei geführt.
Dadurch etwas besänftigt, bestellte Johann noch vier Kognaks.
Obgleich Käthe durchaus nicht mehr trinken wollte, weil ihr schon so voll auf der Brust sei, drang er dennoch in sie und nannte sie „Du“. Dabei berührten sich ihre Köpfe, so dicht saßen sie aneinander. Übrigens brauchten sie sich durchaus nicht zu genieren. Denn die allgemeine Aufmerksamkeit wurde soeben auf eine Familienszene gelenkt, die sich am Eingange des Gartens abspielte.
Ein Ehepaar zankte sich dort herum nach dem achten Glase Bier und warf sich gegenseitig allerlei Verirrungen vor.
Sie wehrte sich wie eine Löwin und erfüllte den engen Garten mit dem wüsten Geschrei einer halbbetrunkenen Handwerkersfrau: „Ich bin ein eheliches Kind und lasse mich nicht so schlecht behandeln wie die erste Beste!“
Mit gleichem Geschrei äußerte der Gatte gewisse Zweifel an ihrer Abstammung.
Die Gäste wurden unruhig und umringten das streitende Paar. Das Kreischen der Kinder, die sich an die Röcke der wutschnaubenden Frau anklammerten, erfüllte das Maß der chaotischen Verwirrung.
Inzwischen sank die Dämmerung auf den Garten herab. Über die lärmende Menge breitete allmählich die Nacht ihren Schleier.
Hie und da brannten auf den Tischen schon die Lichter, geschützt vor dem Winde durch Glasglocken.
Die Schlossersfrau, völlig gestärkt von ihrem Likör, wurde immer zärtlicher und hingebender gegen den Gatten.
„Männchen“, bat sie, „gib doch deiner Angetrauten einen Kuß!“
Mit halberloschenem Blicke sah Käthe diese Zärtlichkeit mit an und fühlte dabei, jetzt müsse sie heimkehren. Die Herrschaft erwartete sie gewiß schon längst. Ihre Füße aber waren wie von Blei und die Müdigkeit übermannte sie vollständig.
Johann jedoch stand auf und bezahlte die Rechnung. Dann erhob er Käthe fast mit Gewalt und wandte sich dem Ausgange zu.
O, er hatte einen weit „stärkeren Kopf“ und hielt sich viel sicherer auf den Beinen, während Käthes Riesengestalt fast taumelte, als sie bei Mary vorüberkamen. Letztere bemerkte sie endlich und beide maßen sich mit bedeutsamen Blicken.
Käthe empfand, trotz ihrer Sanftmut, unter dem Einflusse der berauschenden Getränke einen gewissen Haß und dumpfen Groll gegen Johanns frühere Geliebte. Auch Mary verhehlte ihren Ärger nicht beim Anblicke dieses „Mehlsackes“, der sich so öffentlich an der Seite ihres ehemaligen Verehrers zeigte.
Nur zu leicht wäre es zwischen den beiden Weibern zu einem Auftritt gekommen ohne das Dazwischentreten Johanns, der einen Wutausbruch mit üblen Folgen befürchtete…
Bald darauf befand sich Käthe auf der Straße, wo die frische Luft sie wieder in das Gleichgewicht versetzte.
Johann aber umschlang sie halb, als er sie führte, und flüsterte ihr allerlei zweideutige Worte in das Ohr.
Jetzt jedoch ließ sie sich nicht so leicht verleiten.
Dort im Garten am Tische war es etwas anderes. Die Musik, das erhitzende Getränk und die Sonnenglut, dies alles verwirrte sie fast bis zur Bewußtlosigkeit.
Jetzt auf der Straße wurde ihr wenigstens teilweise ihre Lage wieder klar.
O nein! Daraus wird nichts! Sie war doch kein Mädchen, welches sich um ein Glas Bier so weit vergißt. Ein Butterbrot konnte sie auch mit ihm essen und dabei sogar lachen und scherzen. Aber, wo die Grenze ist, wußte sie ganz genau. Und Johann war ein braver Mann, der sie gewiß in Ruhe läßt, wenigstens für heute…
Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Schon standen sie vor ihrer Haustür und noch immer wies sie ihn ab, obgleich sie nur zu gern noch in seiner Gesellschaft geblieben wäre. Und fast mit Gewalt entwand sie sich seinen Armen, mit denen er sie an sich preßte.
Dabei hatte sie doppelt zu kämpfen: mit ihm und mit sich selber, mit jener Ohnmacht, die sie jetzt fast immer befiel bei seiner Annäherung.
Noch auf dem Hofe hatte sie große Lust, wieder umzukehren, um ihm noch einmal zu danken für den so angenehm verlebten Nachmittag. Eine unbestimmte Angst aber trieb sie nach oben, wie ein verfolgtes Wild, welches hinter sich den sicheren Tod fühlt. Jedes Weib erfüllt solche Angst vor dem – Falle.
Erst auf der Treppe wurde sie wieder völlig nüchtern. Ihr einziges Bestreben war jetzt, in die Küche zu gelangen und die Tür hinter sich zu verschließen.
Als sie abends vor dem Bette kniete, empfand sie eine gewisse Unruhe.
Allerdings hatte sie sich köstlich vergnügt, gut gegessen und getrunken und allerlei Wunder gesehen, und Johann war gegen sie sehr aufmerksam. Trotzdem aber fühlte sie ein seltsames Unbehagen im Herzen. Dabei hatte der Schnaps sie vollends betäubt. Kaum noch die Hände vermochte sie zu erheben, um sich zu bekreuzen.
Abgespannt von dem Eindrucke des ganzen Tages, schlief sie auf den Knien ein und stützte den Kopf auf die auf dem Bettuche ruhenden Hände.
So hatte sie auch in der ersten Nacht im neuen Dienste geschlafen, aber nur aus Überanstrengung und Ermattung. Heute hatte sie Zerstreuung gesucht und gefunden, fühlte sich aber ebenso zermartert an Leib und Seele.
Welcher Zustand ihr mehr zusetzte, darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Sie schlief hart und fest und stieß nur ab und zu einen Seufzer aus, der wie Stöhnen klang.
Jetzt begannen für Käthe Tage voller Unruhe. Die in ihrem kerngesunden Körper erwachte große Leidenschaft wurde nur durch ihre Ehrbarkeit zurückgehalten, die den Hauptgehalt ihres Wesens bildete.
Gleichwohl ließ Johann die Sache nicht einschlafen. Mit der Schlauheit eines Straßen-Don-Juan bemühte er sich, sie zu umgarnen und zum Bösen zu verleiten.
Sie aber hielt sich tapfer und sagte immer Nein, obgleich sie nur zu gern in die Arme des Mannes gesunken wäre, der zum erstenmal in ihrem Leben solchen Eindruck auf sie gemacht hatte.
Gar manchmal, wenn er sie auf dem Boden oder im Keller antraf, hielt er sie fast mit Gewalt fest. Dann aber sah sie ihm nur frei in die Augen, schlüpfte an die Wand und bahnte sich mit einem Ruck den Weg an ihm vorüber.
Nein! So tief konnte sie nicht fallen, wie Mary und andere Mädchen! Sah sie doch nicht selten in der Fabrik, welchen Ausgang solche Liebeleien ihrer Genossinnen nahmen: sie verfielen in Schmach und Schande und keiner mehr gab ihnen ein gutes Wort. Wenn er sie noch heiraten wollte!…
Niemals erwähnte sie dies. Und dennoch wußte sie, dann wäre sie vollkommen glücklich. Dann wohnte sie mit ihm unter einem Dache und könnte für die Leute waschen. Darüber brauchte er sich keine Sorge zu machen; sie könnte sogar noch für ihre Kinder genug verdienen.
Johann aber war, das wußte sie ja, ein Gegner der Ehe. Konnte sie doch niemals vergessen, wie er sie an jenem Abend ausgelacht, da er ihr zum erstenmal vor der Haustür begegnete.
Damals fragte er sie, ob sie auf den „Bräutigam“ warte? Wie konnte sie also auch nur daran denken, daß er selbst dieser „Bräutigam“ sein wolle.
Daher fühlte sie sich totunglücklich in all ihrem Glücke. Wußte sie doch, wie leicht ein Mann verletzt wird, wenn ein Weib ihn zu lange hinhält!
Und schon der Gedanke, Johann könne sich wieder von ihr abwenden und ihr feind werden, brachte sie fast zur Verzweiflung.
Die ganze Dienerschaft im Hause hörte allmählich auf, ihr zuzusetzen, da sie in Johanns Bosheit nicht mehr ihre Stütze fand.
Jetzt flüsterten sie sich nur verstohlen ihre Bemerkungen zu und beobachteten eifrig das „Verhältnis“ zwischen ihr und Johann.
Nur Mary blieb der offene Todfeind des „Mehlsackes“ und bemühte sich, wenigstens dadurch ihrer „Nachfolgerin“ ihre Verachtung zu beweisen. All ihre boshaften Reden, mit denen sie nicht kargte, ließ Käthe, ohne ein Wort zu erwidern, über sich ergehen, indem sie schnell an ihr vorübereilte und so tat, als höre sie nichts.
Dieser Zustand konnte jedoch nicht lange dauern. Johanns Stellung zwischen den beiden Weibern erforderte irgend einen Eingriff.
Und dieser erfolgte nur zu bald.
Johann beschäftigte sich nicht nur zum Spaß mit Käthe, deren Widerstand ihn reizte und seine rohe Natur entflammte. Im Vergleiche zu all den leichtfertigen Weibern, mit denen er bisher zu tun hatte, war ihm Käthe eine ungewöhnliche Erscheinung. All seine bisherigen Ränke und Schliche hatten das Ziel verfehlt. Immer wieder sagte sie „Nein!“, obgleich sie dabei zitterte, wie im Fieber.
Da er nur zu gut wußte, worum es sich bei ihr handle, rechnete er auf diese Empfindlichkeit, überzeugte sich aber nur zu bald, daß er sich darin getäuscht habe und daß sich Käthe niemals entschließen würde, seine – Geliebte zu werden.
Wußte er doch, weshalb sie sich weigerte. Hatte sie es ihm doch selbst gesagt an jenem Abende vor der Haustür: Nur eine Frau wollte sie werden und nur die Haube konnte den Kopf beugen, den sie jetzt so hoch trug!
Er aber wollte eben nicht heiraten und hielt dies für Torheit. Die Studenten, denen er die Stiefel wichste, sagten sehr mit Recht, ein kluger Mann dürfe sich nicht an ein Weib schmieden lassen. Jetzt wußte er, wie er sich zu verhalten habe. Ein Weib wird nur zu schnell alt und häßlich. Und dann wird man es nicht so leicht wieder los. Mit der „Geliebten“ ist das ganz anders. Sobald sie lästig wird, erhält sie den Laufpaß. Sobald sie Streiche macht, wozu wären dann Faust und Besenstiel da? Mit der Geliebten findet sich immer noch Rat.
Dies also ließ er sich durch den Kopf gehen und stand davon ab, sich um Käthe zu bemühen.
Unter dem Vorwande, er sei zu beschäftigt, hielt er sie nicht mehr an, wenn sie ihm auf dem Hofe begegnete.
Trotzdem vermochte er nicht der Versuchung zu widerstehen, ihrer üppigen Gestalt nachzusehen, wenn sie in den frischgestärkten Röcken an ihm vorüberrauschte. Mit Wonne ruhte sein Blick auf den reinen Linien ihres Nackens und dem prächtigen dunklen Haar des enggeflochtenen Zopfes. Und dann nützten ihm die festesten Vorsätze nichts. Dann warf er Besen und Gießkanne fort und eilte ihr nach, um sie im dunkelsten Winkel des Haus- oder Treppenflures festzuhalten. Denn dort erschien sie ihm am schwächsten und nachgiebigsten.
Bei Tage wehrte sie sich erheblich besser, als verleihe das Licht ihr neue Kraft. Im Dunkeln stieß sie ihn manchmal nicht zurück und stand vor ihm da, wie erstarrt. Dann schöpfte er neue Hoffnung, die ihn aber bisher noch immer täuschte. Denn meist besann sich Käthe noch zur rechten Zeit und entfloh, indem sie ihn in größter Aufregung stehen ließ.
Auch sie ahnte die Gefahren solcher Begegnung und instinktiv vermied sie die Dunkelheit, in der sie sich nicht so sicher fühlte.
Daher beschloß sie, Johann in der Küche aufzunehmen. Dort konnte sie ruhig sein, daß er sich anständig benehme.
Obgleich er ihre „Herrschaft“ nicht gerade hochschätzte, wollte sie ihn dennoch einladen und auf diese Weise ihren Verkehr erleichtern. Dort konnten sie unbesorgt und – menschlich einander wiedersehen, nicht in dem Winkel, wie Landstreicher…
Und die Herrschaft konnte doch auch nichts dawider haben.
Ohnehin schon wurden sie, so oft sie zusammen standen und miteinander scherzten, beständig beobachtet von Mary, die ewig im Hause herumschlich, als suche sie ihre Hündchen. Diese liefen allerdings fortwährend hin und her. Mary aber erschien unter diesem Vorwande immer da, wo sie nichts zu suchen hatte.
Dies ärgerte Käthe nicht wenig, weil sie wußte, daß Mary eine scharfe Zunge habe und, Gott weiß, was für Klatschereien unter die Leute bringen würde.
Auch Johann wurde öfters schon ungehalten, wenn Mary ihm in den Weg trat. Jetzt liebte er sie nicht mehr und sah nur mit Widerwillen ihr Stumpfnäschen vor sich und ihre boshaften Augen.
Schon hatte er sich so an Käthes sanften Blick gewöhnt, daß ihm Mary geradezu häßlich und schlecht erschien. Dabei dachte er an ihren leichten Sinn und ihre flache, törichte Liebe, in welcher Ohrgehänge, Ring und Kreuz von Gold die Hauptrolle spielten.
Am liebsten nähme er jetzt ihr all dies Geschmeide wieder ab; er bereute es nicht wenig, daß er ihr so auf den Leim ging. Denn sie verstand es gründlich, ihn „auszuziehn“.
Warum verlangte Käthe niemals so etwas von ihm? Mit Freuden kaufte er ihr das Schönste und Beste, wenn sie sich nur besänne und ihn nicht immer so zurückstieße! Dies lohnte sich wenigstens, aber diese Mary!…
Eines Nachmittags bemerkte Johann, daß Käthe mit ihrer wöchentlichen Wäsche fertig war und bald auf den Boden gehen müsse, um sie dort aufzuhängen.
Als er gegen fünf Uhr hinaufging unter dem Vorwande, nach dem beschädigten Dache zu sehen, traf er wirklich Käthe, die soeben einen großen Korb nasser Wäsche auf die Erde stellte und mit den roten, noch feuchten Händen die Waschleine an den schrägstehenden Balken befestigte.
Der Boden war ziemlich geräumig und in mehrere Bretterverschläge eingeteilt. Jeder Mieter hatte dort seine verschließbare Abteilung.
Die für Budowskis bestimmte war ziemlich hell, weil sie mit einem Fenster im Dache versehen war, von dessen Blech die Sonnenglut in das Innere des Hauses drang.
Tief atmete Käthe auf und der Schweiß rann ihr von der Stirn, während das Blut ihr zu Kopfe stieg und ihr fast die Besinnung nahm. Um sich etwas abzukühlen, legte sie sich daher ein nasses Tuch auf die Stirn.
Nachdem sie die Leine befestigt, sah sie Johann eintreten. Da sie voraus wußte, daß er kommen werde, wunderte sich sich durchaus nicht, sondern begrüßte ihn freundlich und hing dann ihre Wäsche auf. Dabei mußte sie sich beeilen, weil die Herrin heut abend wieder zum Stelldichein gehen wollte und daher der Samowar rechtzeitig aufgetragen werden mußte.
Johann begab sich sofort nach dem anderen Ende des Bodens, als sei die Besichtigung des beschädigten Daches sein wichtigstes Geschäft. Dort standen die Koffer der Frau Gräfin und das Regenwasser war darauf geströmt, – so sagte wenigstens gestern die Köchin. Und mit erhobener Stimme beschrieb er Käthe die Größe der Spalte, die in dem kaum gedeckten Dache zurückgeblieben war.
Käthe, noch immer mit ihrer Wäsche beschäftigt, gab ihm darin völlig recht, daß der Dachdecker geholt werden müsse, meinte aber, wenn die Spalte nicht zu groß sei, könne Johann alles allein besorgen.
Dieser aber widersprach ihr, indem er sich ihr näherte. „Mag doch der Wirt es bezahlen, wenn er den Hausbesitzer spielt. Ich werde seiner Tasche nichts ersparen, vielmehr dem Dachdecker noch zureden, daß er das Dach noch schlimmer zurichtet und sich dann noch mehr bezahlen läßt!“
Käthe schwieg. Früher hätte sie sich entschieden dafür erklärt, der Herrschaft unnötige Kosten zu ersparen. Heut aber, da sie selbst den Herrn betrog, wagte sie nicht, Johanns Verhalten zu tadeln.
Wer weiß, vielleicht hat er auch ganz recht. Mein Gott! Solch ein Hausbesitzer nimmt eine Miete nach der anderen ein, während ein armer Dachdecker sich halbtot arbeiten muß, bevor er ein paar Groschen einnimmt.
Inzwischen setzte sich Johann auf eine Kiste, die mitten im Wege stand und zog sein kurzes Pfeifchen aus der Tasche, um es sich anzuzünden.
Jetzt hielt Käthe es für angemessen, dies zu verhindern: „Bitte, Herr Johann, lassen Sie die Pfeife in Ruhe, sonst bricht hier noch Feuer aus und alles geht in Rauch auf!“
Offenbar aber war ihm fremdes Eigentum ganz gleichgültig. Mit ironischem Blicke nach ihr, brannte er nicht nur sich das Pfeifchen an, sondern warf auch das noch glimmende Streichhölzchen sorglos von sich.
„Oho!“ erwiderte er bedächtig, blaue Ringe in die Luft blasend. „Was wäre dabei, wenn die Bude abbrennte. Gehört sie etwa Ihnen, Fräulein, oder mir? Mein Köfferchen würd’ ich schon noch retten und mein Fräulein trüg’ ich auf dem Buckel heraus. Mag alles abbrennen, dann verginge dem Herrn schon die Lust, auf den Straßen herumzubummeln und nichts zu tun. Haufenweis zieht er das Geld von den Mietern ein und nichts kostet ihn das Haus. Daher legt er immer mehr auf die Kante. Ich wollt ihm schon Beine machen, daß er mit den Hacken auf den Buckel schlägt! Er ist auch so’n richtiger, verdammter Zylinder!“
Allen Haß, allen Neid, alle Bosheit legte er in das Wort „Zylinder“, mit welchem er alle Reichen nach ihrem von ihm als stolz und dünkelhaft verabscheuten Hute benannte.
Käthe erwiderte kein Wort, da sie an solche Aufwallungen Johanns längst gewöhnt war.
Nachdem Käthe das letzte Stück aufgehängt, atmete sie erleichtert auf, denn die Hitze war kaum noch auszuhalten. Dann nahm sie den leeren Korb auf, verschloß den Lattenverschlag und wollte sich entfernen.
Schon längst folgte Johann mit gespannter Aufmerksamkeit jeder ihrer Bewegungen. Wieder erfüllte ihn heißes Verlangen und über alles Maß wuchs seine Leidenschaft.
Als Käthe an ihm vorüberschritt, zog er sie so gewaltsam an sich, daß sie unwillkürlich auf die Kiste niedersank. Dort umschlang er sie mit beiden Armen und preßte sie an seine Brust. Halb ohnmächtig ließ sie sich von ihm auf den Mund küssen, einmal und immer wieder…
Plötzlich vernahm sie ein gedämpftes Kichern unter dem niedrigem Dache des Bodens. Betroffen blickte sie nach der Richtung hin, woher dasselbe kam. Im hellen Lichte der offenen Bodentür stand dort Mary und hielt unter dem Arme ein Hündchen, welches keuchend vor Hitze die Zunge herausstreckte. Wie gewöhnlich mußte Mary erscheinen und zusehen, wie sie sich küßten. Dies war kaum noch zu ertragen!…
Hastig sprang Käthe auf, nahm ihren Korb und wollte den Boden verlassen.
Dies war aber nicht so leicht.
Denn Mary stand immer noch in der Tür und vertrat ihr den Weg. Dabei kicherte sie mit schlecht verhehlter Bosheit.
Zwar beanspruchte sie nicht, daß Johann keine andere Geliebte habe, nachdem sie sich in aller Güte getrennt, aber Käthe nach ihr zu nehmen, erschien ihr geradezu empörend.
Johann aber war ganz außer sich und offenbar geneigt, Mary jetzt nicht zu schonen.
Alles ging so vortrefflich und zum erstenmal wies Käthe ihn nicht zurück. Wäre diese unausstehliche Mary nicht dazu gekommen, wer weiß, was geschehen konnte. Daher erhob auch er sich von der Kiste und zischte durch die Zähne seine Lieblingsworte: „Verdammtes Frauenzimmer.“
Mary jedoch beachtete dies gar nicht, sondern sah nur nach Käthe hin, voller Schadenfreude über deren Verwirrung.
Endlich fragte sie, noch immer kichernd: „Herr Johann, sahen Sie hier nicht zufällig den „Mehlsack“, der sich irgendwohin verkroch. Gewiß ist er hier auf dem Boden.“
Käthe wurde feuerrot.
In Gegenwart Johanns nannte Mary sie den „Mehlsack“. Unter vier Augen mochte sie immerhin dies tun, nicht aber vor ihm, vor ihm…
In Johanns Brust kochte der ganze Groll eines in seinen Hoffnungen getäuschten Mannes.
Mary war ihm in diesen Augenblick das widerlichste Geschöpf unter der Sonne.
Käthe konnte ganz ruhig sein, daß er sie beide an ihr rächen werde. Und ein ganzer Hagel von Schmähungen fiel auf die darob höchst Erstaunte herab.
„Galgenstrick… Nichtsnutziges Frauenzimmer“, nannte er sie mit so drohender Miene, als wolle er sie mindestens drei Stockwerke hinabstürzen.
Sie aber gab das Spiel noch nicht verloren. Was schadete es, daß sie ihre Liebkosungen unterbrach. Solch ein Weibsbild wie Käthe ist ein alter Praktikus, dem es schon noch gelingen wird, ihn wieder in einen Winkel zu ziehen.
Ob er sich nur gar nicht schämte, sich mit solch einer einzulassen, die, weiß Gott woher, sich in das Haus eingeschlichen und nicht einmal ein ordentliches Hemd auf dem Leibe habe!
Johann aber stand schon dicht vor ihr und gebot mit Donnerstimme ihr Schweigen. Von jeder anderen dürfe sie so etwas sagen, nur nicht von Käthe, sie, die kein gutes Wort verdiene und sich jede Woche mit einem andern herumtreibe. Käthe solle sie nur in Ruhe lassen: sie sei’ ein ordentliches Mädchen, wie man es heutzutage mit der Laterne suchen müsse…
Leichenblaß wurde Mary bei diesen Worten Johanns. Wie? Jetzt werfe er ihr vor, sie führe sich schlecht auf? Wer hatte sie denn früher ebenso geküßt und zu Biere geführt, wie jetzt Käthe? Konnte er jetzt wagen, dies zu leugnen und sie einen „Galgenstrick“ zu nennen? Konnte er bestreiten, daß er sie geliebt und ihr gelobt habe, ein ganzes Jahr mit ihr zu leben? Nur hatte sie mehr Verstand wie die dumme Käthe und besann sich schnell, daß er nichts tauge.
„Gab ich dir nicht Gold?“ schrie Johann, auf sie losstürzend. „Gieb erst mein Gold heraus, dann belfere weiter. Aber die Käthe laß mir in Ruh’, sie ist ein braves Mädchen, dessen Namen du nicht einmal in den Mund nehmen darfst, du Nichtsnutz!“
Dabei schwang er ihr die geballte Faust über dem Kopfe und hätte Mary sicher auch geschlagen, wäre sie nicht zur rechten Zeit davon gelaufen mit den Worten: „Warte nur, ich werde dich schon überzeugen von ihrer Tugend, und du sollst sehen, für wen du mich so schlecht behandelst!“
Wie eine Drohung fielen diese Worte auf die schluchzende Käthe herab und eine unbestimmte Angst schnürte ihr das Herz zusammen, obgleich sie nichts Böses begangen hatte. Johann konnte jedem ihrer Schritte nachspüren.
Dazu kam noch das peinliche Gefühl, daß ihr Marys früheres Verhältnis mit Johann so grell vor Augen geführt wurde!…
Als Käthe vom Boden herabging, weinte sie bitterlich und auch in der Küche konnte sie lange noch sich nicht beruhigen.
Johann hielt sie auch nicht zurück, im Gefühle, daß es nicht mehr gut stehe zwischen ihnen.
Sichtlich verlegen über Marys Worte, wünschte er so schnell wie möglich den Boden zu verlassen, als den Schauplatz seiner früheren Liebeleien.
Bis zur Küchentür begleitete er Käthe und verabschiedete sich dann höflich. Nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen, stand er noch lange sinnend und verdrießlich da.
Gern hätte er Käthe um Verzeihung gebeten wegen des Verdrusses, den ihr seine ehemalige Geliebte bereitete. Nur wußte er nicht, wie er es anfangen solle und sagte ihr deshalb gar nichts, als er sie die Treppe hinabführte. Nur ihre Tränen sah er, die ihm wie ein Stein auf dem Herzen lagen.
Endlich ging er die Treppe hinab und von dort schnurstracks in die Schenke, konnte aber auch beim Glase jenen peinlichen Auftritt nicht vergessen. Fast bereute er, daß er sich so hinreißen ließ und Mary so schwer beleidigte. Denn diese wäre imstande, sich an Käthe und ihm zu rächen und ein rachsüchtiges Weib ist schlimmer als der Satan.
Käthe trocknete sich inzwischen die Tränen und machte dann den Samowar zurecht. Die Herrin übergab ihr den bekannten Brief und sie sollte wieder ihr das gewohnte Stelldichein ermöglichen. Im Verlauf einiger Monate hatte sie sich das glatteste Lügen angewöhnt und alles ging über Erwarten glatt von statten. Jetzt stotterte sie nicht mehr, wie früher, wenn ihr eine Unwahrheit durch die Kehle gehen sollte. Nur die Augen schlug sie in der Regel nieder und konnte es nicht über sich gewinnen, dem Herrn gerade in das Gesicht zu sehen.
Das leichte Gelingen der täglichen kleinen Sünden ermunterte sie allmählich zu größeren.
Als sie sich anschickte, die Wohnung zu betreten, vernahm sie lautes Stöhnen im Schlafzimmer. Mitten im Eßzimmer stand die Herrin allein mit sorgenvollem Gesicht und erklärte ihr mit einigen Worten den Stand der Dinge.
Der Herr war unwohl vom Bureau heimgekehrt. Er litt an Gallensteinen, die ihm schon manchmal arg zusetzten und auch jetzt wieder heftig auftraten. Daher mußten ihm Leinsamenumschläge gemacht und Zitronensaft im Wasser gereicht werden. Dies war jedoch Nebensache: Was sollte aus dem Stelldichein werden? Unmöglich konnte Julia sich jetzt entfernen. Denn ihr Gatte war in solchen Fällen entsetzlich launisch und ließ sie keinen Schritt vom Bette fort. Der Geliebte mußte also benachrichtigt werden, damit er nicht umsonst auf sie warte. Nur Käthe konnte dies besorgen, da sie allein wußte, wo die Nachtdroschke stand. Sobald es dunkelte, mußte sie dorthin eilen und melden, weshalb die Herrin ihr Versprechen nicht halten könne.
Käthe fand sich sofort bereit und wartete, nachdem sie die Umschläge zurecht gemacht, nur auf den Anbruch der Nacht.
Inzwischen erfüllte Budowski mit lautem Jammern das Innere der Wohnung. Krampfhaft verzog sich sein fahles, gerunzeltes Gesicht unter den wütenden Schmerzen.
Julia wechselte apathisch die Umschläge und reichte den Zitronensaft, ohne dabei die geringste Teilnahme mit seinen Qualen zu zeigen. Wie eine bezahlte Wärterin sah sie aus, die zur Pflege eines ihr völlig gleichgültigen Kranken angenommen wurde. Ihre Gedanken weilten anderswo, als am Krankenbette… Wußte sie doch nicht, ob Käthe alles richtig ausrichten werde über den wahren Grund, der sie daheim zurückhalte…
Als es völlig dunkel geworden, warf Käthe sich ein Tuch über die Schultern und eilte nach dem gewohnten Orte des Stelldicheins. Schon von weitem sah sie die beiden Laternen im gelblichen Lichte blinken.
Als sie sich der Droschke näherte, lehnte dort am Schlage schon der junge Mann und rauchte wie gewöhnlich seine Zigarre, warf dieselbe aber fort, als er Käthe kommen sah.
Ganz erstaunt war er, daß Julia nicht mit kam.
Verlegen und fast außer Atem vom schnellen Laufe, stand Käthe vor ihm.
„Der Herr ist erkrankt“, sagte sie dann hastig, ohne den Blick zu ihm zu erheben. „Und die gnädige Frau muß ihm Umschläge machen, kann also heute nicht kommen und läßt sich entschuldigen.“
Letzteres fügte sie schon aus eigenem Kopfe hinzu, weil ihr dies weit feiner erschien. Die Herrin hatte zwar dies nicht gesagt, sie aber wußte schon allein, was sich schickt.
Nachdem sie ihren Auftrag in dieser Weise erledigt, wollte sie sich sofort entfernen.
Der Herr aber hielt sie an der Hand zurück.
„Was macht die Herrin?“ fragte er, um eine Unterhaltung anzuknüpfen.
„Leinsamenumschläge, gnädiger Herr“, erwiderte sie gern, in der Meinung, er habe nicht verstanden, was sie zu ihm sagte. „Und deshalb läßt sie sich entschuldigen.“
„Weshalb entschuldigen?“ fragte er weiter und näherte sich der immer mehr Verlegenen.
„Weil sie nicht kommen kann“, entgegnete sie, sich möglichst von ihm entfernend.
Er aber maß sie mit seltsamen Blicken. Dies Mädchen gefiel ihm. In seiner Verachtung der Weiber liebte er die Veränderung…
Ein Mädchen aus dem Volke ist eine so leichte Beute, nach der man nur die Hand auszustrecken braucht, wenn sie sich nicht von selber nähert, schon beglückt über den Vorzug, der ihr zuteil wird…
Und im matten Laternenlicht vergegenwärtigte er sich all ihre Reize… Fürwahr! Dies Mädchen wäre keine üble Abwechslung unter all den anderen… Weshalb sollte er sich nicht mit ihr einlassen, wenn auch sie, wie er sicher annahm, mit Freuden einwilligte? Und ohne weiteres kniff er sie in die Wangen und gab ihr dadurch zu verstehen, was er wünsche.
Ganz verwirrt über diese Wendung, stand sie ein Weilchen da, wie angewurzelt. Wie? Auch dieser?…
Er, der ihre schöne Herrin liebte, wollte mit deren Magd anbinden?… Was steckte diesen Männern unter der Haut, daß sie jedes Weib anfallen, welches sie zum erstenmal sehen in ihrem Leben?…
Käthe fand hierauf keine Antwort…
Er jedoch wurde immer dringender, da er ihr Schweigen für Schwanken und Überlegen hielt. Wußte er doch aus Erfahrung, daß die Tugend unter den Mägden nicht blüht und daß fast jede nur zu gern sich überreden läßt.
Julia brauchte er durchaus nicht zu fürchten. Und ebenso wußte er, daß die Mägde nicht selten mit ihren Herrinnen den Gegenstand ihrer Liebe teilen, vor diesen aber das voraus haben, daß sie weit verschwiegener sind…
Und endlich, Julia wurde ihm geradezu schon lästig und gern hätte er schon längst mit ihr gebrochen, hielte dies nicht so schwer bei diesem geheimnisvollen, träumerischen und trotzdem so feurigen Weibe…
Wer weiß, was sonst noch für ein Feuer glimmt in diesen halberloschenen Augen…
Wie leicht könnte solch ein Bruch ihn bloßstellen vor aller Welt, wenn er ihn herbeiführte.
Besser ist es schon, wenn Julia ihm dazu Veranlassung gäbe und ihm eine Szene machte, obgleich er diese haßte!
Dann fände sicher sich schon Rat!…
„Sei doch nicht so dumm!“ raunte er Käthe zu, als sie sich mit Gewalt losreißen wollte. „Du bist so hübsch und gefällst mir. Du wirst es sicher nicht bereuen, das sollst du sehen!“
Käthe aber hörte ihn gar nicht an und wünschte nur, sofort sich zu entfernen, so zuwider war ihr dieser Mensch, der sie mit Gewalt festhalten wollte.
„Lassen Sie mich los, Herr!“ rief sie endlich mit lauter Stimme. „Oder ich sage alles der gnädigen Frau!“ Ungewöhnliche Entschlossenheit klang aus diesen Worten. Sie, die gegen vornehme Leute sonst so Schüchterne, sah ihm jetzt mit stolzer Verachtung in die Augen.
Im matten Laternenschein begegneten sich ihre Blicke: die seinen, umnebelt von der plötzlich erwachten Begierde; die ihren keusch und echt mädchenhaft.
Ein Weilchen schauten sie sich an, bis Käthe zuerst den Kopf abwandte. Eine sonderbare Angst ergriff ihr ganzes Wesen.
Einst als Kind sah sie einen Holzschnitt, der irgend ein Zerrbild darstellte, halb Ziegenbock, halb Mensch. Im Kehricht hatte sie ihn gefunden und lange aufbewahrt, um ihn fast täglich sich anzusehen. Jetzt erinnerte sie sich, daß dieses Zerrbild große Ähnlichkeit hatte mit dem Menschen, der vor ihr stand.
Vor solchen bösen Gesichtern fürchtete sie sich förmlich und war überzeugt, sie gehörten nur den schlimmsten Leuten an und brächten nichts als Unglück. Daher zitterte und bebte sie auch jetzt vor Angst und preßte die noch freie Hand auf das stürmisch klopfende Herz.
Ärgerlich über ihren Widerstand und namentlich über ihre Drohung, ließ er sie endlich los und warf der Davoneilenden die nicht gerade höflichen Worte nach: „So geh’ zum Teufel!“
Gewiß, lieber ginge sie zum Satan selbst, als noch länger mit solchem nichtswürdigen Menschen zu sprechen.
Zum erstenmal im Leben haßte sie jemand. Mein Gott! Die Herrin war so schön und feingebildet. Und dennoch läßt er sie, die arme Magd, nicht zufrieden! Weshalb?… Das konnte sie nicht begreifen. Sie wußte nur, daß sie so schnell wie möglich fliehen müsse vor diesem verhaßten Menschen!
Plötzlich stutzte sie:
Da die Droschke noch hielt, bis der in seinen Hoffnungen doppelt Getäuschte den Kutscher bezahlte, erkannte Käthe beim Laternenschein – Mary, die mit dem Kruge nach Wasser ging. Wer weiß, vielleicht war dieser Krug nur ein Vorwand, um Käthe zu beobachten.
Solches traute diese aber ihr doch nicht zu und ging an ihr vorüber, noch ganz verwirrt über den Überfall, den sie erlebte und über die ihr gemachte Zumutung. Nein! Das konnte sie der Herrin nimmermehr sagen. Die Ärmste hatte ohnehin genug auszustehen.
Mein Gott! War Johann doch für sie noch gar nichts und hatte sie doch durchaus noch an ihn kein Anrecht. Und trotzdem würde sie sich abhärmen, wenn sie erführe, daß er mit einer anderen sich einließ.
Schon bei diesem Gedanken schwindelte ihr der Kopf und beinahe wäre sie unter die Räder einer vorüberrollenden Droschke geraten.
Entschieden liebte sie ihn und dies bereitete ihr neue Qual. Wozu ließ sie sich darauf ein! Jetzt konnte sie ihn nicht mehr aus dem Herzen reißen. Wie ein Blutegel sog er sich dort fest. Nur an ihn denkend, schritt sie weiter, fast ohne Besinnung.
Ein armes Mädchen, wie sie, durfte nicht lieben. Das führt immer nur zu Tränen, oder zur – Sünde.
Schon jetzt rannen ihr die Tränen über die Wangen, und mitten auf der Straße blieb sie stehen, um sich auszuweinen, damit ihr etwas leichter werde, sonst erstickte sie noch vor Herzeleid.
Dann lehnte sie den Kopf an die Mauer, bis Vorübergehende sie anstießen. Wozu steht dieses vierschrötige Frauenzimmer mitten auf dem Wege? Wahrscheinlich ist sie betrunken, denn sie faßt sich immer an die Stirn… Sie aber hatte heute noch keinen Tropfen Schnaps über die Lippen genommen. Nur ihr Herzeleid packte sie so, daß sie sich ausweinen mußte. Auf der Straße schickte sich dies allerdings nicht. In der Küche aber fand sie dazu keine Zeit, denn der Herr war krank und sie mußte die Umschläge zurecht machen. Auf der Straße ging es leichter.
Wenn auch der oder jener sich nach ihr umsah, so brauchte sie sich doch um Unbekannte nicht zu kümmern.
Daher lehnte sie sich jetzt an die Mauer und trocknete sich mit der Faust die Tränen, die ihr aus den Augen strömten.
Schnell war der Sommer vergangen und der Herbst genaht.
Bei Budowskis schlichen die letzten Wochen träge dahin und brachten nichts als Krankheit und die davon unzertrennlichen Sorgen.
Budowski lag im Bette und stöhnte und jammerte, nicht ohne zu übertreiben.
Anfangs pflegte ihn Julia mit gewohnter Gleichgültigkeit. Nur zu bald aber langweilte sie diese Rolle, die beständige Bewegung erforderte.
Daher überließ sie Käthe die ganze Last, den wunderlichen Alten zu pflegen, ihm die Arznei einzugeben, nachts bei ihm zu wachen und ihm alle übrigen beim Krankenbette unvermeidlichen Dienste zu leisten.
Unter dem Vorwande, den Apothekengeruch etwas zu dämpfen, verbrannte Julia tagelang ihre Räucherkerzchen, die sie jetzt zugleich mit den Arzneien aus der Apotheke holte.
Nichts vermochte dagegen der Einspruch ihres Gatten, der mit heiserer Stimme rief, all seine saure Arbeit gehe dabei in Rauch auf.
Julia entschuldigte sich nicht einmal, sondern hüllte ihre schwankende Gestalt mit Wonne in die blauen Rauchwölkchen, die alle Räume erfüllten.
Alles übrige kümmerte sie sehr wenig.
Käthe hatte also jetzt sehr viel zu tun. Außer ihren gewöhnlichen Geschäften mußte sie alle Augenblicke im Schlafzimmer nachfragen, ob der Kranke nicht irgend etwas bedürfe.
Budowski war bekanntlich niemals sehr liebenswürdig. Die Gallensteine aber machten ihn vollends bissig und rücksichtslos gegen andere.
Daher hatte Käthe unaufhörlich Scheltworte und die bittersten Vorwürfe zu erdulden, obgleich sie redlich bemüht war, jeden Wunsch des wunderlichen Alten zu erfüllen.
Eines Tages, als er beinahe erstickte im Dunst von Arzneien und Räucherkerzchen, befahl er Käthe, ihm einen Krug voll – „frischer Luft“ zu holen.
Sofort eilte sie auf den Hof, um diese Luft in einem irdenen Kruge „aufzufangen“, schnell einen Blechdeckel darauf zu legen und dem Herrn das Gewünschte zu bringen.
Dies genügte ihm aber nicht. Nachdem er den Kopf über den Krug gehalten und tief eingeatmet hatte, erklärte er, sie habe ihm die reine Kehrichtluft gebracht. Und dennoch hatte sie dieselbe mitten auf dem Hofe unter den Kastanien „eingefüllt“.
Dies war eine der tausend Launen, die sie befriedigen mußte, obgleich sie manchmal beinahe umfiel vor Mattigkeit und Schläfrigkeit.
Endlich ward ihr ein Trost zuteil, der ihr die bitteren Tage versüßte.
Eines Abends erschien Johann, den sie eingeladen, bei ihr in der Küche, um ein Stündchen mit ihr zu verplaudern. Seitdem kam er fast allabendlich, setzte sich zu ihr an den Tisch und sah zu, wie sie sich in der engen Küche mit Waschen oder Plätten beschäftigte.
Als die Herrin in die Küche kam, stand er auf und verneigte sich höflich, wodurch er Käthe vollends für sich gewann.
Sogar „Ich küß die Hand!“ sagte er, und dies war der Gipfel der Höflichkeit von seiner Seite.
Julia, gewiß dadurch für ihn eingenommen, hatte nichts einzuwenden gegen diese Besuche, sondern blickte nur bald ihn, bald Käthe mit nachsichtigem Lächeln an.
Für Käthe war dies ein so rührender Beweis von der Güte ihrer Herrin, daß sie deren Hand ergriff, um sie dankbar zu küssen.
Obgleich Johann diese Demut sofort tadelte, beachtete Käthe dies nicht. Wußte sie doch, daß die Herrin herzensgut war, und wäre sie doch gern für sie durch das Feuer gegangen.
Jetzt handelte es sich für sie nur darum, Johann anständig aufzunehmen, damit er von ihr eine gute Meinung empfange. Marzipan freilich konnte sie ihm nicht vorsetzen. Einige kleine Einkäufe aber erlaubten ihr die „Marktgroschen“. Ein Stückchen Mett-, Blut- oder Bratwurst fand sich immer noch für Johann.
Überdies goß, seit der Herr krank lag, Käthe selbst den Tee über, nachdem sie ihm gezeigt, daß sie auch nicht zu viel aus der Büchse genommen habe. Dies hinderte sie jedoch nicht, noch einmal so viel zuzuschütten, sobald sie das Schlafzimmer verlassen. Dies konnte der Herr ja nicht sehen.
Käthes Traum war also erfüllt.
An jenem Sonntage, der so traurig verlief, als sie sich mutterseelenallein durch die Straßen schleppte und dann in der Kirche kauerte, träumte sie von einem braven Mann, der bei ihr am Tische saß, um mit ihr gemütlich zu plaudern und ihr auf diese Weise das Leben erträglicher zu machen.
Fast tollkühn erschien ihr damals der Wunsch, dieser Mann möge – Johanns Gestalt und Züge haben. Und heute saß dieser in eigener Person vor dem mit dem Abwaschgeschirre besetzten Tische und warf sie mit Brotkügelchen.
Glückstrahlend, wenn auch feuerrot und schweißtriefend, tummelte sie sich herum in der kleinen Küche, wo sie eben eine Wanne scheuerte, scheinbar nur mit ihrer Arbeit beschäftigt, dabei aber immer nach ihm hinschielend.
In der Küche hatte sie keinen Angriff zu fürchten von seiner Seite. Die Nähe der Herrschaft schützte sie davor. Johann versuchte nicht einmal, sie in den Arm zu kneifen, sondern warf nur ab und zu ein Brotkügelchen auf sie oder besprengte sie mit Wasser.
Sie aber verstand sich auf solche Scherze und wußte, was sie zu bedeuten hatten. Nur vor dunklen Winkeln fürchtete sie sich, in denen sie alle Kraft verlor.
Hier bei Licht und dicht neben der Herrschaft fühlte sie sich stark und sicher. Daher lächelte sie häufiger und wurde fast kokett, wenn Johann ihre roten nassen Hände ergriff und sagte, er liebe solche Patschchen, denn sie zeugten von Gesundheit und Arbeitsamkeit. Seitdem schob sie immer die Ärmel ihrer Jacke so hoch wie möglich hinauf, um desto besser ihre roten Hände zu zeigen. Dies war zwar nur eine harmlose Küchenkoketterie, immerhin aber doch eine vollendete Gefallsucht.
Längst wußte die ganze Dienerschaft im Hause von Johanns Besuchen bei Käthe und verfolgte gespannt den weiteren Verlauf dieses „Verhältnisses“.
Die Köchin der Frau Gräfin, die eben aus der Andacht zurückkehrte, meinte, sie habe noch niemals unter solchem Dache geschlafen. So etwas könnte nur in Sodom und Gomorrha vorkommen, wie sie erst gestern aus dem Munde der Frau Gräfin selbst gehört. Die Zofe, die bedeutend jünger war, drückte nur ihr Bedauern aus, daß Johann, dieser stattliche Mann, sich mit solch einem Frauenzimmer abgebe. Die Tapeziererfrau und die anderen Weiber und Mägde im Hause stellten das Liebespaar förmlich unter Polizeiaufsicht.
So oft Johann die Treppe hinaufstieg, geriet das ganze Haus in Aufregung.
„Wie? Acht Uhr erst ist es jetzt, genieren sie sich schon gar nicht mehr? Nächstens sitzt er schon am hellen Tage oben bei ihr… Am besten wär’ es, wenn der Hauswirt Johanns Stübchen anderweitig vermietete… Die Käthe nimmt ihn in ihrer Küche auf, samt seinen Siebensachen.“
Und so wuchs der allgemeine Haß gegen sie, je mehr Johann ihr seine Neigung zeigte.
Auch Budowskis blieben dabei nicht verschont: „Das muß eine nette Herrschaft sein, die solche Wirtschaft bei sich duldet. Übrigens wissen wir ja alle, was das für Leute sind. Wie der Herr, so das Geschirr!“
Nur Mary bewahrte sich eine seltsame Mäßigung.
Wenn die anderen Mägde sich vor der Haustür oder auf der Treppe versammelten, um über Käthes Verhältnis zu klatschen, ging sie ruhig an ihnen vorüber, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über ihr eigenes Schicksal. Dabei sah sie aber so düster aus, als brüte sie über irgend einem Plan, den sie nächstens auszuführen beabsichtige.
Inzwischen verlebte Käthe stillvergnügt einen Tag nach dem anderen, trotz schwerer Arbeit und schlechter Kost, und erwartete mit fieberhafter Ungeduld Johanns Besuche.
Gegen acht Uhr färbte Purpurglut ihre Wangen. Mit zitternden Händen zündete sie das Feuer an, um die eingekauften Vorräte zuzubereiten, namentlich die Bratwürste, die Johann über alles liebte.
Wie glücklich fühlte sie sich, wenn er alles so mit Behagen aß und dazu einige Gläser starken Tees mit Arak trank. Ihren ganzen Lohn verwandte sie auf diese Bewirtung und dazu noch die „Marktgroschen“, die sie jetzt schon in sehr ungleicher Weise mit der Herrin teilte. Nur auf diesem Wege vermochte Käthe ihm ihre Liebe auch äußerlich zu betätigen.
Mit glühenden Wangen und leerem Magen erforschte sie den Eindruck, den der vom Mittagessen übriggebliebene Weißkohl und die frischgebratene Wurst auf ihn mache.
Wollte oder konnte er aber nicht essen, so schlief sie die halbe Nacht nicht vor Kummer: Gewiß war er bei irgend einer anderen, wo es ihm besser schmeckte!
Ach! An solchen Tagen wäre sie imstande gewesen, zu stehlen, um ihm nur etwas nach seinem Geschmacke vorsetzen zu können.
Verzehrte er aber alles und rieb mit Brot noch den Teller rein, so verstopfte sie sich vor Lachen den Mund mit dem Tuche. O, jetzt sah sie, daß sie für ihn doch die Einzige war.
Budowskis Genesung schritt inzwischen langsam fort, sodaß er demnächst aufzustehen hoffte.
Julia, die bisher der Möglichkeit beraubt war, den Geliebten wiederzusehen, beschleunigte tunlichst dieses Aufstehen, da sie wußte, daß sie gleichzeitig sich wieder zum Stelldichein einfinden könne.
Eines Abends erschien Johann noch zeitiger als sonst in der Küche, eingedenk, daß Käthes Namenstag war. Daher brachte er ihr eine mit gelben und blauen Blumen geschmückte Glückwunschkarte, unter der sich ein Bildchen befand.
Letzteres stellte einen Garten dar, in dem die Rosen ebenso groß waren, wie die Köpfe der dort lustwandelnden Gäste.
Eine Dame im gelben Kleide hielt in der Hand ein weißes Band mit der Inschrift in großen Lettern:
„Herzlichen Glückwunsch für Fräulein Katharina zum Namenstage St. Katharina l. J. als Zeichen freundschaftlicher Verehrung von Johann Viebig.“
Noch niemals hatte Käthe solch schöne Karte gesehen. Mein Gott! Und diese war für sie bestimmt.
Sogleich steckte sie dieselbe unter den Rahmen des Heiligenbildes. Gewiß wird die Mutter Gottes sich darüber nicht ärgern!
Dies war aber noch nicht alles:
Johann zog noch ein Paketchen hervor und legte es ihr auf den Tisch. Darin befanden sich ein Paar rote, blaugestreifte, warme Strümpfe und ein Paar violette, grüngesteppte, wollene Handschuhe. Nein! Wahrhaftig, so viele Beweise von Güte hatte sie nicht verdient! Wie konnte er nur so viel Geld für sie ausgeben!
Und mit Freudentränen in den Augen dankte sie Johann für all die Geschenke. Er aber blähte sich auf, stolz über seine Galanterie, die ihn zwar einige Groschen kostete, der er aber sich nicht entziehen konnte. Wußte er doch recht gut, was sich gehört und hatte er doch schon mit so manchem Mädchen zu tun gehabt.
Vom Rest ihres Lohnes hatte Käthe auch noch etwas Bier und Likör gekauft. Als sie die Flaschen aus ihrem Versteck hervorzog und sie vor ihn hinstellte, rief er hocherfreut über diesen Anblick: „Ah! Darauf hab ich heute just Appetit!“
Und sofort legte er Messer und Gabel beiseite und labte sich an den ihm dargereichten Getränken.
Mit einem Lächeln der Befriedigung stand Käthe neben ihm und füllte sein Glas, sobald es geleert war. Sie selber trank ab und zu auch auf seinen ausdrücklichen Wunsch und nur zu bald wurde ihr so heiß, daß sie kaum wußte, was sie mit sich anfangen solle. Daher zog sie versuchsweise die violetten Handschuhe an, die zwar etwas plump, aber für den Markt im Winter sehr zweckmäßig waren.
Als Johann ihr vorschlug, auch die Strümpfe anzuprobieren, lehnte sie dies lachend ab.
Und beide fühlten sich so recht behaglich in dieser zwar etwas dumpfen, aber überaus friedlichen Umgebung. Das rotglühende Ofenblech sprühte Wärme genug aus für den naßkalten Herbstabend. Und Johann liebte solche Wärme dermaßen, daß er sich mit dem Rücken dem Ofen näherte, obgleich Käthe ihn ängstlich warnte, sich nicht zu verbrennen oder den Schnupfen zu holen.
Dumpf rauschte der Regen herab auf das Dach über der Wand, an der sich das kleine Fenster befand. Letzteres war zum Schutze vor der Kälte jetzt fest zugemacht und sogar schon verkittet. Zur Not konnte die Flurtür geöffnet werden, erklärte sie ihm und er war ganz damit einverstanden. Übrigens war er heute sehr munter und sie teilte seine Heiterkeit. Bald hallte die kleine Küche wieder vom fröhlichen Lachen der beiden so gut zu einander passenden Leutchen, die dabei im roten Rahmen der wulstigen Lippen die blendend weißen Zahnreihen zeigten.
Plötzlich verstummte dieses Lachen und die Hand Johanns, die eben ein Stück Wurst zum Munde führte, sank wie gelähmt herab.
In der geöffneten Tür des Speisezimmers stand Budowski, zitternd; auf schwankenden Füßen, hielt er sich fest an der Türpfoste, wie ein kleines Kind, welches kaum laufen gelernt.
Seine welke Gestalt glich mehr einem Gespenste, als einem lebenden Wesen und hob sich scharf ab im hellen Lichte der über dem Eßtische brennenden Hängelampe. Plötzlich war er aufgestanden, um sich im Zimmer ein wenig zu ergehen.
Höchst erstaunt war er, als er das Lachen in der Küche hörte.
„Wie? Gäste lärmen in meiner Küche? Da lohnt es sich doch, nachzusehen, was dieser Küchendragoner für Bälle gibt? Sollte dies Frauenzimmer sich wirklich erfrechen, Mannspersonen hier aufzunehmen und zu bewirten? Nein, das wäre doch zu viel!“
Und als er auf der Schwelle stand, verstummte er zunächst vor Entrüstung und rief dann:
„Barmherziger Gott! Was geht hier vor?“
Unwirsch über die unerwartete Wendung der Dinge erhob sich Johann, während Käthe es für geboten hielt, sich zu verteidigen:
„Verzeihen Sie, gnädiger Herr“, stammelte sie, indem sie sich einer Lüge des Stubenmädchens erinnerte, welches den Geliebten vor dem Zorne der früheren Frau schützen wollte. „Das… ist… mein Bruder!“
„Bruder?“ schrie Budowski, fast auf die Schwelle sinkend. „Du lügst! Das ist ja unser Johann Viebig. Den kenn’ ich nur zu gut! Bruder! Ihr alle habt jedes Jahr wenigstens hundert solche Brüder!“
Ach! Das war doch zu viel! Zu tief verletzte der Herr Käthes Ehre und noch dazu in Gegenwart Johanns! Hundert Brüder! Als ob sie jemals schon einen anderen hier aufgenommen hätte! Wahrhaftig, der Herr war doch zu ungerecht!
Inzwischen trat Budowski einige Schritte vor bis zum Tische und betrachtete die dort stehenden Teller und Flaschen.
„Ei! Ihr habt euch nett versorgt, das muß man sagen. Das ist ja eine fürstliche Aufnahme!“ zischte er und leckte an den Lippen vor Begierde, das saftige Fleisch zu kosten, dessen Reste noch auf dem Teller lagen. Sein durch die lange Diät ausgehungerter Magen mahnte ihn an seine Rechte und lüstern hing sein Blick an den halbgeleerten Flaschen und Gläsern.
Inzwischen griff Johann nach seiner Mütze und wollte sich entfernen, im Gefühl, die Wut könne ihn übermannen, sodaß er etwas sage oder tue, was er später bereuen müsse.
Budowski aber berücksichtigte keineswegs seine Eile, sondern rief mit vor Zorn halb erstickter Stimme: „Hinaus mit dir, du Landstreicher. Daß mir dein Fuß nie wieder diese Schwelle überschreite!“
Johann blieb an der Tür stehen. Dunkle Röte übergoß ihm Gesicht und Hals. Die Hände preßten krampfhaft die Mütze zusammen und im Menschen erwachte das wilde Tier:
„Natürlich werd’ ich gehen, Herr!“ brüllte er los. „Landstreicher aber laß ich mich noch lange nicht nennen. Und, so wahr ich Johann Viebig heiße, werde ich jeden verklagen, der meine Ehre angreift. Und dann wollen wir sehen, wer Recht bekommt!“
Dann riß er die Tür auf und schritt hinaus, mit den Absätzen den Boden stampfend.
Auf dem Hausflur drehte er sich noch einmal um und rief mit sanfterer Stimme: „Auf Wiedersehen, Fräulein Käthe!“
Sie aber erwiderte ihm nichts, so betroffen war sie von dem ganzen Vorgange.
Mein Gott, was war denn dabei so unschicklich, daß sie Johann in der Küche aufnahm? Litt doch darunter keineswegs die Arbeit. Im Gegenteil, weit rascher ging sie ihr von statten, wenn er so bei ihr saß und so hübsch mit ihr plauderte. Übrigens ist es doch weit anständiger, so ruhig zu Hause zu sitzen, anstatt sich in den Schenken herumzutreiben. Der Herr aber wollte dies nicht einsehen!
Als er die Küche verließ, verbot er ihr strengstens, Johann jemals wieder dort aufzunehmen. Träfe er noch einmal ihn oder irgend eine andere Mannsperson in der Küche, so werde sie sofort entlassen und erhalte noch dazu ein schlechtes Zeugnis.
Gewiß hätte der Herr dazu das Recht, wenn sie irgend einen Soldaten aufnähme. – Das gehört sich nicht für ein anständiges Haus. – Solch ein friedlicher Mann aber, wie Johann, tut der Küche, in der er sitzt, keinen Abbruch. Der Herr hat überdies gut reden; denn er kann jederzeit mit seiner Frau plaudern und ein gutes Wort hören. Ihr jedoch ist es immer so traurig zu Mute in der dunklen Küche mitten unter Töpfen und Trögen. Jetzt muß sie wieder mit Johann auf der Treppe oder im Keller zusammenkommen. Und sie fürchtet sich doch so sehr vor den dunklen Winkeln!…
In der Küche plauderte es sich so schön zu zweien und die Abende vergingen so schnell. Jetzt wird alles wieder anders werden!…
Tiefbekümmert lehnte sie den Kopf an das Gitterfenster und stand dort lange Zeit mit geschlossenen Augen.
Den ganzen Tag mußte sie so schwere Arbeit tun – weshalb sollte sie sich nicht wenigstens abends ein wenig zerstreuen?
Noch immer rauschte der Regen herab auf das Dach und plätscherte dumpf aus den Rinnen. Auf dem Hofe herrschte stürmisches Herbstwetter, der Schrecken aller Schwindsüchtigen.
Auch Käthe befand sich in so trüber, gedrückter Stimmung, als ahne sie, daß mit diesen Herbststürmen aller Sonnenschein ihr entfliehe und eine Stunde ihr nahe, so dunkel wie draußen die Nacht und so schwer und kalt wie der Regen, der weithin alles überschwemmte.
Allmählich genesen, kehrte Budowski zurück zu seiner früheren Beschäftigung. Nur noch magerer war er geworden und tiefere Falten durchfurchten sein fahles Gesicht. Trotz alledem übernahm er wieder das Steuer des Haushaltes und bemühte sich, durch unbegrenzte Sparsamkeit die Lücken wieder auszufüllen, die durch seine Krankheit entstanden waren.
Für Käthe jedoch war dies ganz gleichgültig.
Das herbstliche Unwetter gestattete ihr kaum, an Sonntagsausflüge auch nur zu denken, und das Wiedersehen mit Johann auf der Treppe oder vor der Haustür war mit keinerlei Ausgaben für sie verknüpft.
Wenn sie trotzdem noch vom Marktgelde stahl, so tat sie dies mehr für Julia, die seit ihres Gatten Krankheit die doppelte Menge von Räucherkerzchen verbrauchte und demnach auch entsprechend mehr Geld.
Käthe lebte jetzt immer wie im Fieber. War sie ja einmal ruhig eingeschlafen, so weckte sie immer wieder eine seltsame Unruhe voller ängstlicher Ahnungen.
Dann war ihr, als stürze sie in irgend ein großes Unglück, dem sie nicht entrinnen könne.
Ihr Verhältnis mit Johann blieb fast unverändert: Immer noch sagte sie „Nein!“, fühlte jedoch, daß die Kräfte ihr allmählich schwanden.
Aus der Küche vertrieben, lauerte Johann ihr in allen Winkeln auf und raunte ihr Worte in das Ohr, bei denen es ihr schwarz vor den Augen ward.
Überdies stieß das ganze Haus sie förmlich zum Falle: Die Mägde, indem sie ihr nachblickten, wie einer Verworfenen, und der Herr, indem er ihr immer wieder den Männerbesuch in der Küche vorwarf. Vergebens bestritt sie alles mit Tränen im Auge. Niemand glaubte ihr.
So glitt sie immer mehr an den Rand des Abgrundes, wie ein herabrollender Stein.
Nach Rettung rief sie nicht, obgleich sie manchmal eine wahre Todesangst beschlich, zumal wenn sie niederkniete zum Abendgebet, weil sie fühlte, daß ihr dies nicht aus dem Herzen kam.
Früher hegte sie den Aberglauben, daß ihr, wenn sie einschlafe, ohne gebetet zu haben, im Traume der Satan erscheine. Daran glaubte sie steif und fest und wäre um nichts in der Welt ohne Gebet schlafen gegangen.
Johann, dem sie dies anvertraute, lachte sie aus, mit der Versicherung, er habe, obgleich er niemals abends bete, trotzdem noch nie den Satan gesehen, wie sehr er sich dies auch wünsche.
Anfangs befremdete sie dies, allmählich aber dachte sie darüber nach und gelangte zu einer gewissen Lauheit in dem bisher so eifrig geübten Beten.
Seit einiger Zeit war Johann auffallend mißtrauisch und eifersüchtig geworden. Auf Grund eigener Beobachtungen oder fremder Einflüsterungen redete er sich ein, Käthes Widerstand beruhe auf irgend einer geheimnisvollen Liebe, deren Gegenstand ein ihm Unbekannter sein müsse.
Vergebens versicherte Käthe, sie habe sich noch niemals in ihrem Leben mit einem andern eingelassen.
Johann verharrte auf seiner Verdächtigung, weil er glaubte, auf diese Weise schneller zum Ziele zu gelangen. Dies war sein letztes Mittel. Schlug auch dies fehl, so mußte er auf alles verzichten. Eine förmliche Wut hatte er, Käthe zu verderben, jene Wut eines Mannes voller unersättlicher Begierden. Vielleicht glimmte im Innern dieser zügellosen, fast vulkanischen Natur noch irgend ein besseres, edleres Gefühl. Die Leidenschaft aber dämpfte die Stimme des Herzens und jede selbst der tiefsten Volksschicht angeborene edlere Regung dermaßen, daß in ihm das Tier die Oberhand gewann.
Angstvoll zitterte Käthe vor diesem Tiere, welches ihr auflauerte in allen Winkeln. Mit der Unterwürfigkeit eines zum Verderben verdammten Wesens aber hatte sie nicht mehr die Kraft, zu entfliehen oder um Hilfe zu rufen.
Übrigens, wohin sollte sie sich auch wenden? Etwa zur Herrin, die sie begleitete zum Stelldichein mit dem Geliebten? Oder zum Herrn, der ihr die Kaffeebohnen zuzählte und jedes Stückchen Holz?
Beten konnte und mochte sie nicht mehr, seit ihr zu Mute war, als habe Gott sich von ihr abgewandt.
Und auch das junge Blut in ihr forderte seine Rechte. Noch rang sie mit sich selbst; doch dies waren nur krampfhafte Zuckungen, die sie nicht mehr zu retten vermochten. Die angeborene Ehrbarkeit in ihr wurde vom Leben und dessen elenden Zuständen erstickt. Die edlere Seite ihres Wesens war zu wenig entwickelt, um ihr einen genügend starken Schutz und Schild zu bieten gegen die Versuchungen, die sie rings umgaben…
Auch in ihr war das – Tier unter Johanns Einfluß erwacht…
Sein Verdacht bereitete ihr großen Kummer. Woher entstand er? Weshalb warf er ihr immer wieder jenen anderen vor, von dem sie selbst nichts wußte? Vor einigen Tagen erwähnte er sogar, dies sei irgend ein „Zylinder“. Ach! Daß solch ein „Zylinder“ für sie nichts sei, das wußte sie nur zu gut und nimmermehr hätte sie sich mit solchem eingelassen!
Und dennoch ließ Johann sich dies nicht ausreden und grollte ihr und sagte ihr gestern nicht einmal „Gute Nacht!“
Vielleicht läßt er sich heut ein wenig beschwichtigen. Die Herrin beabsichtigt abends wieder ihre Spazierfahrt; dann kann die Magd etwas länger vor der Tür stehen und sich gründlich aussprechen mit Johann…
Leider aber sollte ihr dieser Plan nicht gelingen.
Als Käthe den Samowar zurechtmachte, stürzte ein Bote außer Atem in die Küche mit einer kaum leserlich beschriebenen Karte. Dieselbe sollte sofort der Herrin übergeben werden mit dem Hinzufügen, die Mutter liege im Sterben.
Auf Julia machte diese Nachricht einen gewaltigen Eindruck und weckte sie auf einen Augenblick aus dem Halbschlummer, in dem sie sich sonst befand. Ohne ein Wort zu erwidern auf des Gatten beißende Bemerkung, daß die Mutter doch gar zu oft im Sterben liege, eilte sie, halb angekleidet und mit offenem Haar, hinaus.
Käthe folgte ihr, um ihr behilflich zu sein, Julia aber hielt sie mit der Hand zurück und flüsterte ihr nur noch auf der Treppe zu: „Gieb ihm Nachricht! Du weißt schon, wem!“
Dann verschwand sie im Dunkel und hinterließ nur den Duft von Patschuli und Räucherkerzen.
Jetzt flog sie förmlich an das Sterbebett der Mutter, deren Krankheit ihr so oft als Vorwand diente zu ihrem frevelhaften Beginnen.
Vielleicht war endlich auch in dieser treulosen Gattin und schlechten Tochter das Gewissen erwacht.
Käthe machte sich gleichwohl darüber weiter keine Gedanken und wußte nur, daß die Herrin sie beauftragte, wieder mit deren Geliebten zu verhandeln, den sie aus tiefster Seele haßte. Dennoch mußte sie gehen, um den Befehl auszuführen, sonst setzte sie sich dem Zorn der Herrin aus.
Als die bestimmte Stunde schlug, warf Käthe sich ein Tuch über den Kopf und eilte auf die Straße.
Vor der Haustür stand Johann und rauchte sein Pfeifchen. Ohne sie zu begrüßen, verfolgte er nur aufmerksam ihre Schritte und eilte ihr nach, sobald sie sich etwas entfernt hatte. Unheimlich funkelten seine Augen und durch die zusammengepreßten Zähne zischte er nur die Worte: „Verdammtes Frauenzimmer!“
Schnell hatte Käthe die Strecke Weges zurückgelegt, die sie von der Stelle trennte, wo der Geliebte ihre Herrin zu erwarten pflegte. Schon sah sie ihn dort stehen, wie gewöhnlich mit der brennenden Zigarre.
Hastig näherte sie sich ihm, um ihm mitzuteilen, weshalb Frau Julia heute nicht kommen könne. Diesmal fügte sie jedoch nicht hinzu: „Die Herrin läßt sich entschuldigen.“ Diese Höflichkeit hielt sie nach näherer Überlegung für vollständig überflüssig.
Er jedoch blickte sie mit demselben Wohlgefallen an und wiederholte sein Ansinnen mit der ganzen Unverschämtheit eines auf diesem Gebiete längst bewanderten Studenten.
Schweigend wandte Käthe sich ab, um ungesäumt heimzukehren, als sie plötzlich – Johann mitten auf der Straße stehen sah.
Ohne die Worte des Studenten zu verstehen, hatte er dort alles mit angesehen. Aha! Jetzt wußte er, weshalb sie ihn verschmähe, den armen Portier! Ein „Zylinder“ wartet auf sie… zu dem läuft sie abends – o, diese „Jesuitin!“ und mit ihm spielt sie nur Komödie. Jetzt wußte er, woran er war mit dieser Heuchlerin!
Käthe aber eilte an ihm vorüber, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Schon war es dunkle Nacht und nur die Droschkenlaternen warfen noch fahle Lichtstreifen auf die unheimlichen Flammen in Johanns Augen und sein wutverzerrtes Gesicht.
Als Käthe dise bemerkte, fürchtete sie sich vor einem Auftritt und wünschte sehnlichst, diesem Sturme vorzubeugen. Unmöglich aber konnte sie doch Johann sagen, sie habe mit dem Geliebten ihrer Herrin verhandelt. Wußte sie doch, das wäre kein Spaß, wenn er dies weiter erzählte. Also lief sie schnell weiter nach der Richtung ihrer Wohnung.
Auf Schritt und Tritt aber folgte ihr Johann mit geballten Fäusten und fast blaurotem Gesicht.
Als sie die Haustür erreichten, blieb Käthe plötzlich stehen…
Obgleich vom Regen ihr Tuch schon triefte – die einzige Hülle selbst bei größter Kälte – beachtete sie dies gar nicht, sondern flüsterte nur, zitternd und verlegen, um sich einigermaßen zu rechtfertigen: „Ach, Herr Johann“, brach aber sofort wieder ab, da er sie plötzlich am Arm packte und ohne Rücksicht auf die Vorübergehenden wütend rief:
„Ha, du Jesuitin! Du Otterngezücht! Du Pharisäerin! Also nachts treibst du dich herum mit ‚Zylindern‘ und mich hältst du zum Narren! Dich will ich lehren, den Leuten Sand in die Augen streuen!“
Fast erstickte er vor Wut und so zu Kopfe stieg ihm das Blut, daß die Augen ihm purpurrot unterliefen. Außer sich, wie ein Rasender, schlug er auf sie los, bis sie ächzend zusammenbrach. Dann stürzte er durch die Haustür in sein Stübchen, um sich dort einzuschließen, als fürchte er sich selbst vor seinen Wutausbrüchen.
Käthe aber lag noch immer vor der Haustür, halb betäubt von den Faustschlägen, die die rechte Seite ihres Kopfes trafen.
Erst als einige Vorübergehende vor der so schwer Mißhandelten stehen blieben, der das Tuch von den Schultern herabgefallen war und das zerzauste Haar den Nacken umwallte, kam sie allmählich wieder zur Besinnung und taumelte, sich den Kopf haltend, durch die Haustür.
Geschlagen hatte er sie, sogar mißhandelt! Braun und blau mußte sie morgen aussehen. Trotzdem grollte sie ihm nicht. Denn wenn ein Bursch sein Mädchen schlägt, ist er in seinem Rechte.
Das ist einmal so Bestimmung und keine Polizei ist befugt, sich in die Händel solch eines Liebespaares einzumischen.
Übrigens handelte es sich ihr nicht um die blauen Flecke, sondern nur das schmerzte sie hauptsächlich, daß Johann eine so schlechte Meinung von ihr hatte und sie des Verkehrs mit jenem ihr so widerwärtigen Menschen beschuldigte.
Mein Gott! Was mußte sie doch alles erdulden um ihrer Herrin willen! Hätte diese nicht sie zu ihrem Geliebten geschickt, so hätte auch Johann keinen Anlaß zur Eifersucht gehabt! War es ihre Schuld, daß sie die Befehle der Herrin ausführen mußte?
Und Johann aufzuklären über die Sachlage war ihr rein unmöglich, zumal da er sie so plötzlich überfiel, daß sie gar nicht zu Worte kommen konnte. Dann lief er davon und schloß sich ein, und sie fürchtete sich, bei ihm anzuklopfen.
Zermartert also, tief seufzend und mit geschwollenem Gesichte, stieg sie langsam die Treppe hinauf. Was hatte sie nur verschuldet, daß Gott sie so hart bestrafte! In der Küche angelangt, machte sie sofort die Lauge zurecht, die sie zum Scheuern brauchte.
Da es Sonnabend war, harrte ihrer eine Menge Arbeit.
Der Kopfschmerz aber setzte ihr immer ärger zu, und an den Schläfen klopften ihr alle Adern. Kalte Waschungen und Umschläge brachten ihr keine Linderung, sondern vermehrten nur noch den brennenden Schmerz.
Zwei Stunden schon war sie beschäftigt mit dem Säubern der täglich gereinigten und immer wieder beschmutzten Küchengeräte.
Budowski hatte, wider seine Gewohnheit, sich noch nicht schlafen gelegt, sondern wartete auf seine Frau und lief ungeduldig in den Zimmern herum mit dem Lichte in der Hand, dessen Stearin auf den Fußboden und alle Möbel tropfte.
Einige Mal kam er auch in die Küche, um Käthe zur Arbeit anzutreiben, obgleich sie, schweißtriefend und durchnäßt, einem schlecht genährten, aber trotzdem zu nächtlicher Arbeit angespannten Haustiere glich.
Plötzlich erreichte Budowskis Ungeduld ihren Höhepunkt. Nein! Denkt denn diese Julia heut gar nicht an die Heimkehr? Will sie etwa dort übernachten?
Und mit fester Stimme befahl er Käthe, sofort nach der Berliner Straße zu gehen und nicht ohne Julia zurückzukehren.
Käthe trat der Angstschweiß auf die Stirn. Mein Gott! Was sollte sie jetzt anfangen, da sie nicht einmal wußte, wo die Mutter der Herrin wohnte?
Der Herr befahl’s und wird davon nicht abstehen. Und die Magd muß gehorchen…
Daher hüllte sie sich in das noch vom Regen feuchte Tuch und eilte hinaus.
Auf der Treppe war es schon stockdunkel. Der ganze Raum glich einem großen, schmutzigen, übelriechenden Brunnenkessel. Mutig aber wagte sie sich hinab in das finstere Labyrinth.
Da die Haustür schon verschlossen war, mußte sie Johann wecken.
Ach! Bei dem Gedanken schon überlief sie ein Schauer. Wie konnte sie so etwas wagen, nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war!
Aber auch zu dieser Demütigung mußte sie sich entschließen. Der Herr befahl’s und sie mußte gehen. Nach der Berliner Straße würde sie sich schon durchfragen und einmal in der Straße, sicher auch leicht die Wohnung der alten Frau auffinden.
Zitternd und bebend klopfte sie an die Fensterscheibe, durch die etwas Licht in des Hausmanns Stübchen drang.
Ein Weilchen blieb dort alles still.
Daher klopfte sie aufs neue…
Jetzt erst erwachte Johann mit lautem Stöhnen und Brummen.
Nachdem er eine Art von Drillichmantel übergeworfen, nahm er den Hausschlüssel vom Nagel an der Tür und trat zähneklappernd, nur halb bekleidet und noch warm von Schlafe, hinaus in die naßkalte Luft, ohne zuvor ein Licht anzuzünden.
Da die Haustür noch ganz im Dunkeln lag, schmiegte sich Käthe an die Wand, um von Johann nicht erkannt zu werden und auf diese Weise von neuen Faustschlägen und Schmähungen verschont zu bleiben.
In dieser Berechnung aber täuschte sie sich. Schon beim Öffnen der Haustür erkannte Johann sie am Wuchse und aufs neue entbrannte in ihm die ganze Wut.
Wo will sie schon wieder hin so mitten in der Nacht? Gewiß zu dem „Zylinder“, mit dem sie abends auf der Straße plauderte. Hat sie noch nicht genug an diesem Stelldichein? Will sie auch nachts sich hinausschleichen zum Liebsten? Und er selbst soll ihr die Haustür öffnen, um ihr dies zu ermöglichen? Und vor derselben Tür hatte sie ihm versichert, sie wünsche nur zu heiraten, wie es einem ehrlichen Mädchen zukomme!
Er aber war töricht genug, ihr zu glauben und behandelte sie, wie eine, die noch etwas zu verlieren hat!
Und mit roher Hand packte er sie am Arm und stieß sie zur Tür hinaus.
„Meinetwegen brich dir das Genick!“ zischte er mit vom Zorn halberstickter Stimme und warf die mit Eisen beschlagene Tür ins Schloß, daß alles krachte.
Käthe fiel fast mit dem Gesicht auf das schlüpfrige Pflaster, auf welches noch immer der Regen mit dumpfen Rauschen herabströmte.
Unwillkürlich riß sie das Tuch vom Kopfe, um die glühenden Schläfen etwas zu kühlen an dem kalten Naß, welches ihr Gesicht auf der dunklen Straße förmlich peitschte.
Bis an die Knöchel im Wasser watend, schritt sie weiter.
Hier und da brannten noch die Gaslichter mit matten Scheine.
Rauschend überschwemmten die Rinnsteine mit ihrem Schmutzwasser die Straßen im Vereine mit dem Inhalte der Dachrinnen, der sich mit eintönigem Schall, wie ferner Trommelwirbel, unaufhörlich ergoß.
Blindlings eilte Käthe immer vorwärts, durchnäßt bis auf die Knochen und zitternd vor physischem und moralischem Schmerze, immer noch das geschwollene Gesicht dem kalten Regen schutzlos preisgebend.
Die menschenleeren Straßen durchrollte nur noch ab und zu eine Droschke, die das Trottoir mit Straßenschmutz bewarf. Oder ein verspäteter Kneipengast eilte vorüber, der sich vergeblich bemühte, sich mit dem Schirme vor dieser Sintflut zu schützen.
Käthe wandte sich nach rechts, ohne zu wissen, wohin die Straße führe.
Fast verlor sie die Besinnung. Während ihr die Haut förmlich glühte, war ihr im Innern so eisig kalt, daß ihr die Zähne klapperten, wie im Fieberfrost.
Mit den ziegelroten Händen wischte sie sich das Wasser vom Gesicht. Kaum trug sie noch die Last der nassen Kleider, und das Tuch auf den Schultern wurde ihr schon bleiernschwer.
Trotzdem eilte sie immer weiter, wie ein verfolgtes Wild.
Nur das wußte sie, daß sie nicht nach Hause zurückkehren durfte.
An der Haustür mußte sie Johann begegnen und oben erwartete sie der Herr, der ihr verbot, ohne die Herrin heimzukehren.
Wo aber sollte sie diese suchen?
Um das Übel voll zu machen, konnte sie sich nicht einmal erinnern, wie die Mutter hieß. Selbst wenn sie sich noch fortschleppte bis zur Berliner Straße, an welcher Tür sollte sie danach fragen.
Noch immer durchirrte sie ihr völlig unbekannte Straßen und lauschte ängstlich dem Schlage der Turmuhren, dessen düsterer Schall nur träge die schwere Herbstluft durchdrang.
Plötzlich blieb sie betroffen stehen.
War es doch einem Mädchen nicht erlaubt, so spät in der Nacht allein auf den Straßen herumzuirren. Solche Landstreicherinnen verhaftet der Nachtwächter und führt sie zur Polizei. Nein! Alles, nur das nicht! Lieber wollte sie Johanns Faustschläge ertragen und das Schelten des Herrn!
Und, obgleich ihr schon die Kniee schlotterten vor Schwäche, kehrte sie um, nachdem sie noch einige Straßen durchirrt, und fast instinktiv erriet sie die Richtung, nach der die rasende Angst sie hinzog.
Schon sah sie im Dunkel sich verfolgt, wie von Gespenstern, von den Schutzleuten, deren Helme und Waffen unheimlich drohend blinkten vor ihrer aufgeregten Phantasie.
Aber schon stand sie auch vor ihrer Haustür und zog krampfhaft an der Glocke.
Als Johann die Tür öffnete, prallte er betroffen zurück vor der durchnäßten, unförmlichen Masse, die so hastig hereinstürzte.
Bald jedoch erkannte er Käthe und wollte, nachdem er die Haustür zugeschlagen, sich in sein Stübchen zurückziehen.
Auf das dumpfe Geräusch eines vorüberschlüpfenden Körpers aber wandte er sich um und sah an der Wand etwas Schwarzes, seltsam Gekrümmtes liegen.
Als er sich näherte und die Hand danach ausstreckte, stieß er auf das nasse Tuch, welches Käthes Schultern bedeckte. Und als er daran zog, stieß er auf Widerstand.
Käthe war auf die Knie gesunken, wie gelähmt von physischer und moralischer Qual.
Als Johann sich über sie herabneigte, fühlte sie den heißen Atem, besaß aber nicht mehr die Kraft, sich ihm zu entwinden.
Ihm aber war es, als banne ihn etwas hier fest und gebiete ihm, sich der noch vor kurzem von ihm Gemißhandelten zu nähern: Die Sinne gewannen plötzlich die Oberhand über die Eifersucht und den Haß gegen die Ungetreue.
Obgleich er sie wegen ihres nächtlichen Herumtreibens mit anderen Männern haßte, hielt er sie krampfhaft fest, um sie nicht wieder aus seinen Armen zu lassen.
Jetzt wußte und erkannte sie, daß die Stunde ihres – Falles da war…
Und gleichwohl fehlte ihr schon die Kraft, sich zu wehren…
Als er sie aber plötzlich in seine Arme schloß, wand sie sich noch einmal hin und her, wie ein tödlich verwundetes Wild, während er, um sie zu beruhigen, ihr nur die Worte, die wie Schlangenzischen im dunklen Raume klangen, zuflüsterte: „Sei doch nicht so dumm; ich will dich ja – heiraten!“
Julias Mutter war wirklich in jener Nacht gestorben und – hatte kein Vermögen hinterlassen.
Dies brachte Budowski fast zur Verzweiflung, und immer mehr quälte er seine Gattin, die, durch den Tod der Mutter nur vorübergehend aus ihrem Halbschlummer gerissen, jetzt ihre Trauer mit der rücksichtlosen Gleichgültigkeit einer blutarmen Blondine trug.
Getäuscht in seinen Hoffnungen, verwandte Budowski jetzt noch größere Aufmerksamkeit auf die häuslichen Ausgaben und seine Knauserei überschritt alle Grenzen. Daher konnte Käthe auch nicht mehr ihre kleinen Diebstähle fortsetzen, da er meist auf dem Wege zum Bureau alle täglichen Einkäufe selbst besorgte und sich von Käthe nur mit dem Korbe begleiten und das Gekaufte heimtragen ließ.
Julia aber lag, nachdem sie all ihrer billigen Parfüms beraubt war, tagelang seufzend im Bette, fast immer mit geschlossenen Augen, wie ein halb lebloses Wesen. Den Geliebten hatte sie seit Wochen nicht wiedergesehen, da ihr nach dem Tode der Mutter jeder Vorwand fehlte, abends auszugehen. Und ohne Räucherkerzchen und Geliebten vegetierte sie vollends nur noch dahin…
Käthe hingegen empfand nach ihrem Falle ein seltsames Gefühl von Angst und Scham. Und dieses Gefühl nahm von Tag zu Tag zu seit jener Stunde, in der Johann sie an sich riß, ohne mit ihr vor den Altar zu treten, indem er ihr nur zuflüsterte: „Ich will dich ja heiraten!“
Diese für sie so bedeutsamen Worte wiederholte sie sich immer wieder in der entsetzlichen Unruhe, die ihre Seele zerriß.
Gewiß, jetzt mußte er sie heiraten, wollte er sie nicht für ihr ganzes Leben unglücklich machen!
Er schien doch ein braver Mann zu sein, und sie hatte ihm versichert, daß jener „Zylinder“ niemals ihr Liebster war.
Allerdings hatte sie ihm nicht gesagt, daß die Herrin sie zu ihm geschickt. Dies konnte er sich aber schon selber denken.
Gewiß glaubte er ihr, denn er hatte selbst zugegeben, daß Mary ihm auf dem Hofe von ihrem Stelldichein mit „Einem aus der Stadt“ erzählt habe. Zwar wollte er es dem Leichtfuß nicht glauben. Nachdem er aber sich selbst davon überzeugte, konnte Käthe es ihm nicht verargen, daß er ihr den Kopf ein wenig warm gemacht. Jetzt mochte es schon so sein, wie sie sagte; fortan aber verbat er sich solche nächtliche Ausflüge.
Dies versprach sie ihm auch, aber obgleich sie ihn damit besänftigte, verließ sie selbst die Unruhe keinen Augenblick. Oft war ihr zumute, als sei sie ein ganz anderes Wesen, als sei sie eine ihrer guten Bekannten, die gestorben und bei deren Begräbnisse sie war.
Die Heiligenbilder konnte sie gar nicht mehr ansehen. So oft sie zum Beten niederkniete, bekreuzte sie sich und stand schleunigst wieder auf, als verfolge sie jemand auf Schritt und Tritt und raune ihr etwas in das Ohr.
Im Dunklen fürchtete sie sich und wenn die Lampe erlosch, verbarg sie den Kopf unter das Kissen. Entschieden ging etwas Besonderes mit ihr vor. Dieser Zustand quälte sie über die Maßen.
Dazu kam noch, daß Johann seit jener denkwürdigen Nacht sich dermaßen veränderte, daß er kaum wieder zu erkennen war.
Mit der Miene eines Siegers nahm er wieder den früheren höhnischen Ton an. Und dies schüchterte sie vollends ein.
Ihr war, als ob Johann sie geringschätze und ihr dadurch alles zu verstehen gebe, was zwischen ihnen vorgefallen war. Und darin täuschte sie sich keineswegs.
Nach Mannesart mißbrauchte Johann seine Überlegenheit und den über sie errungenen Sieg.
Stets erfreute er sich an ihrem Anblick und jede Annäherung an sie entflammte seine Leidenschaft. Nur zu bald aber erlosch in ihm jene Glut, die er sonst gegenüber jeder ihm Widerstand Leistenden empfand.
Verwöhnt durch seine Erfolge bei anderen, fand er anfangs einen seltenen Reiz in Käthes Weigerung, und dies vor allem fesselte ihn. Sobald er jedoch das ersehnte Ziel erreicht hatte, sah er in Käthe nur die gewöhnliche Gefallene, ohne zu bedenken, daß er selbst sie zu Falle gebracht.
Als sie zerschlagen und zermartert sich zu seinen Füßen wand, riß er sie mit roher Gewalt in seine Arme mit dem Triumphe des sich seines physischen und moralischen Übergewichtes bewußten Mannes.
Mit diesem Augenblicke sank sie in seinen Augen herab auf jenes Niveau, in dem er seine gewohnten Liebschaften sich auswählte. Jetzt war für ihn Käthe ganz dasselbe, was Mary oder jede andere seiner früheren Geliebten gewesen.
Überdies wünschte er, sich mit seinem Siege zu brüsten.
Zu lange schon „ging“ er mit diesem „Mehlsack“, als daß die ganze Dienerschaft im Hause dies nicht bemerkt hätte. Mary ermangelte daher auch nicht, von seiner ungewöhnlichen Liebschaft mit Budowskis „Küchendragoner“ überall zu sprechen.
Seine falsche Stellung zu Käthe erlaubte ihm nicht, einen bestimmten Standpunkt gegenüber all den Spötteleien einzunehmen, die sich in den dunklen Winkeln des Hausflurs und der Treppe im Flüsterton verbreiteten.
Seine unersättliche Leidenschaft dämpfte in ihm die Eitelkeit, welche die unaufhörlichen Sticheleien über Käthes Äußeres und ärmliche Kleidung oft empfindlich verletzten. Unter der geflickten Jacke ahnte er die vollen, kernigen Glieder, die er in seine Arme zu schließen sich sehnte. Als er sie jedoch berührte und ihre kühle, glatte Haut fühlte, schämte er sich beim Gedanken an die geflickte Jacke einer so ärmlichen Liebsten.
Gleichwohl wollte er nicht, daß ihm jemand eine Niederlage nachsage und deshalb bemühte er sich, Käthes „Fall“ so laut wie möglich zu verkünden.
Lieber mochte er sich zu deren Armut bekennen, als seinen Ruhm als Sieger geschmälert sehen.
Übrigens, weshalb sträubte sie sich so lange, wenn es früher oder später doch so enden sollte!…
Sie dagegen hing seit ihrem Falle mit geradezu blinder, fast tierischer Liebe an ihm und sah in ihm den Herrn und Meister aller Geschöpfe, insbesondere auch ihrer selbst.
Ihre Zukunft und ihr ganzes Leben warf sie ihm zu Füßen, nachdem sie ihr einziges Gut auf Erden, ihre Ehre, an ihn verloren.
Welch großer Unterschied war in den Gefühlen dieser beiden! Während sie erst zu lieben begann, hörte er damit auf, wenigstens schien es so.
An Erfüllung seines Versprechens, welches er so unvorsichtig in der Aufwallung ihr gegeben, dachte er nicht im entferntesten.
Zwar erinnerte er sich, etwas Derartiges gesagt zu haben. Dies hatte er aber schon öfters getan, ohne gleich heiraten zu müssen. Wie töricht, so etwas zu glauben!
Übrigens, wenn die Männer alle solche Verpflichtungen erfüllen wollten, hätten sie wenigstens zehn Dutzend Weiber!…
Oho! Johann wußte schon sich herauszuwinden. Die Mütze schief auf dem Ohr, wiederholte er nur seine Lieblingsredensart: „Das Narrenschiff ist untergegangen!“
Zu Käthe aber sagte er dies nicht. O nein, dazu war er zu „politisch“.
Obgleich sie keine Furie war, konnte sie ihm doch nur zu leicht etwas anhängen. Und dies wünschte er durchaus nicht.
Im Gegenteil, er lächelte ihr zu, wenn sie über den Hof ging und folgte ihr auf den Boden oder in den Keller…
Sie aber zitterte bei jeder Annäherung und gab sich nur schüchtern seinen Liebkosungen hin.
In ihrer großen, kräftigen Gestalt war die Ängstlichkeit eines kleinen Mädchens, und dies machte sie umso anziehender.
Nicht aber für Johann, der in seiner Verderbtheit als Gassenheld und in seiner rohen Natur Käthes Erröten geradezu lächerlich fand.
Was, zum Henker, nimmt diese „Jesuitin“ jetzt noch für Mienen an, wo sie doch alle Ziererei ablegen sollte, wie einen unnötigen Lappen!
Vordem wäre dies noch angegangen. Jetzt aber hat es doch gar keinen Zweck mehr.
Und allmählich begann sich Johann nach neuer Beute umzusehen, indem er jeder Magd frech in die Augen blickte, die mit den Eimern nach Wasser ging oder auf den Markt mit dem noch leeren Korbe.
Die beständige Sucht nach Neuem, die im Blute jedes Mannes schlummert, erlaubte ihm nicht, sich längere Zeit mit einer Geliebten zu begnügen.
Übrigens, was sollte ihn binden?
Etwa das Gewissen?… Gegen diesen Wurm hilft am besten ein Kognak oder eine ähnliche Herzstärkung.
Weshalb lief sie ihm übrigens selber in die Finger. War es seine Schuld, daß sie so dumm war? Und endlich, was ist ihr denn so Schlimmes geschehen? Gestorben ist sie davon nicht. Bah! Wenn sie alle daran stürben, gäb es bald keine Weiber mehr auf der Welt!…
Jetzt wußte schon die ganze Dienerschaft im Hause von Käthes Fall.
Höchst beredt verdrehte die Köchin der Frau Gräfin die Augen und raffte verächtlich ihr Kleid auf, wenn sie an Käthe auf der Treppe vorübergehen mußte.
Die Zofe, eine bleiche Blondine mit blauen Rändern unter den Augen von all den schlaflosen Nächten, hatte stets eine höhnische Bemerkung auf den zusammengepreßten Lippen, so oft Käthes hohe Gestalt ihr auf dem Hofe begegnete.
Die Tapezierersfrau, deren Mägde und die Hökerin, alle diese Weiber, noch voller Erinnerungen an allerlei bedenkliche Liebschaften, überhäuften sie mit einem Hagel von Schmähworten.
Sie aber ging scheinbar ruhig vorüber, nur ab und zu unter dem Drucke dieser Verachtung erbleichend, die sie nicht mehr zurückzuweisen berechtigt war, die vielmehr, wie sie fühlte, ihr zukam.
Seit ihrem Falle gebührten ihr all jene Schimpfworte, die früher ihr ganzes Wesen erschüttert hätten und gegen die sich zu wehren sie jetzt weder das Recht noch die Kraft mehr besaß.
Wäre weniger Treu und Redlichkeit in ihrer Seele gewesen, hätte sie dreist alle rohen Verdächtigungen ihrer Gegnerinnen bestreiten können.
Oft schon wollte sie sich umwenden mit dem lauten Rufe: „Das ist nicht wahr!“ Immer aber verließen sie die Kräfte und gesenkten Hauptes ging sie langsam vorüber und trug geduldig das verdiente Leid.
Jetzt fühlte sie sich totunglücklich und wagte nicht einmal, Johann zu sagen, welchen Verdruß ihr all die Spöttereien und Schmähungen bereiteten, die sie mit anhören mußte.
Vielleicht hätte er sie gar noch ausgelacht! Nein! Lieber wollte sie diese Demütigungen schweigend ertragen, zumal da sie dieselben selbst verschuldet.
Am meisten hatte sie von Mary auszustehen. Von Grund aus schon verderbt in der Atmosphäre ihrer Eintagsliebschaften, hatte dies Frauenzimmer nur zu bald den Fall ihrer Nebenbuhlerin gemerkt.
Also auch diese Dummstolze mußte dies schließlich erleben! Jetzt wird sie die Nase nicht mehr so hoch tragen und, wie ein Pfau sich aufblähend, vor anderen sich mit ihrer Ehrbarkeit brüsten. Jetzt ist sie nichts anderes, wie ich selbst, die Johann nur deshalb so beschimpfte und zurücksetzte, weil ich es wagte, dieser Käthe Übles nachzureden.
O, längst wußt ich, wie dies enden werde!
Diese Stolzen fallen immer am tiefsten!
Heiraten wollte sie? Jetzt hat sie’s ohne Trauung! Ich wenigstens wußte immer, wen ich vor mir hatte. Mein erster Schatz war ein flotter Student und kein Hausknecht.
Später freilich ging es, wie gewöhnlich, auch mit mir etwas bergab. Aber wenigstens der Anfang war höchst anständig. Käthe dagegen fängt mit dem Hausknecht an. Natürlich: gleich und gleich gesellt sich gern!
Inzwischen war es Winter geworden, hart und kalt, und überall lag Eis und Schnee.
Für Käthe war dieser Winter ungemein beschwerlich.
Außer ihrer wollenen Jacke besaß sie zur Umhüllung nur noch ein altes schwarzes Kamelotttuch, welches sie jedoch nicht einmal im Herbste genügend vor Kälte schützte.
Als sie den neuen Dienst antrat, hatte sie noch ein neues, wärmeres Tuch. Während Budowskis Krankheit aber hatte Johann sie ja fast allabendlich besucht und sie mußte ihn doch anständig aufnehmen. Und obgleich sie so manchen „Marktgroschen“ erübrigte, blieb doch noch dies und jenes einzukaufen. Denn mit dem Essen durfte sie doch nicht knausern.
Daher wanderte das Tuch zum Althändler für einen lumpigen Gulden. Und dieser reichte kaum hin zu zwei Mahlzeiten, nach denen Johann sich behaglich den Magen streichelte.
Mit Freudentränen im Auge bemerkte sie seine Befriedigung, ohne an die traurigen Folgen ihrer Gastfreundschaft zu denken.
Auch jetzt, obgleich sie zitternd vor Kälte die erfrorenen Hände unter dem abgetragenen Tuche barg, bereute sie nicht den Verlust der wärmeren Hülle. Dies mußte doch sein, sonst hätte sie Johann nichts auf den Teller legen können! Überdies war sie an Pelzwerk und Wattierung gar nicht gewöhnt.
Gar oft war sie barfuß in die Fabrik gelaufen, im Perkaljäckchen, ohne die Kälte zu spüren.
Nur fühlte sie seit einigen Wochen sich etwas unpäßlich, matt und abgespannt.
Wahrscheinlich, weil sie nur wenig essen konnte und schon der Geruch von Speisen ihr zuwider war. Ihre Hauptnahrung bestand in mit Essig getränktem Brot. Fleisch mochte sie gar nicht sehen. Daher konnte sie nicht begreifen, was mit ihr vorging.
Früher war sie beständig hungrig. Heut schnürte ihr schon der Gedanke an Essen fast die Kehle zu und das Wasser lief ihr aus dem Munde. Alle Glieder waren ihr so schwer, als wären sie von Blei. Tagelang könnte sie schlafen und keine Arbeit mehr ging ihr von der Hand.
Nur mit Mühe konnte sie noch Wasser holen, und scheuern fast nur mit Tränen in den Augen.
Dabei waren ihr Hände und Füße erfroren. Durch die zerrissenen Schuhe drang aller Schnee ein und haftete an der blauroten Haut. Die Hände waren geschwollen wie Kissen und glänzten, wie mit Öl eingerieben. Kehrte sie heim aus der Stadt, so mußte sie erst lange die Finger reiben, bevor sie nur fühlte, daß sie ihr noch angehörten. Gegen Abend brannten ihr Hände und Füße wie Feuer und das Plätteisen konnte sie oft kaum noch festhalten.
Unaufhörlich beschäftigt bei Frost und Hitze, mit geschwollenen Händen und Füßen und mit gekrümmtem Rücken bot Käthe den echten Typus des sogenannten „Mädchen für alles“, d. h. einer schlecht bezahlten und genährten, aber wie ein Stück Vieh zur Arbeit angespornten Magd.
Früher konnte sie wenigstens mit Johann unten im Hause oder auf dem Hofe öfters ein wenig plaudern. Jetzt aber mußte sie sich auch diese Zerstreuung versagen. Denn Johann wurde immer mürrischer und sah sie manchmal wie mit scheelen Blicken und boshaftem Lächeln an.
Einigemal sah sie ihn sogar mit Mary plaudern. Trotz ihrer angeborenen Sanftmut ballte sie da die Fäuste und wollte auf die Gegnerin losgehen.
Beizeiten aber besann sie sich, als lähme die Scham ihr die Hände. Und voll Kummer und Eifersucht ging sie ihrer Wege.
Also hatte Johann sich schon wieder versöhnt mit dieser Mary, die er damals so mit Schmähworten überhäufte! O, sie wußte es noch recht gut, wie er dort auf dem Boden sie so wütend gegen Marys Sticheleien verteidigt hatte.
Jetzt also plauderte er wieder mit dieser in allen Winkeln und lachte dabei, als sei zwischen ihnen gar nichts vorgefallen. Das war recht schlecht von ihm. Denn ein Bursch muß treu zu seinem Mädchen halten.
Bei nächster Gelegenheit machte sie ihn schüchtern auf das Ungehörige seines Verhaltens aufmerksam.
Er jedoch versuchte nicht einmal, sich zu rechtfertigen, sondern erwiderte keck, indem er seine rotwollenen Handschuhe anzog: „Oho! Was fällt dir ein? Darf ich etwa ohne deine gütige Genehmigung mit keiner anderen sprechen?“
Und dabei griff er mit trotziger Miene zum Besen, um den Hausflur zu fegen, und fuchtelte damit herum nach rechts und links, sodaß sie ihm ausweichen und auf den Hof gehen mußte.
Noch heute wollte sie ihn erinnern an die Heirat. Jetzt aber wagte sie es nicht mehr, so hatte er sie eingeschüchtert und aus dem Felde geschlagen.
Obgleich er ihr fest versprochen, sie zu heiraten, erwähnte er dies jetzt gar nicht mehr.
Weshalb nur?…
Ein wahres Chaos verwirrte ihren Sinn…
Sollte er es vergessen haben?…
So etwas vergißt man doch nicht so leicht!… Mit förmlicher Todesangst preßte sie die Hände auf den Busen.
Seit ihrem Falle drückte wie ein Alb sie der Gedanke, Johann könnte sein Versprechen nicht halten.
Noch war sie sich darüber nicht ganz klar; sie fürchtete sich aber schon vor diesem Gedanken, wie vor einem Vampyr, der ihr das Herz aus der Brust reißen solle.
So stand sie auf dem Hofe traurig und frierend. Denn der Schnee drang ihr durch die schadhaften Schuhe. Ihr Gesicht trug die Spuren schlafloser Nächte und höchster Abspannung. Die dunkelumränderten Augen zeigten den Ausdruck tiefen Leids und banger Sehnsucht. Die Wangen waren etwas eingefallen und die Gesichtsfarbe hatte einen ungesunden, gelblichen Anflug und Mund und Nase hoben sich schärfer ab.
Solch eine Veränderung war eingetreten bei ihr, die vorher von Gesundheit strotzte. Verschwunden waren die runden Linien des Kinns und darin das Grübchen. Um so voller aber erschien der Busen, der fast das abgetragene Mieder sprengte.
Nur der Wuchs blieb derselbe, wenn auch die prächtigen Schultern etwas gebeugt und die runden Hüften noch breiter wurden.
Unwillkürlich drehte sie sich plötzlich um, als fühle sie Johann. Und wirklich, dort stand er an der Haustür, plauderte aber mit irgend einem Mädchen.
Dies war jedoch weder Mary, noch irgend eine andere aus dem Hause.
Bald erkannte sie diesen Kopf und diesen Rücken, der so steif wie ein Brett und mit dem hellen Perkaljäckchen bekleidet war, welches sich deutlich vom dunklen Hausflur abhob.
Ja, sie irrte sich nicht: das war – Rosa, die sie besuchen kam, vielleicht, um ihr die ihr zugefügte Kränkung abzubitten.
Und alles vergessend, eilte Käthe auf die Freundin zu, die offenbar bei Johann nähere Erkundigungen über sie einzog.
Ein Weilchen blickten sie sich an, ohne ein Wort zu sagen…
Dann streckte Käthe zuerst ihr die Hand entgegen und begrüßte die Freundin, nicht ohne sich über deren Veränderung zu wundern: Rosas Gesicht trug so deutlich das Gepräge von Not und Elend, daß Käthe, wie mitgenommen sie auch war, ihr gegenüber wie eine blühende Rose erschien.
Rosas ohnehin schon hagere Gestalt war noch mehr abgemagert, soweit dies überhaupt möglich. Nur Schultern und Ellbogen ragten im spitzen Winkel unter der abgetragenen Perkaljacke hervor.
An dem dürren Halse sah man Spuren von langen Fingernägeln, die offenbar erst unlängst wie Habichtskrallen dort die Haut zerkratzt hatten und sogar an einer Stelle bis in das Fleisch eingedrungen waren, wie der Biß eines tollen Hundes. Noch blutete etwas diese frische Wunde. Unter dem linken Auge war die Wange grün und gelb gefärbt und erheblich geschwollen.
Rosa bedeckte sie mit der schmutzigen Hand und bemühte sich, mit den bleichen Lippen Käthe zuzulächeln.
„Ich habe mit dir zu reden“, sagte sie endlich mit vor Frösteln und innerer Aufregung zitternder Stimme. „Könnten wir nicht in deine Küche gehen?“
Dabei sah sie immer ängstlich nach der Haustür, als fürchte sie irgend eine Verfolgung, vielleicht von derselben Hand, deren Finger ihr die gelbliche Haut am Halse zerkratzt.
Als Käthe schwieg, weil der Herr nicht erlaubte, daß irgend jemand sie in der Küche besuche, blickte Rosa sie flehend an und zitterte dabei vor Frost in ihrem dünnen Jäckchen.
Ihr Rock war unten ganz durchnäßt und auf beiden Seiten mit Straßenschmutz befleckt. Vorn zerfetzt, entblößte er die zerrissenen Schuhe, die mit Bindfaden zugebunden und viel zu kurz waren, um die nackten vom Frost geröteten Füße zu bedecken.
Tiefes Mitleid empfand Käthe mit der Freundin. Wußte sie doch selbst, was frieren heißt. Denn obgleich etwas wärmer gekleidet, zitterte auch sie vor Frost. Schnell entschlossen ergriff sie Rosas Hand und erwiderte: „Komm! Gehen wir hinauf!“
Plötzlich schlüpfte aus einem dunklen Winkel des Hausflurs eine Männergestalt: Johann, der während der Begrüßung der beiden Freundinnen sich zurückgezogen, aus seinem Winkel aber Rosa scharf beobachtet hatte.
Obgleich sie ihm wie eine zerlumpte Landstreicherin erschien, erriet er mit tierischem Instinkt dennoch in ihr das leidenschaftliche Weib voller unersättlicher Begierden.
In diesem schwächlich gebauten, schlecht genährten Körper mit den spitzen Schultern lag eine Männer anziehende Kraft, wie ein Magnet, der sich in den Falten des zerfetzten Kleides und des ungekämmten Haares verbarg.
Mit Kennerblick also näherte Johann sich Rosa und fragte mit süßem Lächeln auf den Lippen: „Fräulein, wollen Sie die Käthe besuchen? Gewiß sind Sie ihre Freundin?“
Dabei steckte er die Hände in die Taschen und blinzelte, sich hin und her wiegend, Rosa an. Anfangs beachtete diese ihn kaum. Gewiß war er ein stattlicher Mann. Sie aber hatte jetzt andere Dinge im Kopfe und wünschte so schnell wie möglich bei Käthe in der Küche zu sein. Daher wandte sie sich hastig von ihm ab und bedeckte die geschwollene Wange mit der Hand.
Johann jedoch gab so leicht nicht das Spiel verloren.
„Fräulein“, rief er lachend, „hat jemand auf Ihr Auge getreten, so weiß ich dagegen ein unfehlbares Mittel in Gestalt eines Vanillen-Likörs. Das ist ein starker Tropfen und trotzdem auch geeignet für Damen“, fügte er galant, aber mit zweideutigem Lächeln hinzu.
Als er aber sah, daß all sein Reden vergeblich war, stieß er Käthe an, sie möge ihn dabei unterstützen: „Lade sie doch ein“, flüsterte er ihr zu, „du Dummkopf, zu einem Gläschen.“
Erstaunt blickte Rosa, als sie dies hörte, die Freundin an. Dieser Rippenstoß und die Bezeichnung „Dummkopf“ bewies schon eine nähere Bekanntschaft zwischen den beiden. Sollte Käthe schon so weit gegangen und seine Liebste sein?
Neugierig sah sie Johann sich näher an, fand aber nicht Zeit zu weiteren Beobachtungen, denn Käthe zog sie schon mit sich fort: „Komm mit in meine Küche und wärme dich!“
Dann eilten sie beide über den Hof und verschwanden auf der dunklen Treppe.
Ein Weilchen noch blickte Johann nach der Stelle, wo Rosa soeben vor ihm gestanden hatte: „Meinetwegen! Mir ist es ganz recht, daß sie meine Einladung nicht annahmen. Beide haben sie ja nicht einmal warme Tücher. Und wenn ich schon eine ausführe, möcht’ ich mir doch nicht die Augen aus dem Kopfe schämen!“…
Nur erschien ihm die Unbekannte recht annehmbar, trotz ihres geschwollenen Auges und ihres zerfetzten Kleides. Den Satan mußte sie im Leibe haben denn ihn überlief es schon wie mit Ameisen, wenn er nur an sie dachte.
Solche Weiber gibt es, wenn auch nicht allzu häufig… Sofort ziehen sie jeden an und das Blut kommt in Wallung. Und sehen sie auch noch so mager und elend aus, wer sich ihnen nähert, dem wird es ganz seltsam zumute!…
So verstanden sich diese beiden einander so verwandten Naturen im Nu, die in unersättlicher Leidenschaft beständig nach Befriedigung der Sinne lechzten…
Und Johann bedurfte überdies immer neuer Abwechslung in der Liebe, und dazu waren ja die Weiber da. Jede war ihm gerade gut genug, nur nicht auf lange!
Mit den Augen blinzelnd, schob er die Mütze schief auf das linke Ohr und trat vor die Haustür, um dort mit Siegermiene jedes vorübergehende Mädchen zu mustern und anzureden…
In der Küche ließ Käthe die Freundin sich an den Herd setzen, damit sie vor allem sich etwas erwärme.
Dann stellte sie anstatt des Kochtopfes mit den Knochen, die das Fleisch zum Weißkohl vorstellen sollten, die Kanne mit dem übrig gebliebenen kalten Tee an das Feuer.
Sah sie doch, wie Rosa vor Frost die Kiefer krampfhaft zusammenpreßte.
Wie neugierig sie auch war, zu erfahren, was die Freundin in diesen Zustand von Elend und Verlassenheit versetzen konnte, wagte sie dennoch nicht danach zu fragen.
Erst nachdem sie, mit dem Rücken an den Herd gelehnt, ein Weilchen tief aufgeatmet, kam Rosa allmählich unter dem Einfluß der behaglichen Küchenwärme wieder zu sich.
Jetzt bedeckte sie nicht mehr das geschwollene Auge und enthüllte, ohne sich irgendwie Zwang anzutun, vor Käthe ihr ganzes physisches Elend, wie sie ihr vor einigen Monaten auch ihre moralische Armut nicht verborgen hatte.
Als Käthe ihr ein Glas heißen Tee mit etwas Milch und eine harte Brotrinde reichte, griff sie danach mit solcher Gier, als habe sie tagelang nichts gegessen.
So heiß trank sie den Tee, daß sie sich fast Zunge und Kehle verbrannte, und das Brot verschluckte sie in ganzen Stücken, ohne erst zu kauen.
Nicht genug konnte Käthe sich über diese ausgehungerte und so weit heruntergekommene Freundin wundern.
Mein Gott! Dachte sie doch, ein unglücklicheres Wesen, als sie selbst, gebe es nicht auf der ganzen Welt. Und jetzt überzeugte sie sich, daß es noch weit größeres Elend gab.
War diese Bettlerin wirklich jene stolze Rosa, die sie das letztemal im seidenen Kleide vor der mit den Resten von allerlei leckeren Speisen bedeckten Lade sah?
Wie damals jenen Überfluß, so konnte sie jetzt sich die Ursache dieses so plötzlichen Elendes nicht erklären.
Längst hatte sie die ihr zugefügte Kränkung vergessen. Dazu genügte schon der Anblick der unglücklichen, ausgehungerten und zerlumpten Freundin.
Voller Mitleid nahm sie ihr Tuch ab, den einzigen Schutz gegen die Kälte, um es auf Rosas spitzige Schultern mit den sanften Worten zu werfen: „Das wird dich wärmen!“
Rosa aber bedurfte dessen jetzt nicht mehr und wünschte nur noch, sich auszusprechen.
Der heiße Tee hatte ihre Kehle aufgetaut und die Worte strömten nur so über ihre Lippen, als sie, um sich Linderung zu verschaffen, ihre Beichte begann: „Weißt du, jener Schuft hat mich fortgejagt!“
„Fortgejagt? Wer denn?“ fragte Käthe voll naiven Erstaunens, da sie nicht begreifen konnte, wer Rosa fortjagen sollte aus der eigenen Wohnung, wofür sie die Miete bezahlt und die ganze Einrichtung beschafft hatte.
„Wer denn sonst“, erwiderte Rosa mit ungeduldigem Achselzucken, „wer sonst, als dieser Landstreicher und Straßenräuber, der Felix? Fort jagte er mich und schlug mich braun und blau. Das Schlagen wäre noch das Wenigste, aber die Wohnung schloß er mir vor der Nase zu und läßt mich nicht mehr herein!“
Käthe fiel beinahe um vor Erstaunen. Also soweit ging die Frechheit dieses Menschen, daß er die Geliebte trotz Schnee und Eis auf die Straße hinausstieß!
Wie war dies zugegangen?
Danach brauchte sie jedoch nicht zu fragen, denn Rosa ließ sich um eine nähere Schilderung ihres ganzen Elends nicht erst lange bitten.
„Das ist ja ein Scheusal, aber kein Mensch!“ rief sie und rieb den Rücken am warmen Herde. „Aus einem Strolche macht’ ich ihn zum Herren und bekleidete ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Und dieser Schuft, nicht genug, daß er tagelang auf der Bärenhaut lag und die Ritzen an der Decke zählte, richtete er mich jetzt dermaßen zu, daß ich mich vor der Welt nicht mehr sehen lassen kann und kaum wieder in Ordnung komme. Aus dem Milchgarten trieb er mich in das Kaffeehaus. Und da die Zeiten immer schlechter wurden, beschwatzte er mich, meine Papiere, weißt du, die von der Hypothekenbank, umzusetzen. Also verkaufte ich sie nach und nach und er tat so, als habe ich selber ein Bankgeschäft und er könne jetzt erst recht den großen Herrn spielen. Da, nimm’s und stopf dir das Maul, dacht’ ich. Und er nahm’s und kaufte sich einen Anzug nach dem andern. Für mich aber reichte es kaum noch zu dem seidenen Kleide, in dem du mich damals sahst. Aus dem Kaffeehause trat ich auch bald aus, denn er wünschte, daß ich mit ihm das Leben genieße. So begannen wir denn bald gründlich zu bummeln.“
Hier brach sie ab und starrte vor sich hin mit den trüben Augen. Offenbar war dies „Bummeln“ ihr eine überaus angenehme Erinnerung und erforderte einiges Nachdenken.
Käthe unterbrach dies Schweigen nicht, nachdem sie mit wahrer Andacht den Worten gelauscht und nur ab und zu verwundert den Kopf geschüttelt. Ihr Urteil über die ganze Angelegenheit behielt sie sich vor für später.
„So lebten wir drauf los“, fuhr Rosa fort. „Wir speisten bei meiner früheren Herrin, damit sie sehe, wen sie in ihrem Dienst vor sich gehabt. Alles mit Butter, denn Felix war solch ein Feinschmecker, daß er Schmalz gar nicht in den Mund nahm. Nach dem Essen trank er seine Tasse Mokka und streckte die Beine von sich und stocherte in den Zähnen. Wenn ich ihn ansah, konnt’ ich mich nicht genug wundern, woher er dieses Protzen nahm. Öfters riefen wir auch eine Droschke herbei und fuhren spazieren. Dann legte er dem Kutscher die Beine fast auf den Kragen und blickte stolz und verächtlich auf die Fußgänger herab. Abends gingen wir zu Biere und saßen dort öfters bis an den hellen Morgen. Ach! Das war ein herrliches Leben!“
„Weshalb aber jagte er dich fort, wenn du ihm doch alles das geschenkt hast?!“ glaubte Käthe einwenden zu müssen.
„Weshalb?“ flüsterte Rosa. „Weil das Geld nicht mehr reichte, er aber immer noch den Herrn spielen und sich die Zähne mit Honig einschmieren wollte. Alle Tage beging er neue Tollheiten und beschwatzte mich solange, bis…“
Wieder brach sie plötzlich ab und sah sich um nach allen Seiten.
„Weißt du auch, ob uns, niemand belauscht?“ fragte sie ängstlich und die Unruhe verzerrte ihr bleiches Gesicht.
Unwillkürlich sah auch Käthe sich um. Was in aller Welt hatte Rosa zu verbergen? Weshalb fürchtete sie sich vor fremden Ohren? Hatte sie etwas Böses begangen? Etwa auf Zureden eines solchen Schuftes wie Felix?!
Trotz ihrer eigenen Angst versicherte sie Rosa, sie seien hier völlig sicher. Der Herr war längst ausgegangen und von der Herrin hatten sie nichts zu befürchten. Diese lag im Bett wie erstarrt und seufzte nur ab und zu wie ein kleines Kind. Sie konnte sie also nicht hören.
Trotzdem immer noch ängstlich, schmiegte sich Käthe dicht an die Freundin, um sie besser zu verstehen.
Ihr könne Rosa sich unbedenklich anvertrauen, sie plaudere nichts aus, und was sie auch höre, bleibe verschwiegen wie beim Priester in der heiligen Beichte.
„Wir hatten kein Geld mehr“, fuhr Rosa fort und krümmte unwillkürlich ihre ganze Gestalt. „Felix aber drängte… Und ich ging zur dicken Milchwirtin und wollte ihr etwas aus der Ladenkasse entwenden… Die Dicke aber überraschte mich und ich lief davon und nur ein Fetzen von meinem Rocke blieb in ihren Händen… Jetzt können sie mich erwischen und einsperren. Das will ich nicht, – so etwas haftet einem zeitlebens an!“
Ganz erstaunt blickte sie, als sie ihre Beichte geendet, Käthe an, die düster schweigend zu Boden starrte.
Ein Verdammungsurteil hatte sie erwartet von der Freundin, die in ihren Augen immer noch den Stempel ehrlicher Dummheit auf der Stirn trug. Weshalb tadelte gerade sie heute nicht mehr diesen versuchten Diebstahl bei ihrer früheren Brotherrin, den sie früher so ernst gerügt? Sollte sie selbst…?…
Käthe aber unterbrach all ihre Vermutungen. Mit ihrem gesunden Menschenverstande durchschaute sie die ganze Sachlage: „Also darfst du jetzt nicht mehr auf die Straße gehen!“
Allerdings, daran dachte Rosa auch nicht im Entferntesten. Nach dem unglücklichen Angriff auf die Kasse der dicken Milchwirtin war sie schnurstracks zu Käthe geflohen, mit dem ihr selbst unerklärlichen Instinkte des Selbsterhaltungstriebes.
Ihr war, als könne dies große, kräftige Mädchen sie vor allen „Polizisten“ der Welt schützen.
Jetzt jedoch begriff sie ihre ganze Lage und in ihren Ohren klang es ihr fortwährend als unabänderliche Drohung: „Du wirst im Zuchthause verfaulen!“
Was sollte sie jetzt tun? Hinausgehen und sich damit der Polizei in die Hände geben? Nimmermehr! Lieber wollte sie sich mit Petroleum begießen und sich selbst verbrennen. So versicherte sie wenigstens unter verzweifeltem Schluchzen.
Käthe jedoch nahm ihre ganze Tatkraft zusammen, um die eigenen Sorgen zu vergessen und einzig und allein an ein sicheres Versteck der Freundin zu denken.
Ja, so wäre es am besten! Rosa mußte sich auf dem Boden hinter dem Verschlage verborgen halten, in dem allerlei Gerümpel, wie alte Dachziegel und dergleichen, aufbewahrt wurden. Johann würde dies sicher erlauben, wenn sie ihn darum bitte. Und, erfüllt von den besten Wünschen, nahm sie den Bodenschlüssel und forderte Rosa auf, ihr in ihren neuen Unterschlupf zu folgen.
Anfangs zögerte Rosa noch, da Käthes herzliches Entgegenkommen die Erinnerung an die ihr an jenem Sonntagnachmittage zugefügte Kränkung weckte.
Heute, da sie in Käthes Hände gefallen, vergaß diese all jene Unbill und rettete sie vor der ihr drohenden schimpflichen Strafe. Wie sollte sie ihr all diese Güte vergelten!
Dies sagte sie ihr mit einer gewissen Besorgnis, Käthe könne bei der Erinnerung an die Schmähungen, mit denen sie von ihr überhäuft worden, schließlich doch noch ihre freundliche Haltung ändern.
Käthe aber richtete nur an der Tür noch sanft an sie die Frage, womit sie jene schlechte Behandlung damals verdient habe.
Dies brachte Rosa wieder ins Gleichgewicht: „Weil du, wie Felix mir sagte, damals, als du nach deiner Lade kamst, dich ihm aufgedrungen und an mir kein gutes Haar gelassen und mich vor ihm so schlecht gemacht hast!“
„Ach“, erwiderte Käthe, anfangs erstaunt, dann achselzuckend, „schwatz’ doch nicht solchen Unsinn! Wie konntest du ihm nur so etwas glauben! Jetzt aber komm auf ’n Boden, sonst kommt der Herr uns noch über den Hals!“
Zwar konnte sie Rosa sagen, daß vielmehr Felix sich ihr aufgedrängt. Mit echt weiblichem Zartgefühl aber schwieg sie über diesen Punkt, um der Freundin nicht noch mehr Verdruß zu bereiten.
Dann gingen sie beide auf den Boden. Dort drang die naßkalte Luft durch die Dachluken und zerbrochenen Fensterscheiben ein.
Nachdem Käthe die Freundin in dem ziemlich dichten und verschließbaren Bretterverschlag untergebracht, versprach sie ihr, das Vorlegeschloß zu holen und sie dort einzuschließen.
„Da wirst du ganz sicher sein. Nur wenn jemand kommt, um hier Wäsche aufzuhängen, rühre dich ja nicht und sei mäuschenstill. Ich bringe dir auch noch ein Kissen. Inzwischen hülle dich nur in mein Tuch!“
Bei diesen Worten warf sie Rosa ihr abgetragenes Tuch um die Schultern, ohne zu bedenken, daß dies ihr einziger Schutz gegen die Kälte sei.
Jetzt sah sie nur die vor Frost zitternde Freundin und bemühte sich, sie zu erwärmen, ohne Rücksicht darauf, daß sie sich selbst einer Erkältung oder anderen schlimmeren Folgen aussetzen könne.
Als Rosa ihr herzlich danken wollte, wurde Käthe plötzlich leichenblaß, taumelte hin und her und mußte sich an den Verschlag lehnen.
Mit leiser Stimme versicherte sie, es werde vorübergehen, sobald sie an die frische Luft komme. Jetzt werde ihr öfters so „schwarz vor den Augen“. Bisher sei es aber immer schnell vorübergegangen.
Mit Kennerblick beobachtete Rosa die halb Ohnmächtige. Dieser Zustand erschien ihr doch verdächtig. Sie selbst zwar hatte ihn niemals durchgemacht, aber bei andern schon öfters wahrgenommen.
Gleichwohl sagte sie nichts, sondern lächelte nur zweideutig, als begreife sie selber nicht, weshalb ihr dieser klare Beweis von Käthes Fall solche Befriedigung bereite.
Als Käthe über den Hof ging, traf sie dort Johann, der, an die Mauer gelehnt, gelangweilt in die Ferne blickte. Auf Käthes Zuruf wandte er sich mürrisch um und hörte nur halb auf ihre Worte. Anfangs versuchte sie, ihn zu besänftigen und trotz ihres beständigen Ohnmachtsgefühles mit sanftem Lächeln zu rühren.
Er aber blieb so unwirsch wie zuvor, und erst als sie ihn schüchtern bat, er möge gestatten, daß Rosa eine Zeitlang sich auf dem Boden aufhalte, klärten seine Züge sich sichtlich auf.
Weshalb sollte er dies nicht erlauben? Meinten sie etwa, er sei von Stein und besitze kein Verständnis für menschliches Elend? Wisse er doch recht gut, was sich Frauen gegenüber gebühre. Nicht nur gern erlauben wolle er alles, sondern sogar einen Strohsack besorgen.
Dankerfüllt streichelte Käthe ihm den Arm. Mein Gott! Hatte sie doch befürchtet, er werde sie anschnauzen und Rosa davonjagen. Diesen Verdacht mußte sie ihm jetzt abbitten.
Mit Freuden beantwortete sie all seine Fragen, die hauptsächlich Rosa betrafen: wer sie sei, woher sie komme und ob sie einen Liebsten habe.
Um die Freundin im besten Lichte zu zeigen, schwieg sie zwar vor deren Fehlern, konnte aber doch nicht vermeiden, von Felix zu sprechen.
Johann lachte laut auf bei der Schilderung ihrer fast hündischen Anhänglichkeit an einen älteren, noch dazu verheirateten Mann.
„O, dieser Racker!“ rief er. „Das dacht’ ich mir gleich, daß sie ein seltener Bissen sei. Sie hat so stechende Augen!“
Und lachend rief er noch der sich entfernenden Käthe nach: „O, dieser Racker!“
In der Küche traf Käthe die Herrin, die sie schon ungeduldig erwartete.
Auf Julias gelblichem Gesichte prägte sich irgend ein verzweifelter Entschluß aus und das Verlangen, unter allen Umständen das beabsichtigte Ziel zu erreichen.
In der Hand hielt sie einen versiegelten Brief mit schräg gekritzelter Aufschrift. Diesen Brief reichte sie Käthe mit dem Auftrage, sofort nach dem Polytechnikum zu gehen, dort den Bildhauer Wodniecki aufzusuchen und ihm den Brief zur Weiterbeförderung an die bekannte Person einzuhändigen.
„Geh’ schnell!“ sagte sie, dem Herde sich nähernd. „Das Mittagessen will ich schon besorgen. Frage dich nur gut durch nach jenem Herrn. Ein junger Mann ist’s, der aus Stein Menschen nachbildet“, fügte sie hinzu und hob mit nervöser Hast den Deckel vom Kochtopfe. „Sie werden dir schon zeigen, wo er arbeitet. Du bist ja ein kluges Mädchen und findest ihn gewiß!“
Käthe eilte hinaus, nachdem sie sich ein wenig zurechtgemacht, den besseren Rock und die Flanelljacke angezogen hatte.
Auch ihr Tuch wollte sie vom Boden holen, kehrte aber an der Tür wieder um. Sie selbst würde schon warm vom Gehen. Rosa aber fröre weit mehr auf dem Boden und daher mochte lieber sie das Tuch behalten.
Auf der Straße blieb Käthe stehen, bis sie sich allmählich zurechtgefunden hatte. Dann eilte sie, vorwärts hastend, um die Winterkälte nicht gar so arg zu spüren.
Vor dem Polytechnikum lag ein kleiner Platz, so blendend weiß und flaumig vom Schnee, wie ein Kaninchenfell. Auch der Bronzeschmuck des schwarzen eisernen Gartenstaketes erschien wie in ein silbernes Spitzengewebe gehüllt.
Unwillkürlich blieb Käthe am Haupteingange stehen. Auch dort blinkte und blitzte alles vor Sauberkeit.
Wie konnte sie nur dort eintreten. Gewiß würde sie gar nicht eingelassen…
Da aber im Hausflur weder ein Pförtner, noch sonst ein Wächter stand, raffte sie ihren durchnäßten Rock auf und betrat schüchtern die schön getäfelten Fliesen des Hausflurs.
Dann wandte sie sich langsam zur Treppe, deren steinerne Stufen so grau und düster, fast farblos, aussahen, wie draußen der Winterhimmel, und stieg hinan.
Nach allen Seiten erstreckten sich geradlinige Gänge, in der Mitte belegt mit schmalen Fußdecken. Auf dem Höhepunkte der Treppe aber bildeten diese Gänge ein wahres Labyrinth.
Hell beleuchtete dort eine Glaskugel den mit schwarzen und weißen Fliesen getäfelten Raum bis in die rings ausstrahlenden Gänge, die, allmählich alles Licht verschlingend, in tiefem Schatten lagen.
Auch alles übrige war so trüb und düster schweigend, als atme es nichts als Spitalluft und Friedhofsruhe.
Ungewiß, wohin sie ihre Schritte lenken solle, blieb Käthe stehen.
Aus den hohen dunkelgestrichenen Türen drang kein Laut, keine menschliche Stimme. Wie die Pforten zu geheimnisvollen Grüften erschienen sie, als ob sie Leichen in sich bargen, gehüllt in Leinwand mit Hieroglyphenschrift.
Keine Türklinke wagte Käthe zu berühren. Denn sie alle blinkten im matten Lichte wie Dolch- oder Speerspitzen der hinter den Türen verborgenen Wächter.
Lange stand Käthe so da, nur leise atmend, als fürchte sie, mit einem Seufzer die feierliche Stille inmitten dieser kalten grauen Mauern zu stören.
Plötzlich schlüpfte aus dem Innern eines Ganges ein Bürschchen heraus in zerfetztem Leinwandanzuge, ein sonderbares, hochaufgeschossenes Wesen mit krummer Haltung.
Rotes Haar bedeckte halb die gewölbte Stirn. Das ganze Gesicht war eine seltsame Mischung der reinsten Linien mit unregelmäßigen, krampfhaft verzerrten Zügen und daher auffallend beim ersten Blick.
Der lange hagere Hals, die riesigen Arme, die eingedrückte Brust und die fast bogenförmig gekrümmten Beine machten deren Träger zu einem grundhäßlichen Menschen, trotz einzelner idealschöner Züge.
Langsam näherte er sich, auf den krummen Beinen sich wiegend.
In der Rechten hielt er einen ganz mit Gips bedeckten Hammer. Auch im übrigen trug er Gips im Überfluß an sich. Ganze Wolken saßen im Haar, sodaß nur hie und da die roten Strähne durchblinkten. Rücken, Ärmel, sogar die Stiefel, alles verschwand unter der weißen Hülle.
Auch im Gesichte hatte er weiße Flecken, sodaß er einem Zirkus-Clown ähnelte.
Mit den Augen blinzelnd, fuchtelte er herum mit dem Hammer und verstreute ringsumher Wolken von Gips.
Als er Käthe bemerkte, blieb er ein Weilchen stehen, als befremde ihn deren Anwesenheit.
Derartige Besuche waren unter der Glaskuppel nicht allzu häufig.
Auch Käthe blieb stehen, als wage sie nicht, sich von der Stelle zu rühren.
Die Schlitzaugen waren ihr nicht gerade vertrauenerweckend. Dabei schwang er immer noch höchst zweideutig den Hammer. Wer weiß, welche Absichten er hatte?
Plötzlich näherte er sich ihr mit Blitzesschnelle und mit seltsam funkelnden Augen.
Seiner Brust aber entrang sich ein markerschütternder, halb tierischer Schrei.
So scharf wie ein Waidmesser durchschnitt diese Menschenstimme die Luft und drang wie im Triumphe bis zur Glaskuppel.
Hundert unausgesprochene Worte zitterten darin und mit dem verzweifelten Wunsche, verstanden zu werden, schien sie an all die verschlossenen Türen zu klopfen in der ringsumher herrschenden Stille.
Niemand aber beachtete sie außer Käthe, die sich erschrocken nach der Treppe zurückzog.
Noch einmal, nur weit stärker und drohender wiederholte sich jener Schrei.
Der ihn ausstieß aber starrte Käthe unverwandt an und zwei blaurote Streifen traten ihm auf die Stirn. Augenscheinlich kostete ihn jeder Schrei große Kraft und Anstrengung.
Jetzt erst merkte Käthe, daß sie es mit einem Taubstummen zu tun habe.
Dies befreite sie von ihrer Angst, sodaß sie sich dem Krüppel näherte und sich bemühte, ihm durch Zeichen zu verstehen zu geben, um was es sich handle.
Dies war jedoch durchaus nicht leicht, da sie keine Ahnung davon hatte, wie man sich am besten mit solchen Leuten verständigt.
Lange standen sie so einander gegenüber mit allerlei Gesten, ohne sich gegenseitig zu verstehen.
Plötzlich ergriff der Taubstumme Käthes Hand und zog sie, immer noch schreiend, in einen der Gänge hinein, auf dem sich, wie auf allen übrigen, rechts und links Türen und in der Mitte Fußdecken befanden.
Hastig öffnete er eine jener Türen und dort erschien die kleine Gestalt des – Bildhauers, welcher Käthe einst im Milchgarten Geld angeboten für die Erlaubnis, sie in Lehm nachzubilden.
Sofort erkannte er sie und ein Lächeln umspielte seine hübschen Lippen.
Hocherfreut zog er sie mit Hilfe des Taubstummen hinein in seine Kunstwerkstatt.
Dort drehte er sich lächelnd die Schnurrbartspitzen und bemühte sich, seinem kleinen kindlichen Gesicht einen diabolischen Ausdruck zu geben.
Endlich habe sie also die unnötige Furcht abgelegt und sich anders besonnen, meinte er. Und daran habe sie sehr wohl getan, denn zwei Groschen seien immer bar Geld…
Dabei schlug er mit der Miene eines Krösus auf die ewig leeren Taschen, um mehr Vertrauen zu erwecken. Auf den Taubstummen machte dies jedoch keinen Eindruck. Offenbar ließ sich dieser Bildhauergehilfe auf solche Flunkereien nicht ein. Denn er bestritt mit lautem Geschrei das Vorhandensein auch nur eines roten Hellers in den Taschen seines Meisters.
Dieser jedoch stand, ohne dies Mißtrauensvotum von Seiten seines Schülers zu beachten, noch immer lächelnd vor Käthe, voller Befriedigung, daß er endlich dies vorzügliche Modell zu seiner längst geplanten Karyatide vor sich sah.
Sie aber benahm ihm schnell seine vorzeitigen Hoffnungen. Die Herrin habe sie geschickt mit einem Briefe an einen gewissen Wodniecki. Vielleicht habe er die Güte, ihr zu sagen, wo sie denselben finde. Sie wünsche schleunigst wieder heimzukehren. Denn hier sei es ja wie auf dem Kirchhofe, wie ausgestorben, so öd und leer, daß man keiner Menschenseele begegne, die man fragen könne.
„Du Schlaukopf!“ rief lachend der Bildhauer. „Sagen soll ich dir, wo Wodniecki zu finden ist? Der bin ich ja selbst! Such doch lieber erst den eigenen Kopf, den du auf dem Hofe gelassen hast!“
Der Taubstumme kreischte immer lauter. Obgleich er das Lachen des Meisters nicht hörte, sah er doch an dessen Mundstellung, daß er irgend eine Freude hatte. Daher schlug er mit aller Kraft den Hammer auf ein Stück Blech und schrie aus Leibeskräften.
„Schweig, du Erdenkloß“, rief endlich der Meister, um dieser tollen Heiterkeit ein Ende zu machen. Dabei nahm er eine Haltung an, wie ein Cäsar, der das Volk beschwichtigen will.
Das Volk, in Gestalt eines einzigen Krüppels, verstummte sofort und nur noch aus einem Winkel vernahm man dumpfes Winseln. Dort verkroch sich der Taubstumme hinter eine Gipsplatte und beobachtete aufmerksam die Gesichtszüge des Meisters.
Inzwischen schickte Käthe sich an, fortzugehen. Nachdem sie den Brief eingehändigt, hatte sie hier nichts mehr zu tun.
Anderer Meinung aber war der Bildhauer. Der Brief sei nicht an ihn gerichtet, sondern an einen anderen Herrn, der bald kommen werde. Daher sei es am besten, wenn sie auf ihn warte und persönlich mit ihm spreche.
Um so mehr sträubte sie sich jetzt und wandte sich zur Tür. Die Erinnerung an den vierschrötigen Studenten erfüllte sie mit Angst.
Noch erinnerte sie sich deutlich, welch unangenehmen Eindruck beim matten Laternenschein seine frechen Blicke und aufgeblasenen Backen auf sie gemacht.
Mit weiblichem Instinkte ahnte sie in ihm die unersättliche, fast viehische Leidenschaft und haßte ihn daher unwillkürlich.
Mit Fieberhast griff sie jetzt, um sich schleunigst zu entfernen, nach der Türklinke, die der Bildhauer aber ihr aus der Hand riß.
„So schnell geht das nicht, du wildes Modell!“ rief er mit herzlichem Lachen. „Erst muß ich doch einen Zettel schreiben, daß du mir den Brief richtig abgegeben hast!“
Jetzt erst entschloß sie sich, zu warten und während Wodniecki nach Schreibzeug suchte, sah sie sich im Atelier näher um.
Noch niemals war sie an solchem Orte gewesen.
Der längliche hohe Saal war ursprünglich zu einem anderen Zwecke bestimmt und nur durch die Bemühungen eines Vorstandsmitgliedes und Gönners des kleinen Bildhauers diesem zum Atelier eingeräumt worden.
Zwar war dies nur die ärmliche Werkstatt eines blutarmen Künstlers und weit entfernt von der märchenhaften Pracht, mit der die Ateliers berühmter Meister ausgestattet zu sein pflegen, aber trotzdem herrschte auch hier der Reichtum des Talentes, die Pracht genialer, mit kühner Hand oft im Nu geschaffener Entwürfe und ein Vorrat von Gedanken, die, noch an den Rohstoff gebannt, sich über diese Armut beklagten.
Auf den weißen Wänden waren mit Kohle Gestalten gezeichnet, die zwar hie und da gegen die anatomische Genauigkeit etwas sündigten, die aber lebensvolle, wenn auch nur dem Kennerblicke verständliche Züge trugen.
Diese Skizzen unterbrachen allerlei Medaillons von Gyps oder Terrakotta in unregelmäßigen Gruppen, je nach der Zeit ihrer Entstehung oder der Laune des Augenblickes.
Auf den Medaillons sah man die Profile verschiedener Leute, unförmliche Köpfe mit trotzigen Stirnen und glatten Schädeln oder klassisch-reine Züge mit lächelndem Blick oder bedeutungsvoll gefurchter Stirn.
Auch Basreliefs gab es dort auf kleinen viereckigen oder länglichen Tafeln mit schlanken nackten Frauengestalten, die zum Tamburin tanzten oder in leicht gekräuselter Flut badeten.
Lange stand Käthe mitten im Atelier und kam gar nicht heraus aus dem Staunen.
Die Riesengestalten zweier Apostel erregten ihr Befremden, die Nacktheit eines Samsons ihr Schamgefühl und beim Anblick einer nur von einem durchsichtigen Fischernetz bedeckten Nixe wurde sie feuerrot.
Trotz ihres Falles bewahrte sie sich die Schamhaftigkeit eines Kindes. Und diese verletzte das nackte Weib im Fischernetze über alle Maßen.
Weshalb entblößte es sich so? War es so arm, daß es nicht einmal ein Hemd besaß? Ein solches hat aber doch jeder, selbst der ärmste Bettler auf der Welt.
Inzwischen bemühte sich der Künstler, Käthe zu ermutigen und bot ihr jetzt sogar drei Groschen für die Stunde Modellstehen.
Dies schlug sie ihm aber rund ab. Wie sollte sie dazu Zeit finden? Und dann war sie auch dazu nicht da…
Um sie vielleicht dadurch zu ermuntern, zeigte Wodniecki nach der Nixe mit den Worten: „Sieh! Das ist Terrakotta. Dazu stand mir eine Modell, die mehr Verstand hatte als du. Nur einige Male stand sie vor mir, und was schadete es ihr? Das Geld nahm sie und küßte mir noch die Hand. Dir will ich weit mehr geben. Also mach keine Umstände, sonst schlag ich dich braun und blau und anstatt Geld, steckst du Gips in die Tasche!“
Käthe stieg das Blut zu Kopfe. Ohne Abschied lief sie hinaus und ließ sogar die Tür offen stehen. Erst auf dem Gange hörte sie, wie der Taubstumme mit lautem Kreischen sie zuschlug.
Ängstlich entfloh sie diesen kalten, weißen Mauern, wo sie sich ebenso nackt vorkam, wie jenes Gipsweib im Fischernetz, das nach dem Modell eines Mädchens, einer Magd wie sie selbst, geformt worden war.
Die Treppe hinabeilend, stellte sie sich jene andere vor, wie sie unbekleidet bei hellem Tageslichte mitten in jenem Saale stand.
Wie konnte sie sich so schamlos vor Männern um schnödes Geld dort hinstellen! Nimmermehr würde sie selbst dies tun, und müßte sie Hungers sterben! Dies wäre eine schwere Sünde, und sie hörte sogar einmal, daß solche nackte Menschen der Teufel holt!
Jene Magd mußte geradezu eine Verworfene sein! Keine andere ließe sich ein auf solch eine Art von Verdienst!
Und in ihren sonderbaren Begriffen von Moral, die so weit in den niederen Volksschichten verbreitet sind, fühlte Käthe kaum noch den eigenen tiefen Fall, warf aber das Verdammungsurteil auf das Haupt derjenigen[WS 8], die sich nachbilden ließ aus Lehm, ohne jede Hülle, so wie sie Gott geschaffen.
Mit unbeschreiblichem Ekel und Widerwillen entfloh sie diesen Mauern, zu denen zurückzukehren das Schicksal sie doch vielleicht noch zwingen wird…
Als sie die breiten Steintreppen hinabeilte, war es ihr, als komme sie aus einem Leichenhause, in dem sie den eigenen totenstarren, nackten Körper liegen sah neben dem jener anderen im Fischernetze, so abschreckend, wie der einer Verdammten.
Überall hin folgte ihr jenes weiße Gipsweib und streckte die nackten Arme nach ihr aus, als verhöhne es ihre Entrüstung, und als brüste es sich schamlos mit seinem Körper, wie mit einer billigen Ware oder einem neuen Kleide.
Vergebens rieb Käthe sich die Augen, um jenes Gespenst zu verscheuchen.
Unwillkürlich stellte sie eine Magd sich vor, ebenso gekleidet, wie sie selbst, in zerrissener Jacke und vom Schnee durchnäßten Rock, bis sie diese plötzlich fallen ließ und so mit ausgestreckten Armen vor dem fremden Manne dastand, der sie auslachte und verhöhnte.
Dann war es Käthe zu Mute, als werde sie mit Ruten gepeitscht. Denn sie wußte selbst nicht mehr, ob sie oder jene andere sich so versündigte.
Und wie ein verwundetes Wild eilte sie dem Ausgange zu.
Ihr schien es, als rissen sogar die Wände ihr die Kleider vom Leibe und zwängen sie mit Gewalt, die Arme so auszustrecken, wie jene andere…
Johann hatte Wort gehalten und Rosa nicht nur ungeschoren gelassen, sondern ihr auch den Bodenverschlag eingeräumt und sogar einen alten, aber neugestopften Strohsack zur Verfügung gestellt.
Diesen Strohsack trug er selbst hinauf, weil, wie er meinte, Käthe doch nur auf der Treppe das Stroh zerstreue und so die Aufmerksamkeit auf sich lenke.
„Jetzt, Fräulein, können Sie sich ruhig ausschlafen“, sagte er zu Rosa, die zitternd vor Frost sich an die Wand lehnte, durch die der übrigens auf dem ganzen Boden einheimische kalte Wind wehte.
Als Rosa ihm ihren Dank aussprach, entwickelte sie dabei die ganze Unverschämtheit der früheren Kellnerin, sodaß Johann, der doch mit verschiedenen Weibern zu tun hatte, sich über die „geriebene Schnauze“ seiner neuen Bekannten nicht genug wundern konnte.
Dennoch entfernte er sich nicht gleich, da er fühlte, daß dies zerlumpte Frauenzimmer gewiß schon recht viel durchgemacht habe.
Und nach der schüchternen Käthe, die ihm schon lästig wurde, war es ihm nicht unangenehm, jene Gassenluft zu atmen, die Rosa in ihren Reden und in den Falten ihres beschmutzten Rockes trug.
„So, Fräulein“, sagte er, lachend in den Verschlag eintretend, „Sie müssen viel durchgemacht haben, daß Sie vor Angst so ins Mauseloch kriechen!“
Unwillkürlich drehte sie den Kopf nach der Wand, so schämte sie sich des geschwollenen Auges und der blauen Flecken im Gesicht.
Wußte sie doch, dies sei gerade keine Zierde und mache keinen guten Eindruck.
Johann aber zeigte sich über solche Kleinigkeiten erhaben: „Fräulein, drehen Sie das Lärvchen nur nicht so weg. Ich sah schon den Hufschlag unter dem Auge. Das ist ja weiter keine Schande. Ein Weib zu schlagen, ist Mannesrecht. Ich selbst schlage öfters aus Liebe und wenn mir die Galle überläuft, noch besser. Das ist schon so meine Art, nicht erst lange zu fragen, sondern gleich zuschlagen!“
Neugierig sah ihn Rosa an. Immer mehr gefiel ihr dieser stramme, vierschrötige Mann. Nach dem abgelebten Felix erschien er ihr wie die verkörperte männliche Schönheit.
Da sie gern Näheres von seiner Liebschaft mit Käthe zu erfahren wünschte, die sie, in solchen Dingen wohlerfahren, längst erriet, lenkte sie gewandt das Gespräch nach dieser Richtung, indem sie im Dunklen kichernd fragte: „Also auch Käthe schlugen Sie schon öfters?“
„Allerdings“, erwiderte er mit prahlerischem Ton. „Nicht mucksen darf sie, sonst gibt es Keile!“
Dabei schob er die Mütze auf die Augen und bemühte sich, recht überzeugend zu sprechen.
Dies gelang ihm aber nicht, weil er fühlte, daß er im Grunde damit doch gelogen habe. Nur einmal hatte er Käthe geschlagen: an jenem denkwürdigen Abende, als sie weinend und zermartert an der Haustür niedersank, just zu seinen Füßen.
Seitdem rührte er sie niemals wieder an. Denn sie war viel zu gut und sanft, als daß er zu solchen überzeugenden, d. h. schlagenden Gründen seine Zuflucht hätte nehmen brauchen.
Immerhin hielt er es für gut, sich der eigenen Rohheit zu rühmen vor einer, deren Gesicht nicht geringe Spuren trug von einer nervigen Männerfaust, und daher wiederholte er hartnäckig: „Nicht mucksen darf sie, die Bestie!“
Laut auf lachte Rosa, hocherfreut, daß auch Käthe vom Liebsten so behandelt wurde. Also hatte Felix nicht allein die üble Angewohnheit, sie zu prügeln und noch obendrein schlecht zu machen vor anderen. Darin sind die Männer sich alle gleich!
„O, warum behandeln Sie Käthe so hart!“ wandte sie ein, um das Gespräch fortzusetzen. „Käthe ist ein Kernmädel, und Sie müssen Vertrauen zu ihr haben, denn Sie werden doch ein Paar – “
„Wie? Ein Paar?“ unterbrach er sie heftig. „Hat sie etwa sowas gesagt?“
„Freilich, soeben noch“, log Rosa, um noch Näheres zu erfahren.
Und Johanns Aufregung kam ihr dabei zu Hilfe.
„O, diese Jesuitin!“ rief er wütend. „Ich weiß, daß sie nach dem Altare riecht. Mit mir aber soll sie dabei keinen Staat machen. Mag sie sich einen anderen Freier suchen. Ich bin dazu nicht geschaffen.“
„Versprachen Sie ihr denn aber nicht die Ehe?“ fragte Rosa weiter. „Denn ohne dem läßt sich doch ein ordentliches Mädchen auf so etwas nicht ein.“
„Ei was! Narrenspossen! Ein Narr denkt an heiraten!“
Im Grunde der Seele aber dachte er anders. Allerdings hatte er ihr die Ehe versprochen, komme was da wolle, und Käthe war noch unbescholten, ehe es so weit kam. Vielleich tat er sogar unrecht, sich zu einem Versprechen hinreißen zu lassen, welches er nicht zu halten dachte. Weshalb aber glaubte sie ihm?
Wußte sie etwa nicht, daß ein Mann in solchem Augenblicke das Blaue vom Himmel herunterschwört und doch nicht ans Heiraten denkt?!
Trotzdem beschlich ihn eine seltsame Unzufriedenheit mit sich selbst, die er aber mit der verkehrten Logik eines Mannes, der seinen Fehler selbst einsieht, auf Käthe ablenkte.
„Da haben Sie ganz recht, Herr Johann“, erwiderte Rosa. „Sein Leben lang so sich zu binden, das ist keinen Pfifferling wert. Nur die dummen Mädchen wollen damit Staat machen. Ich lobe mir ein freies Verhältnis, da kann man jederzeit sich trennen, ohne Geschrei und Weiterungen.“
Diese Begründung leuchtete ihm vollkommen ein und galant bestätigte er sie mit den Worten: „Auch ich lobe mir solche Mädchen, die ihren Verstand haben und nicht so nach dem Pfaffen ausschauen, der sich mit der Trauung nur die Taschen füllt. Das ist die beste Trauung, wenn eine nicht so spröde ist, und durch das Feuer ging ich mit solcher, wenn ich auch nur in einem ‚freien Verhältnisse’ mit ihr lebte!“
Und ohne selbst zu wissen, weshalb, log er wieder ein Versprechen, wie es den Ansichten derjenigen entsprach, die vor ihm saß.
Offenbar zwang diesen Gasseneroberer von Weiberherzen seine Natur zum beständigen Lügen und zum Betrügen der ersten Besten, die ihm in den Weg trat. Mit großer Gewandtheit wußte er seine Worte zu wählen, um, ohne etwas zu versprechen, einfach seine Bereitwilligkeit zur Erfüllung der ihm betreffs der Eroberung gestellten Bedingungen zu erkennen zu geben. Umso leichter wußte er sich mit dieser braun und blau geschlagenen Landstreicherin abzufinden, die recht gut wußte, daß ein Mann, wie er, sich nicht sein Leben lang mit einem Weibe begnügen könne.
Dabei liebte gewiß auch sie die Veränderung. Wenigstens sah sie ganz danach aus. Zwar erschien sie ihm bleich und elend, fast häßlich. Er aber war von jeher ein Liebhaber von Gegensätzen, und nach der kerngesunden Käthe kam ihm die halbverblühte Rosa ganz erwünscht. Das war sein gewohntes System bei der Auswahl seiner Geliebten.
Und seltsam aufgeregt, näherte er sich Rosa, die mit einem Lächeln auf den zusammengepreßten Lippen ihn durchaus nicht von sich wies.
Vielmehr blickte sie ihn freundlich an, da auch sie die Gegensätze liebte und den Eindruck des unscheinbaren Felix durch die Annäherung des strammen Portiers zu verwischen wünschte. So fühlten diese beiden Naturen ihre Verwandtschaft bald heraus und näherten sich einander um so leichter auf dem engen Bodenraume.
Durch die Ritzen in der Bretterwand des Verschlages warfen ab und zu matte Lichtstrahlen auf den Strohsack und die dort umherliegenden Gegenstände hellere Linien, die sich von der ringsumher herrschenden Dämmerung deutlich abhoben und nur Johanns Gesicht erhellten, während Rosas ganze Gestalt im Schatten blieb.
Obgleich sie ihn jetzt unverwandt ansah, fühlte er nur ihre Nähe und in seiner sinnlichen Erregung auch die Eindrücke, die ihm bei ihr als Vermittler dienen könnten.
Der Gedanke an Käthe hielt ihn nicht davon zurück. Um seine frühere Geliebte sich zu kümmern, war er nicht gewohnt, sondern liebte es vielmehr, in allem seine Unabhängigkeit und seinen Eigenwillen zu zeigen.
Dabei versetzte ihn der Gedanke, daß Käthe ihn zum Heiraten bewegen wolle, in förmliche Wut. War er doch ein freier Mann und konnte tun, was ihm beliebte.
Lieber hält er sich an Rosa. Das wird am besten sein. Dadurch überzeugt er auch Käthe und alle anderen, daß er an Heiraten nicht denke. Rosas leichte Zugänglichkeit bestärkte ihn noch in dieser Absicht.
Jetzt saßen sie beide in voller Übereinstimmung ihrer Ansichten über das Leben und dessen Bedingungen schon dicht beieinander.
Nur zu bald vergaßen sie, wie viel sie beide derjenigen schuldeten, der sie so große Unbill zufügen wollten.
Während er ihr Ehre, Gesundheit, Frieden und wahrscheinlich auch den Lebensunterhalt raubte und dafür von ihr Stunden ungeheuchelter, wenn auch nur sinnlicher Wonnen entgegennahm, wurde sie von ihr vor Gefängnis, Hunger und noch tieferem Falle geschützt.
Und zum Lohne dafür erwuchs Käthe hier in der Stille des Bodenverschlages nur schnöder Verrat und bittere Herzenstäuschung.
Rosa war ganz nach Johanns Geschmack, weder wählerisch in Scherzen, noch spröde und ablehnend gegen kühne Anspielungen, die von seinen Lippen fielen.
Und, sonderbar, mit Käthe war er doch schon so lange bekannt; immer aber fühlte er sich ihr gegenüber so lächerlich eingeschüchtert, während Rosa ihn sogar ermutigte…
Als er scherzend sich an sie schmiegte und den Arm um sie schlang, entwand sie sich ihm nicht, sondern zuckte nur leicht die Achseln…
Augenscheinlich also kannte sie das Leben und wußte, was dazu gehört…
Inzwischen tummelte sich – unter ihnen – Käthe beim Kochen in ihrer Küche und öffnete nur ab und zu die Tür, um frische Luft hereinzulassen.
Fast erstickte sie im Dunste der Kochtöpfe und ihre Mattigkeit nahm immer zu. Immer empfindlicher wurde sie gegen alle Gerüche und die der Speisen bereiteten ihr eine wahre Pein. Was mit ihr geschehen, konnte sie gar nicht begreifen.
Oft stand sie da, wie von Sinnen und griff sich bald nach dem Herzen, welches bei jeder Erregung gewaltig klopfte, bald nach den Zähnen, die ihr wie verlängert erschienen und aus den schmerzenden Kiefern hervortraten.
Trotzdem arbeitete sie mit verdoppeltem Eifer und suchte in körperlicher Anstrengung Linderung in all den kleinen Leiden, die sie beständig quälten.
So verrannen schnell die Tage, ohne eine Veränderung zu bringen, außer Käthes häufige Ausflüge nach dem Boden und Johanns ebenso fleißige Besuche bei Rosa.
Als Käthe den Geliebten öfters dort antraf, wie er in dem Verschlag auf Rosas Strohsack saß und gemütlich mit ihr plauderte, freute sie sich aufrichtig über diesen Beweis seines guten Herzens und dankte ihm sogar dafür.
Er aber schrie sie so heftig an, daß sie darob ganz verdutzt war. Wie konnte er sich darüber nur so aufregen, daß sie sich um die Unterhaltung ihrer Freundin kümmerte!
Als sie ihm dies vorwerfen wollte, lief er ärgerlich fort vom Boden und murmelte nur vor sich hin: „Verdammtes Frauenzimmer!“
Tiefbekümmert wandte sie sich zu Rosa. Eben hatte sie ihr Fleischbrühe gebracht, welche die frühere Kellnerin gierig genoß.
Etwas hatte sie sich schon wieder gekräftigt bei der warmen Kost, die Käthe ihr brachte und dem kalten Aufschnitt und dem Schnaps, den Johann ihr heimlich zusteckte. Daher sah sie auch gar nicht übel aus und Käthe wusch und plättete ihr öfters das Rosakleid, in dem sie gekommen war.
Allmählich wurde es auch wärmer auf dem Boden und der Aufenthalt dort war nicht mehr so unangenehm.
Rosa schien sogar ihr Versteck förmlich liebgewonnen zu haben. Denn sie erwähnte niemals ihre Zukunftspläne.
Käthe hatte jedoch das Gefühl, so könne es nicht länger bleiben und der Boden nur ein vorübergehender Zufluchtsort für ein junges, gesundes Mädchen sein. Gleichwohl sagte sie der Freudin nichts davon, aus Besorgnis, sie zu verletzen und wieder jenen Strom von Schmähungen von Rosas Lippen herbeizuführen.
Nach wie vor brachte sie ihr also das Essen, welches sie sich nicht ohne große Überwindung vom Munde absparen mußte. Denn mit ihr war abermals eine große Veränderung vorgegangen. Die seit dem Herbste sie quälende Hinfälligkeit hatte fast ganz aufgehört und dafür sich ein förmlicher Heißhunger eingestellt, der fast schmerzhaft war, wenn sie ihn nicht befriedigen konnte.
Immer bleicher wurde sie vor Hunger und wankte in ihrer Küche herum wie ein Haustier, dem man nicht ausreichendes Futter reicht. Alle Knochen nagte sie ab, kaute harte Brotrinden und Kartoffelschalen und kaufte für ihre „Marktgroschen“ sich Semmeln und Rauchfleisch, Heringe und Gurken, aber alles vergebens, als berge sie in sich ein Tier, welches alles verschlang und immer noch mehr verlangte.
Trotzdem verfiel ihr Gesicht und die Haut am Halse dehnte sich so aus, daß fast alle Adern darunter zu sehen waren.
Als Johann diese Veränderung bemerkte, sagte er mit dem manchen Männern eigentümlichen Mangel an Zartgefühl ihr das geradezu ins Gesicht.
Zu dem körperlichen Leiden aber gesellte sich bei der Ärmsten auch noch das seelische. Wie beim Kochen, Waschen und Wassertragen, so litt sie angesichts der Gleichgültigkeit Johanns, die von Tag zu Tag zunahm. Jetzt suchte er sie nicht mehr im Keller und in allen Treppenwinkeln… Manchmal grüßte er sie nicht einmal, wenn er ihr begegnete und wandte absichtlich den Kopf ab.
Mit weiblichem Instinkte fühlte sie diese Veränderung und bemühte sich, ihm mehr als bisher zu gefallen.
Früher überließ sie sich sogar nur ungern seinen Liebkosungen und war niemals leidenschaftlich, sondern wandte, wenn er sie in seine Arme schloß, fast mit Widerwillen das Gesicht ab vor seinem heißen Atem. Heute wäre sie gern mit allem einverstanden, nicht etwa um ihretwillen, sondern nur um jenes frühere Einvernehmen mit dem Geliebten wiederherzustellen, wie es gegenseitig ausgetauschte Wonnen schaffen.
Ohne viel darüber nachzugrübeln, fühlte sie nur, daß es „aus sei“ zwischen ihnen und wollte das zerrissene Band wieder anknüpfen.
Leider wußte sie nicht, wie dies anfangen. All ihre besten Wünsche scheiterten an Johanns eisiger Gleichgültigkeit und sein letztes Urteil über ihr Aussehen schmetterte sie vollends nieder.
In ihrer Ohnmacht quälte sie das Gefühl, daß sie den Geliebten verloren und kein Mittel mehr habe, ihn wieder zu gewinnen.
Endlich beschloß sie, sich Rosa anzuvertrauen. Diese aber, anstatt ihr guten Rat zu geben, lachte sie nur aus: „Unter solchen Umständen gibt es keinen Rat. Laß ihn ruhig laufen und spar deine Galle. Das ist einmal der Lauf der Welt. Erst laufen sie sich die Hacken ab um ein Mädchen und dann lassen sie es sitzen. So sind die Männer. Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen.“
Käthe aber wollte nichts wissen von jenem Lauf der Welt. Sie so zu verlassen ohne jeden Grund, das war doch zu grausam!… Hatte sie doch gar nichts verschuldet. Nur ihr Gesicht war etwas eingefallen; dafür konnte sie aber doch nichts!…
„Ja, ja!“ erwiderte Rosa achselzuckend. „Weiß der Kuckuck, was den Männern einfällt! Heut nennen sie dich die ‚Königin der Frauen’ und morgen einen ,Mehlsack’. Und dabei haben sie vielleicht schon wieder eine andere im Kopfe!“ fügte sie kichernd hinzu.
„Wie? Eine andere?“ rief Käthe voller Entrüstung und bei ihr ungewöhnlicher Wut. „Dieser Bestie wollte ich es anstreichen!“
Mehr konnte sie vor Aufregung nicht sprechen, nur mit geballter Faust drohte sie dieser „anderen“ ganz wider ihr sonstiges sanftes, stilles Wesen.
Rosa erhob den Kopf und blickte verwundert nach Käthes Riesengestalt, die in dem engen Verschlage noch riesiger erschien.
„Und was würdest du ihr antun?“ fragte sie die Freundin, die sie bisher für die verkörperte Fügsamkeit hielt und der sie solche Tatkraft gar nicht zutraute.
„Ich?“ schrie Käthe, die Fäuste erhebend. „Die Augen würd’ ich ihr auskratzen, die Zähne ausschlagen, den Schädel zerspalten – töten würd’ ich sie!“
Die letzten Worte sprach sie leiser und sank dann laut schluchzend auf den Rand des Strohsackes.
Jetzt verließ sie schon wieder all ihre Tatkraft, die nur künstlich durch die unaufhörliche Qual angefacht war.
Immer noch schluchzend beichtete sie Rosa haarklein den ganzen Verlauf ihrer Bekanntschaft mit Johann.
Neugierig hörte[WS 9] jene ihr zu und unterbrach sie plötzlich mit der ungläubigen Frage: „Hattest du vor ihm noch keinen Schatz?“
„Weißt du nicht“, rief Käthe entrüstet, „daß ich bis dahin ein unbescholtenes Mädchen war? Nur durch ihn ist alles so gekommen!“
Tief betroffen fühlte Rosa sich durch diese Worte. War sie doch selbst niemals unbescholten!
So lange sie denken konnte, trieb sie sich schon herum in allen möglichen Schlupfwinkeln mit allerlei Gesindel.
Käthe aber brauchte nicht so zu prahlen mit ihrer Unbescholtenheit und die Nase deshalb so hoch zu tragen. O, Rosa wußte recht gut, womit sie jene demütigen und in den Staub treten könne.
„Johann sagte mir“, hob sie langsam an, ohne Käthe anzusehen, „daß er dir gegenüber gar keine Verpflichtungen habe, weil er bei dir nicht der erste war; er wisse recht gut, daß die Leute von dir sagen…“
Käthe aber ließ sie nicht aussprechen, sondern packte sie am Arm und schüttelte sie heftig.
Wie? So etwas wagte Johann von ihr zu sagen? Gerade er? Nicht genug, daß er ihr solche Schmach angetan, schändete er sie obendrein vor den Leuten?
Vergebens suchte Rosa sie zu beschwichtigen: „Was ist dabei? Die Männer sind alle nichts wert, das weiß doch jedes Weib!“
Davon wollte Käthe durchaus nichts wissen. Obgleich sie schon als Kind all das Elend gesehen, welches solch armes Geschöpf wie sie durchzumachen hat, lehnte sie sich dennoch voller Verzweiflung gegen das sie bedrohende Unglück auf.
Die Beschimpfung, die Johann ihr zugefügt, zerriß ihr das Herz und erschütterte ihr ganzes Wesen.
Sie sollte nicht unbescholten gewesen sein und vor ihm schon einen Schatz gehabt haben! Nein, das war zu viel, zu viel!
Rächen aber würde sie sich, sobald sie die Nichtswürdige findet, die Johann so in die Augen lief und ihr den Geliebten abspenstig machte!
Jawohl! Denn Johann versprach ihr die Ehe und wird gewiß Wort halten trotzalledem!
Und voller Verzweiflung sprach sie immer so weiter, nur unterbrochen vom Schluchzen, welches sich ihrer Brust entrang.
Dabei achtete sie gar nicht auf Rosa, die nur höhnisch die Achseln zuckte, sondern ergoß all ihr Herzeleid, welches sie seit der Stunde ihres Falles in sich trug, in laute Klagen.
Jetzt richtete Käthe all ihre Gedanken nur auf die Auffindung der neuen Geliebten Johanns; sie wollte gehörig mit ihr abrechnen.
War sie doch fest überzeugt, daß Johann, wenn sie jene aus dem Wege räume, sein Versprechen halten und nur sie zum Altar führen werde und daß nur die Nichtswürdige und nichts anderes ihn davon abhalte.
„Bald schlägt ihre Stunde!“ schrie sie in ihrer Aufregung, als sie die zum Boden führende schmale Leiter hinabkletterte.
Und wieder erwachte in ihr eine ungewöhnliche Tatkraft zugleich mit dem Verdachte des Verrates ihres Geliebten.
Um jeden Preis wollte sie Johann wieder für sich gewinnen, den sie für ihr ausschließliches Eigentum hielt. Daher spürte sie mit größtem Eifer allen seinen Schritten nach.
Da sie genau wußte, wann er ausging, folgte sie ihm ungesehn, um zu erfahren, wohin er gehe. Alles aber war vergebens.
Vormittags ging Johann regelmäßig in die Schenke und saß dort eine ganze Stunde und ebenso jeden Abend.
In der Schenke gab es nicht einmal eine Kellnerin. Nur die Wirtin selbst stand am Schenktisch und da sie weder jung noch hübsch war, konnte sie nicht annehmen, daß Johann sich mit ihr einließ.
Abgesehen von jenen beiden Stunden blieb Johann immer zu Hause, um die Straße und den Hof zu fegen oder das Dach auf dem Boden auszubessern, wo immer Wäsche aufgehängt wurde.
Anfangs befürchtete Käthe immer, die Dachdecker könnten Rosa in ihrem Versteck entdecken. Johann aber übernahm seitdem bereitwillig allein die übrigens nur unbedeutenden Ausbesserungen.
Käthe war ihm für diese treue Fürsorge für die Sicherheit der Freundin herzlich dankbar.
Und seitdem machte sich Johann um so häufiger auf dem Boden zu schaffen, gewiß nur mit dem – Ausbessern des Daches…
Käthe aber zerbrach sich immer mehr den Kopf, da sie nirgends ihre Nebenbuhlerin zu entdecken vermochte, von deren Vorhandensein sie doch so fest überzeugt war. –
Frauen besitzen in solcher Lage einen merkwürdigen Instinkt, der sie warnt, wie eine innere Stimme und der sie niemals täuscht.
Da sie außerhalb nichts entdecken konnte, wandte Käthe ihre Aufmerksamkeit auf das Innere des Hauses. Nichts aber vermochte sie auf die richtige Spur zu führen.
Die Dienerschaft der Frau Gräfin kümmerte sich nicht um Johann. Die Köchin war immer mit dem Gebetbuch und der Kirche beschäftigt. Und die Zofe zog die Aufmerksamkeit des jungen Grafen auf sich und erfreute sich der Gunst des bleichen Jünglings.
Die anderen Mägde und Weiber im Hause waren entweder schon zu alt oder hatten Liebhaber, denen sie ungeteilt ihre Herzen schenkten und ganze Schüsseln vom Mittagessen zusteckten.
Übrig blieb also nur noch Mary, die seit einiger Zeit sich völlig verändert hatte, fortwährend hustete und immer blasser und elender aussah.
Vor Mattigkeit schleppte sie sich kaum noch über den Hof, ohne jede Spur von Ausgelassenheit, die früher in ihrer ganzen Gestalt sich äußerte.
Der kurze, trockene Husten, der sich ihrer Brust entrang, schallte dumpf wie Grabgeläute auf der engen Hintertreppe, auf der sie, am Geländer sich festhaltend, langsam dahinschlich.
Offenbar hatten die Nachtschwärmereien und der fieberhafte Lebensgenuß diesen jungen Körper zerrüttet und den Keim einer tödlichen Krankheit in diese Brust gelegt.
Ab und zu raffte sie sich noch wieder auf und ging vor das Tor, um mit flotten Ulanen Brüderschaft zu trinken, aber nur zu bald entsank das Glas der zitternden Hand und die großen, dunklen Augen verhüllte ein Nebel, hinter dem das grause Gespenst des Todes lauerte.
Um Johann kümmerte sie sich längst nicht mehr und ging düster schweigend an ihr vorüber.
Allmählich ging sie auch nicht mehr aus, um die Gesellschaft von Männern aufzusuchen, die sie früher jeder anderen vorzog. Ein dumpfer Groll schien ihre Brust zu erfüllen gegen alle Männer, denen sie nach und nach in die Arme gesunken war, ohne Sorge um das Morgen und darum, was später aus ihr werden solle.
Mit ihnen hatte sie die Schätze ihrer Jugend und Gesundheit vergeudet, indem sie mit ihren Küssen und Liebkosungen nicht kargte. Ohne Bedenken hatten sie ihre Jugendkraft erschöpft und sie dafür noch ausgelacht oder ihr einen silbernen Ring und dergleichen Tand für alle ihre Zärtlichkeit gereicht.
Heute, da sie allein dastand in ihrem Jammer, bereute sie bitterlich ihre Kraftvergeudung und ein tödlicher Haß erwachte in ihr beim Anblicke ihrer früheren Liebhaber. Sie alle waren und blieben frisch und gesund und fähig zu immer neuen Lebensgenüssen, während sie selbst den welken Körper nur mühsam fortschleppte und beständiger Husten sie in schlaflosen Nächten quälte.
Jetzt sah sie Käthe schon mit anderen Augen an. Fest überzeugt von deren bisheriger Unbescholtenheit, ahnte sie, welche Wendung ihr Verhältnis mit Johann genommen und wußte im voraus, daß dieser sie früher oder später sitzen lassen werde, während sie von Käthe nicht annehmen durfte, daß diese den Geliebten jemals aufgeben könnte.
Nach ihrer langjährigen Praxis kam sie zu folgendem Schlusse: Wenn ein Weib den Liebhaber nicht rechtzeitig aufgibt, wird es nur zu bald im Stiche gelassen. Da Käthe dies versäumte, wurde sie sicher verraten.
In ihrer Verachtung der Männer sah Mary dies alles voraus und blickte nach Käthe mit einem gewissen Mitleiden. Trotz allen Grolles, den sie früher gegen den „Mehlsack“ hegte, bemerkte sie die Veränderung in Käthes Aussehen und erriet deren Veranlassung.
Dazu kam noch, daß sie zufällig Rosa in Johanns Armen überrascht hatte und mit seltsamer Veränderlichkeit empfand sie aufrichtige Teilnahme an der Verratenen.
Wiederholt schon wollte sie sie warnen und ihr andeuten, wo Johanns neue Liebste zu finden sei. Das jedem Weibe angeborene Zartgefühl aber ließ sie nicht zu Worte kommen.
Ein Vorfall jedoch regte sie dermaßen auf, daß sie sich entschloß, die Katastrophe herbeizuführen.
Seit einiger Zeit wurde Johann gegen sie immer aufbrausender. Als sie einst nur mühsam einen Eimer mit Wasser die Treppe hinauftrug, vergoß sie dabei soviel, daß die Stufen teilweise überschwemmt wurden.
Wütend fiel Johann über sie her und überhäufte die frühere Liebste mit Gott weiß was für Schmähworten.
Sie aber preßte die Lippen zusammen und schlich, am Geländer sich festhaltend, langsam die Treppe hinauf.
Bitterer Groll aber erfüllte ihr Gemüt. Was hatte sie davon, daß sie sich mit den Männern einließ! Ihre Gesundheit hatte sie zugesetzt und hörte dafür nicht einmal mehr ein gutes Wort. O, käme sie nur wieder zu Kräften, dann wüßte sie schon, was sie zu tun hätte!
Inzwischen häufte sich ihr dumpfer Haß gegen alle Männer hauptsächlich auf Johann. Ihre anderen Liebhaber sah sie fast gar nicht mehr, da sie nur selten ausging. Er aber bewegte sich stets in ihrer Nähe und verkörperte in ihren Augen einen Teil ihres gegenwärtigen Unglücks.
Sein roher Überfall und die Schmähungen, mit denen er ihr vorwarf, wozu er selbst sie verleitet, erschienen ihr als die größte Ungerechtigkeit. Daher wandte sie ihre volle Teilnahme Käthe zu, die so bleich und leidend aussah.
Seit sie selbst erkrankt war, fühlte sie um so tiefer fremdes Leid. Wie sie selbst durch die Männer an Kräften verfiel, so wurde auch Käthe durch dieselbe Ursache, geschwächt, und obendrein noch verraten. Nein! Dies konnte sie nicht gleichgültig mit ansehen!
Eines Morgens trafen sich am Brunnen die beiden Mädchen, die noch vor Jahresfrist von Gesundheit und Jugendkraft strotzten.
Rings lächelte der Frühling mit frischem Grün und goldenem Sonnenglanz. Hinter dem Zaune, der den Hofraum von dem etwas abschüssigen Platze trennte, sproßte der junge Rasen, nur leicht mit Straßenstaub bedeckt. In der Ferne exerzierten die Soldaten in schnurgraden Linien oder seltsamen Zickzackwendungen.
Mary sah zuerst die früher ihr so Verhaßte. Im hellen Sonnenschein erschien deren Gesicht noch fahler und eingefallener.
Seit dem Auftritt auf dem Boden hatten die beiden nicht mehr mit einander gesprochen.
Auch Käthe bemerkte nicht minder die Veränderung in Marys Gesicht und in beider Herzen erwachte daher gegenseitiges, weibliches Mitgefühl.
Nur mühsam ergriff Mary den Schwengel, um etwas Wasser zu pumpen, bis ein heftiger Hustenanfall sie daran verhinderte. Ein Weilchen lehnte sie am Brunnenrohr, gesenkten Hauptes, und der krankhafte Husten verzerrte ihr Gesicht.
Unwillkürlich näherte Käthe sich ihr, um sie sanft beiseite zu schieben und ihr das Wasser einzupumpen. Schweigend nahm Mary diese Hilfe an und dies erleichterte ihr wesentlich die Annäherung, die sie so sehnlichst wünschte.
Nachdem Käthe den Eimer gefüllt, stellte sie ihn fort und schob an seine Stelle den ihrigen, um auch ihn zu füllen. Dazu fehlte ihr aber schon die Kraft und das Herz schlug ihr so gewaltig, daß sie, um ein wenig auszuruhen, sich niedersetzen mußte.
„Fräulein –“, unterbrach zuerst Mary das Schweigen, „Sie sind auch nicht gesund und waren doch so frisch und kräftig, als Sie hierher kamen.“
Erstaunt erhob Käthe das Haupt.
War dies wirklich Mary, die sie so freundlich anredete? Von der sie nur Schmähungen und boshafte Sticheleien zu hören gewohnt war?
Obgleich sie diese Veränderung kaum begreifen konnte, ging sie nicht näher darauf ein, sondern sah nur vor sich dies freundliche Gesicht, hörte nur diese sanfte Stimme und wandte sich hochbeglückt und alle erlittene Unbill vergessend an ihre frühere Feindin.
Auch sie war jetzt so unglücklich, daß jedes freundliche Wort sie rührte und mit Dankbarkeit erfüllte.
Mary bemerkte den Eindruck, den ihre Anrede auf Käthe gemacht und ließ daher diese Unterhaltung nicht fallen.
„Fräulein“, fuhr sie fort, sich ihr nähernd, „Sie sind hier doch sehr herunter gekommen, und zwar durch eigene Schuld. Das kommt davon, wenn man sich in so einen vernarrt. Das nimmt immer solch ein Ende!“
„O, nein“, entgegnete Käthe, um sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. „Vernarrt hab’ ich mich in keinen; nur so matt wurde ich und weiß selbst nicht warum. Vielleicht hat mich jemand behext…“
„Jawohl“, flüsterte Mary mit ironischem Lächeln. „Derselbe Satan, der uns alle behext. Für mich ist dies nichts Neues; Sie aber, liebes Fräulein, trifft es zum erstenmal, das weiß ich, nur wundert es mich, daß Sie nicht in Ehren Ihren Ersten fanden, sondern von vornherein solchem Nichtsnutz in die Hände fielen, wie dieser Johann! Wer nicht fest im Sattel sitzt, fällt leicht vom Pferde.“
„Sie scherzen, Fräulein“, erwiderte Käthe mit gezwungenem Lächeln und nahm ihren Eimer, um sich zu entfernen. „Johann ist nicht daran schuld, nur durch die schwere Arbeit bei Tag und Nacht im dritten Stockwerk bin ich so herunter gekommen.“
Mary aber hielt sie am Rocke fest.
Obgleich selbst matt und elend, wollte sie dennoch einer anderen als Werkzeug ihrer Rache dienen. Und, wer weiß, vielleicht erbarmt sie sich doch noch über Käthe und öffnet ihr die Augen, um ihr Johanns Verrat zu zeigen in seiner ganzen Nacktheit. Sind doch die Launen nervöser Weiber ganz unberechenbar!
„Fräulein, haben Sie denn nie bemerkt, daß Johann Sie vernachlässigt, daß er also eine andere haben muß, der er nachläuft?“
Bei dieser Frage blieb Käthe plötzlich stehen. Freilich hatte sie längst sein kühles Benehmen wahrgenommen und dieser Gedanke hatte sie Tag und Nacht gequält!
Mary aber mußte näheres davon wissen und konnte ihr sicher die volle Wahrheit sagen.
Hastig also wandte sie sich zu der früheren Nebenbuhlerin, die mit zitternden Händen noch immer die Falten ihres Rocks festhielt. Mit heftigem Rucke riß sie sich los und trat dicht vor sie hin, so daß ihr heißer Atem sie anwehte.
„Fräulein“, flüsterte sie mit fast stockender Stimme. „Wenn Sie Gott im Herzen tragen, bitte, sagen Sie mir: Wo steckt diese Nichtswürdige? Überall schon sucht’ ich sie, lief ihm nach auf die Straße und in die Schenke und konnte sie nicht finden.“
Dabei atmete sie schwer und das Herz schlug ihr so gewaltig, daß alle Pulse im Kopfe, an den Schläfen und in den Ohren klopften.
Unverwandt blickte Mary sie an und tiefes Mitleid prägte sich auf ihrem bleichen Gesichte aus. Gleichwohl erwiderte sie nichts und schien noch mit sich zu ringen.
Käthe aber bat immer flehentlicher und kniete fast vor ihr nieder, um der auf dem Brunnenkasten Sitzenden sich noch mehr zu nähern.
„Sie wissen nicht, Fräulein!“ rief sie, die Fäuste ballend, „daß Johann mir die Ehe versprochen hat. Und gewiß hätte er dies gehalten, wäre nicht die Schändliche, die ihn mir geraubt hat! Ich aber hab an ihn, als an meinen Verlobten, ein heiliges Anrecht. Sonst hätte ich mich niemals auf solche Liebschaft eingelassen und mich der Verachtung der Leute ausgesetzt. Ach, goldenes Fräulein, sagen Sie mir, wen er jetzt hat. Dann will ich mir schon Rat schaffen und ihn mir wieder gewinnen. Nur wissen muß ich, wer die andere ist…“
Fast raste sie vor Verzweiflung.
Diesen Morgen war sie hungriger als jemals und dies versetzte sie ohnehin in förmliche Wut.
Noch auf dem Höhepunkt ihrer Aufregung flehte sie Mary an, ihr das Geheimnis zu offenbaren. Hätte jene ihr dies noch länger abgeschlagen, sie wäre auf sie losgestürzt, um sie mit Gewalt dazu zu zwingen.
Zu diesem Äußersten ließ Mary es jedoch nicht kommen. Jetzt war sie entschlossen, ihr alles zu sagen. Nachdem Käthe ihr gestanden, Johann habe ihr die Ehe versprochen, war ihre Geduld zu Ende.
Obgleich sie wußte, daß Männer nur zu oft so etwas versprechen und nicht halten, empörte sie dennoch tief das Verhalten Johanns, der die leichtgläubige Käthe ins Verderben gestürzt hatte.
Jetzt, nachdem zugleich mit dem körperlichen Leiden sich ihr Seelenzustand verändert hatte, nachdem sie anders über die Frauen urteilte, die Männer aber umso glühender haßte, gelangte sie zu der festen Überzeugung, daß Käthe ganz unbescholten war, bis Johann sie so schändlich betrogen hatte.
Daher beschloß sie, diesen nicht länger zu schonen und zeigte, zu der vor ihr knieenden Käthe sich herabneigend, hinauf nach dem kleinen dreieckigen Bodenfenster auf dem grauen Dache.
„Ja, Fräulein“, hob sie hastig an, „die dort oben im Verschlage sitzt und nur ißt und trinkt, was Johann ihr Tag für Tag hinaufbringt, ist keineswegs Ihre Freundin. Das hätten Sie gewiß sich nicht träumen lassen, daß die beiden sich herbeiließen, dort einen Roman aufzuführen!“
Alles Blut stieg Käthe zu Kopfe.
Wie? Rosa? Das war doch rein unmöglich!
Also, während sie sich das Brot vom Munde absparte, um sie nur vor Schmach und Schande zu retten, raubte jene ihr dort den Geliebten, den Verlobten? Nein! Das konnte nur eine Lüge sein! Entweder log Mary, oder sie täuschte sich nur! Das wäre doch zu nichtswürdig, zu gemein!
Mary aber wünschte jetzt, ihr zu beweisen, daß sie sich nicht irre und nur zu gut wüßte, was sie sage. Und mit der ganzen, grausamen Offenheit erzählte sie Käthe alles, was sie gehört und selbst gesehen im Verlaufe der letzten Wochen.
Übrigens möge Käthe sich nur verstellen und sorgsam acht geben, dann werde sie selbst die Wahrheit entdecken und sich überzeugen, daß Mary durchaus nicht lüge.
Käthe aber hörte schon garnichts mehr. Jetzt glaubte sie alles, wie Schuppen fiel es ihr von den Augen.
Jetzt erinnerte sie sich an so mancherlei und konnte sich erklären, weshalb Rosa den Boden durchaus nicht verlassen wollte und weshalb Johann immer davonlief, wenn sie ihn bei der Freundin antraf!
Und sie, sie selbst hatte Rosa in das Haus eingeführt und Johann gebeten, ihr zu erlauben, daß sie auf dem Boden schlafe.
Und plötzlich, wie ein verwundetes Wild, sprang sie auf und lief, ohne auf Marys Zuruf zu achten, mit dem diese sie beruhigen wollte, die Treppe hinauf, wie rasend, und zerriß sich die Kleider am Geländer und an der Mauer und zerraufte sich das Haar…
Wie ein Sturmwind sauste Käthe auf den Boden, grade los auf den Verschlag.
Mary hatte nicht gelogen…
Obgleich der Verschlag verschlossen war, sah Käthe durch eine Spalte ganz deutlich Rosa vertraulich an Johanns Brust geschmiegt. Sorglos saßen sie beide da, ganz vertieft in ihr Kosen, von dem sie in ihrer fast krankhaften Leidenschaft niemals genug haben konnten.
Eine gewaltige Erschütterung der ganzen Bretterwand aber unterbrach sie. Eine Faust schlug krampfhaft an die dünnen, schlecht gefügten Bretter.
Beide sprangen auf, wie vom Blitz von einem Gedanken getroffen.
Das konnte niemand anders als Käthe sein! In heller Verzweiflung klammerte sie sich an die Bretter und rüttelte daran herum, um die Wand einzureißen und in das Innere des Verschlages einzudringen.
Ein markerschütternder Schrei, wie der eines wilden Tieres, entrang sich ihrer Brust und hallte in voller Schärfe wider auf dem leeren Boden.
Johann entschloß sich sofort, den Verschlag zu öffnen, da er mit Recht befürchtete, Käthes Lärm und Geschrei könne die hierdurch erschreckten Mieter herbeiführen. Also riß er die Tür auf und schlüpfte hinaus zu Käthe, die halb von Sinnen mit blaurotem Gesicht und zerrissenen Kleidern mit verdoppelter Wut auf ihn losstürzte.
Als er die Hände vorstreckte, um sich vor ihren Faustschlägen zu schützen, stieß sie ihn mit fast übermenschlicher Kraft zurück und stürmte in den Verschlag, wo die vor Angst zitternde Rosa vor ihr stand.
Im Nu packte sie die falsche Freundin bei den Haaren und zerrte sie zu Boden. Die Verzweiflung und die erlittene Enttäuschung verliehen ihr neue Kräfte. Ein Hagel von Faustschlägen fiel auf Rosas Kopf und Rücken.
Käthe verlor alles Maß und Bewußtsein. Der ganze Seelenschmerz der letzten Tage äußerte sich bei ihr mit neuer Gewalt.
Jetzt hatte sie die „Andere“, die sie Tag und Nacht gesucht, unter den Händen, und lebend sollte sie nicht davon kommen. Erfüllen wollte sie ihre Drohung und sie – töten…
Weithin schallte Rosas lautes Jammern. Nur mit Mühe gelang es endlich Johann, so stark er auch war, Käthe von ihrem Opfer loszureißen. Ihr Wutgeschrei steigerte sich zu fast tierischem Brüllen.
Unter der Wucht ihrer Qualen verwandelte sich die sanfte Käthe zur blutdürstigen Hyäne und machte ganz den Eindruck eines reißenden Tieres, welches in der eigenen Höhle gereizt wurde.
Nur zu bald füllte sich der Boden mit Neugierigen.
Das Geschrei der beiden Mädchen durchschallte das ganze Haus bis auf den Hof. Dazu kam noch, daß Mary, als sie Käthe die Treppe hinaufeilen sah, sofort vermutete, die Sache werde nicht gut ablaufen. Daher liefen alle Weiber und Mädchen aus dem Hause dort zusammen.
Niemand aber wagte, sich dem Verschlag zu nähern, in dem sich ein Knäuel von drei einander mißhandelnden Menschen herumwälzte.
Endlich gelang es Johann, Käthe zu packen und mitten auf den Boden zu schleppen.
Nicht ohne Beschämung sah er den ganzen Schwarm neugieriger und vor Schreck zitternder Weiber am Eingang stehen und mit weit geöffneten Augen die mit Blut überströmte Käthe anstarren, die mit zerfetzten Kleidern dalag.
Rosa hatte in der Abwehr Käthes Faustschläge nach Kräften erwidert und in der Not sich auch der Nägel und Zähne bedient.
Auch Johanns Anzug war ganz zerfetzt und im Gesicht trug er Beulen und Blutspuren. Jetzt übermannte ihn die Wut und das unbezähmbare Verlangen, sie vollends tot zu schlagen.
Wie? Sie wagte, ihn zum Gespött der Leute zu machen? Dieser „Mehlsack“, von dem er nicht wieder loskommen konnte?
Und wie rasend warf er sich auf sie, packte sie am Halse und schlug sie mit den Fäusten auf den Kopf, mit dem Rufe: „Verdammtes Frauenzimmer! Dich soll ich heiraten? Da hast du dein Brautgeschenk!“
Sie aber rührte sich nicht; die Hände sanken ihr herab und den Kopf senkte sie bald auf den rechten, bald auf den linken Arm.
Unter Schluchzen und Tränen flüsterten nur leis ihre Lippen: „Ach, Johann, mißhandle mich doch nicht so arg!“
Dieser jedoch schien nicht mehr zu hören, noch zu sehen.
Daß sie all seine Roheit so ruhig hinnahm, fachte, anstatt ihn zu besänftigen, seine Wut nur noch stärker an.
„Wieder spielst du die Jesuitin! Ich aber weiß, wie ich dir das austreiben kann…“
Dies alles sah der Weiberschwarm an der Tür mit an, wußte aber nicht, was die Veranlassung zu diesem Auftritte war.
Rosa schloß sich inzwischen wieder ein im Verschlage, warf sich auf den Strohsack und verbarg sich vollständig im Schatten.
Die Weiber sahen also nur Johann immer auf Käthe losschlagen und wußten, daß im Verschlage noch ein Frauenzimmer stecke, nicht aber, wer dies war und woher es kam.
Nachdem Johann noch mit einigen Fußtritten seine Rache an Käthe befriedigt, die halb ohnmächtig vor ihm lag, trocknete er sich das blutige Gesicht und ordnete seine Kleidung.
Dabei murmelte er noch: „Da hast du’s, du Jesuitin!“ als er plötzlich verstummte und stirnrunzelnd nach der Bodentür blickte.
Durch den Weiberschwarm dort drängten sich zwei Männer in Uniform mit blanken Knöpfen, mit Säbeln an der Seite und dem Polizeischild auf der Brust.
Im blinden Eifer war Mary zur Polizei gelaufen, weil sie in der Einmischung der Obrigkeit die beste Lösung dieser Angelegenheit sah.
Ängstlich prallten die Weiber auseinander und die Polizisten schritten mitten auf den Boden.
Anfangs nicht wenig betroffen, kam Johann bald wieder zur Besinnung. Die Polizisten waren seine guten Freunde und tranken längst mit ihm Brüderschaft, trotz ihrer grundverschiedenen Ansichten. Das Gläschen glich dieselben aus und sie knüpften Freundschaft an mit dem ewig widersprechenden Portier. Weil jedoch hier ein „Skandal“ vorlag und sie die Vertreter der Obrigkeit waren, mußten sie den Gesetzen genügen und irgend jemand verhaften. Dies war ganz selbstverständlich.
Sofort wußte Johann, was er zu tun habe. Hastig zeigte er nach der noch immer daliegenden Käthe und fügte hinzu, dies Frauenzimmer sei betrunken auf den Boden gekommen, habe mit ihm Streit angefangen und um sich geschlagen.
„Herr Kommissar, nehmen Sie die Bestie mit ins Loch, damit sie sich ausnüchtere, sonst läßt sie hier keinen in Ruhe.“
Mit diesen Worten wandte er sich an den älteren Polizisten, dessen schwache Seite er mit jenem, ihm nicht zukommenden Titel traf.
In seiner Eitelkeit geschmeichelt, nickte er dem Portier freundlich zu und befahl Käthe mit einem Fußtritte, sich sofort zu erheben.
Schweigend gehorchte sie, raffte sich mühsam auf, und wandte nur noch Johann das blutüberströmte Antlitz zu, auf dem jede Spur der früheren Wut verschwunden war.
Tiefster Seelenschmerz prägte sich in ihren Augen aus, als die Polizisten sie umringten und nach der Tür stießen. Natürlich wußte sie, daß man sie zur „Polizei“ führe, mitten unter Landstreicher und allerlei Gesindel, als eine Betrunkene, Verworfene, die man auf der Straße aufgegriffen. Und in ihrer Seelenangst und dem Rest ihres guten Glaubens an das Herz des Mannes, dem sie alles geopfert, was sie im Leben besaß, streckte sie die Arme aus, als suche sie Hilfe und Rettung bei dem, der sie soeben noch so unbarmherzig mißhandelte.
„Johann!“ rief sie mit bebender Stimme. „Laß mich nicht mitnehmen auf die Polizei. Das überleb’ ich nicht!“
Dann erstarb ihre Stimme und ihr Schluchzen verstummte auf dem Boden.
Mit roher Gewalt, mit Püffen und Fußtritten stießen die Polizisten sie durch die gaffenden Weiber.
Noch an der Schwelle wandte sie Johann das schmerzzuckende Gesicht zu.
Dieser aber wischte sich noch immer das Blut aus den Wunden und zeigte in den Augen und den fest zusammen gekniffenen Lippen den finsteren Groll eines Mannes, der die Gemeinheit seines Handelns selber einsieht, seine Schuld aber trotzdem nicht eingestehen will.
Wohl hörte er Käthes flehenden Ruf und dieser drang ihm anfangs ins Herz. Schnell aber besann er sich und blinder Haß trat an die Stelle der augenblicklichen Herzensregung.
So stand er mitten auf dem Boden, blind und taub gegen alles, was um ihn her vorging.
Noch auf der Treppe hörte Käthe hinter sich das Zischeln der Weiber, ihrer Todfeindinnen, und deren spöttische, zweideutige Bemerkungen.
In der weitgeöffneten Küchentür stand Frau Julia, bleicher als sonst vor Schreck, wenn auch noch halb im Schlafe.
Als Käthe sie erblickte, schrie sie auf vor Freude. O! Die Herrin wird sie schon schützen vor der Polizei und wird nicht zulassen, daß man sie fortschleppt.
Und voller Vertrauen riß sie sich los von den Polizisten, um schleunigst in die Küche sich zu retten.
Leider aber täuschte sie sich.
Julia wich scheu zurück und verschloß die Küchentür, zitternd vor Angst und Ekel vor Käthes mit Wunden bedecktem Gesicht.
Vergebens rüttelte Käthe unter lautem Stöhnen an der Türklinke. Frau Julia schob den Riegel vor und vernichtete ihre letzte Hoffnung.
Schon packten die Polizisten Käthe an den Armen und zerrissen ihr dabei vorn die Jacke bis zu den Ärmeln. Über die blendend weiße Haut rann dunkles Blut ihr vom Halse und aus dem Gesicht herab.
Jetzt wehrte sie sich nicht mehr, sondern schritt allein bis zur Haustür mit dem bitteren Gefühl, daß ein Weib im Unglück nirgends Schutz finde.
Und als draußen die Frühlingssonne ihre goldenen Strahlen über sie ergoß, bedeckte sie nur ihr Antlitz mit den Händen, um Frühling, Sonne und Menschen gar nicht zu sehen. Denn all dies heitere Leben um sie her schien all ihre Not und Verzweiflung nur zu verhöhnen.
Wie aus der Erde gewachsen, umringte sie die Straßenjugend.
An den Ladentüren erschienen die Trödler. Vorübergehende blieben stehen und begafften die lärmende Menge, die in breitem Strom die ganze Straße überflutete.
Eine nervöse Dame schloß schnell das Fenster und zog die blauen Vorhänge vor. Aus dem ersten Stockwerke bemerkte sie erst in der Menge das blutig geschlagene, zerlumpte Weib und fiel beinah in Ohnmacht. Mit dem Frühstücken war es heute vorbei.
Inzwischen waren die Polizisten nicht müßig und fühlten sich vollständig als Helden. Weder mit drohenden Blicken, noch mit Faustschlägen und Püffen verschonten sie die vor Schwäche fast umfallende Käthe.
Die Straßenjugend aber verspottete die Arme und zupfte sie am Rocke.
Unsicher schwankte sie mitten hindurch und sah vor Zittern und Tränen kaum noch den Weg. Gleichwohl hörte sie alles, fühlte jedes Zupfen und war sich vollständig über ihre Lage klar.
Die Frühlingssonne bestrahlte ihr gesenktes Haupt, von dem das üppige, dunkle Haar, hier und da mit Blut verklebt, herabwallte.
Mit ihrem riesigen Wuchse überragte sie die ganze Menge und über dieser Flut von Menschenköpfen erhob sich, wenn auch mißhandelt und gesenkt, ihr anmutig geformtes Haupt.
Vorüberfahrende Kutscher zeigten lachend auf sie mit den Fingern und überhäuften sie mit einem Hagel von Schimpfworten.
Einer derselben schlug sie sogar mit der Peitsche auf den Rücken.
Erst als man sie in das finstere Tor des Polizeigebäudes hineinstieß, fühlte Käthe sich erleichtert.
Die dunkle Wachtstube war voller Schmutz und übler Ausdünstungen und dabei dicht bestellt mit Schränken, Tischen und Stühlen, auf denen Papiervorräte, Gänsefedern und Tintenfässer herumlagen oder standen.
Zwei auf dem Markte aufgegriffene Bauern, ein zerlumptes, bleiches und abgemagertes Weib und ein etwa vierzehnjähriger Lehrjunge erfüllten die nicht allzu geräumige Wachtstube.
Durch die angelehnte Tür sah man in ein helles, sauberes Zimmer, in dem gewöhnlich der wachthabende Beamte, der Kommissar, saß.
In der Wachtstube herrschte tiefes Schweigen. Dazu zwang die Anwesenden schon die Gegenwart einiger Polizisten.
Die Bauern standen mit der Mütze in der Hand demütig da, blickten aber mit dem Hasse vollblütiger Russen nach ihren Gegnern. Das bleiche Weib starrte gleichgültig nach dem schmutzigen Fußboden. Und der Lehrjunge schnüffelte ab und zu mit der Nase, als sei er an ein Taschentuch nicht gewöhnt.
Endlich betrat der Kommissar die Stube.
Als Käthe die stolze Männergestalt vor sich sah zitterte sie vor Angst, ihr letztes Stündlein sei gekommen, so gewaltigen Eindruck machte auf sie die von einem Polizeibeamten untrennbare Würde.
Auf den Wink eines Polizisten erhob sie sich aus dem dunklen Winkel, entsetzlich anzusehen mit den Blutspuren auf Hals und Gesicht.
Zwar wandte sie sich ab, als sie vor dem Kommissar stand. Dieser aber schauderte förmlich zurück und griff schleunigst nach stärkenden Pastillen. Dann erst begann er das Verhör.
Nur leise antwortete sie, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Gleichwohl gab sie Namen und Wohnung richtig an. Als sie aber nach der Veranlassung des Streites und der Schlägerei gefragt wurde, verstummte sie und starrte düster zu Boden.
Rings um sie her liefen die Polizisten und führten immer neue Verhaftete vor. Sollte sie vor diesem ganzen Schwarme all ihr Unglück und Elend erzählen, auch Johanns Verrat und Rosas Nichtswürdigkeit?
Die nervöse Aufregung des Kommissars erreichte ihren Höhepunkt. Jetzt blieb dies Frauenzimmer stumm wie ein Fisch und reizte ihn durch solchen Trotz!
Und ohne weiteres nannte er Käthe: „Du Landstreicherin, du Schlumpe! Hinaus mit dir!“
Dann befahl er den Polizisten, sie sechsunddreißig Stunden ins Loch zu sperren bei Wasser und Brot.
Diese Strafe war noch ziemlich mild. Doch mußte auf Käthes bisherige gute Führung und die daher fehlenden Vorstrafen Rücksicht genommen werden.
Das „Loch“ war ein langes, schmales Stübchen mit einem kleinen Gitterfenster. Dort wurden nur diejenigen untergebracht, die nicht mit Gefängnis, sondern mit mehrtägiger Haft bestraft waren.
Außer drei mit schadhaften Pferdedecken belegten Pritschen, einem Kruge mit Wasser und einem hölzernen Schemel, befand sich nichts in diesem Raume. Durch das Fenster drang der Lärm der zu neuem Leben erwachten Stadt.
Unter diesem Fenster saß Käthe den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht und starrte regungslos mit krampfhaft gefalteten Händen und fieberheißen Lippen hinaus.
Längst hatte sie aufgehört zu denken, zu fühlen und sogar zu leiden, so stumpf wurde sie unter dem Einflusse des Unglücks und der körperlichen Schwäche, die sie so niederdrückten.
Nur in der linken Seite, mehr nach der Mitte zu, fühlte sie noch einen empfindlichen Schmerz wie von einer tiefen Wunde, die bei jedem Atemzuge weher tat. Ihr übriges Leid zerfloß in ein Chaos, in dem sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte.
Nur Wasser trank sie ab und zu, ohne das trockene Schwarzbrot zu berühren, welches auf dem schmutzigen Schemel lag. Glücklicherweise war außer ihr dort niemand eingesperrt.
In dieser tiefen Stille beruhigte sie sich allmählich und begann, über ihre Lage nachzudenken.
Fast bereute sie jetzt ihr Verhalten.
Von unbezähmbarer Wut hatte sie sich hinreißen lassen, und damit nichts erreicht, aber viel verloren.
Daher beschloß sie, alles wieder gut zu machen, und sogar Johann es zu verzeihen, daß er sie verraten und der Polizei überliefert hatte.
Ihren ganzen Haß dagegen häufte sie auf Rosa mit dem seltsam unbezähmbaren Groll aller verratenen Weiber. Während sie dem Geliebten nur zu leicht verzeihen, wird die Nebenbuhlerin zum Gegenstande der glühendsten Rache.
Endlich wurde Käthe freigelassen und stand plötzlich wie geblendet auf der Straße.
Auf die anfängliche Erstarrung war stilles Nachdenken gefolgt und dieses hatte sie allmählich etwas beschwichtigt. Ab und zu zwar entrang sich ihr ein schmerzliches Stöhnen, zumal wenn Rosas Bild ihr vor Augen trat. Diese Abgeschiedenheit von der Welt aber bereitete ihr etwas Linderung.
Auf der Straße herrschte das rege Leben eines Sonntagnachmittags.
Schon dunkelte es sogar und eine doppelte Menschenwoge flutete nach der Richtung des Stadttheaters. Die einen kamen aus der Nachmittagsvorstellung, die anderen gingen zur abendlichen. Manche lachten noch laut über die lustige Operette oder trällerten deren flotte Walzermelodien.
Käthe stand ein Weilchen mitten auf der Straße, als wisse sie nicht, nach welcher Richtung sie gehen solle.
Obgleich sie von Wangen und Schläfen die Blutspuren sich abgewaschen, sah sie doch noch braun und blau aus und ihre zerfetzte Kleidung stach seltsam vom Sonntagsstaate der vorüberziehenden Menge ab.
Dieser oder jener sah sie verwundert oder lachend oder unwillig an, sodaß sie fühlte, sie müsse den Leuten aus dem Wege gehen. Wohin aber sollte sie sich wenden?…
Die Polizei hatte nur ihre Pflicht getan, indem sie die Ruhestörerin mitgenommen und eingesperrt hatte bei Wasser und Brot. Dann aber hatte man sie auf die Straße gestoßen und ihr zum Abschiede noch einen gehörigen Puff gegeben und, um sie zur Besserung zu ermuntern, ihr nachgerufen: „Du Landstreicherin!“
Dieses Wort ging ihr immer noch durch den Kopf und schwirrte ihr beständig vor den Ohren.
Tiefgebeugt fühlte sie sich durch diese erste ihr öffentlich angetane Schmach, und die höhnischen Blicke der Vorübergehenden peinigten sie vollends.
Nicht einmal ein Tuch mehr hatte sie, um ihr zerzaustes Haar zu bedecken, aus dem das angeklebte Blut mit kaltem Wasser sich nicht abwaschen ließ.
In der nächsten Schenke gingen fortwährend Männer, Weiber und Kinder aus und ein, um dort in ihrer Trunksucht sich oft bis zum Vieh zu erniedrigen. Erschöpft setzte sie sich auf die Stufen vorm Eingang.
Der oder jener stieß Käthe an und nannte sie: „Du Saufaus!“
Sie krümmte sich immer mehr und hatte kaum noch die Kraft, sich aufzurichten und weiterzugehen.
Auch dazu aber wurde sie gezwungen.
Als der Schenkwirt aus der Haustür trat und die dort Kauernde bemerkte, befahl er ihr mit scharfen Worten, aufzustehen und anständigen Gästen nicht den Weg zu versperren.
Mühsam erhob sie sich und schleppte sich durch die Menge nach einem abgelegeneren und weniger belebten Stadtteile.
Anfangs ging sie mit Aufwand ihrer letzten Kräfte etwas schneller. Allmählich aber versagten ihr auch diese den Dienst und die Knie schlotterten ihr unter der Last des Körpers.
Daher schlich sie matt an den elenden Häuschen entlang, vor deren Türen bleiche Weiber und zerlumpte Kinder hockten.
Hier wunderte sich niemand mehr über ihre Erscheinung. War sie doch hier nur eine Bettlerin mehr.
Nach und nach verwandelte sich die Dämmerung in dunkle Nacht, die den letzten Sonnenglanz in sich verschlang.
Vor Ermattung sank Käthe vor der Tür einer schmutzigen Kneipe zu Boden und blieb dort längere Zeit liegen.
Durch den Fuseldunst, der aus der offenen Tür herausdrang, fühlte sie sich wie berauscht und kauerte dort im Schatten als formlose Masse mit dem sonderbaren Gefühl, als werde sie immer kleiner, fast so klein, wie sie als Kind war.
Deshalb weinte und wimmerte sie auch wie ein kleines Kind, welches das Köpfchen an irgend eine teilnehmende Brust schmiegen möchte.
Auch hier zwangen sie einige Fußtritte seitens des sie von seiner Tür weisenden Wirtes endlich zum Aufstehen.
Zitternd und bebend wankte sie zum Tore hinaus, dessen aufgezogener Schlagbaum beim matten Laternenlichte schon von weitem sichtbar war.
Dort gelangte sie allmählich auf das freie Feld, welches sich längs des Stadtwalles hinzog.
Freier atmete sie auf, als sie keine Menschen mehr sah und schleppte dann sich weiter in der Richtung des Invalidenparkes.
Endlich wandte sie sich seitwärts auf immer sich schlängelnden Wegen nach dem Gebüsche, welches den steilen Rand des Stadtparkes bedeckte.
Dort war es schon stockfinster.
Im Gebüsche knackten dürre Zweige unter ihren behutsamen Schritten.
Flüsterworte, ab und zu auch Flüche und Verwünschungen drangen aus dem dichten, vom nächtlichen Schatten verhüllten Gebüsche.
Zu Füßen der Anhöhe blinkte mit tausend Lichtern die Stadt, überragt von der dunklen Masse der Türme und Kreuze.
Hie und da lag noch Schnee und die dicht aneinanderstehenden Baumstämme bildeten förmliche Schlupfwinkel in dem noch unbelaubten Gebüsche.
Feuchtigkeit und Kälte hafteten noch an dem durch keinen Sonnenstrahl erwärmten Erdboden.
Und dennoch strauchelte Käthe nicht selten über ein menschliches Wesen, welches, nur in Lumpen gehüllt und zitternd vor Frost, unter einem Baumstamme auf der feuchten Erde kauerte.
Oft stieß sie auch auf eine größere Gruppe von Leuten, die miteinander in stiller Nacht sich flüsternd berieten, wie sie am besten zu einem Stückchen Brot gelangen könnten.
Unter den Bäumen huschten allerlei Weiber, unwürdig dieses Namens, so zerlumpt und verlebt, so abschreckend sahen sie aus in ihrer Vertierung.
Ab und zu marschierte eine Wache vorüber, bestehend aus einigen halbverschlafenen Soldaten.
Blind und taub gegen alles, was um sie her vorging, schien sie wirklichen Verbrechern aus dem Wege zu gehen und nur auf weniger schädliche Wesen zu fahnden, die Not und Hunger zum Landstreichen zwang.
Und doch war dies Gebüsch nichts weiter als eine einzige Höhle des Verbrechens und der Zügellosigkeit, welchem der nächtliche Schatten als Mantel diente und das Dickicht als Versteck.
Spitzbuben und Dirnen, Strolche und Bettler zankten und prügelten, wälzten und liebten sich sogar in diesen Schlupfwinkeln im Kampfe um das Dasein, um ein Stückchen Brot und ein trockenes Plätzchen, um ihr Haupt dort niederzulegen.
Auch Käthe schlüpfte in dies Gebüsch und setzte sich auf einen gefällten Baumstamm.
Jetzt erst fühlte sie einen wahren Heißhunger. Selbst wenn sie noch einen Groschen in der Tasche gehabt hätte, wäre sie kaum imstande gewesen, wieder aufzustehen und weiterzugehen.
Zu Budowskis konnte sie nicht zurückkehren; dies erlaubte ihr Schamgefühl nicht. Ihre Stelle also hatte sie verloren. Weiter kannte sie niemand und wußte keine Tür, an der sie anklopfen konnte.
Die vorübergehende Wache versetzte sie in Angst, daher schmiegte sie sich dichter an den Baumstamm und verbarg sich möglichst im Schatten.
Wußte sie doch, was ihr bevorstand, wenn die Polizei sie hier so zerlumpt und allein im Gebüsche sitzen sah.
Die Kälte durchschauerte ihr dermaßen den Körper, daß ihr die Zähne klapperten. Um dies zu verhindern, preßte sie die Finger auf den Mund, aus dem ihr schon der Speichel floß.
Fast ohnmächtig vor Hunger, hätte sie jetzt einige Jahre ihres Leben gegeben für ein Stückchen Brot.
So kauerte sie schon eine ganze Weile, als sie plötzlich vor einem hohen Schatten zusammenschrak, der vor ihr auftauchte.
Dies war ein hageres, zerlumptes Weib mit zerzaustem Haar und abschreckendem Gesichtsausdruck. Nur zwei Reihen prächtiger Zähne blinkten hervor unter den Lippen, so blutarm und so welk wie der ganze Körper, soweit er unter den Lumpen sichtbar war.
„Was willst du hier, du Nachtgespenst?“ flüsterte sie mit heiserer Stimme. „Scher dich fort von hier; das ist mein Platz!“
„Erlaubt mir, ein wenig auszuruhen“, erwiderte Käthe, sich mit größter Anstrengung halb erhebend. „Den Baum werd’ ich Euch nicht anbeißen. Ich bin krank; sobald mir besser wird, geh ich meiner Wege.“
„Wenn du krank bist, geh ins Spital und versperr anderen Leuten nicht den Weg!“ rief das Weib und stemmte die Arme in die Seiten.
Käthe wich nicht von der Stelle und flüsterte nur: „Ihr seid doch auch ein Weib und müßt ein mitleidiges Herz haben. Der Stamm ist groß genug, wir haben beide Platz!“
Ein Weilchen stand das Weib da, unschlüssig, was es tun solle. Endlich überwog das Mitleid den Unwillen, und, die Hand schwenkend, setzte sich die Unbekannte neben Käthe, indem sie die schlecht beschuhten Füße auf die feuchte Erde stemmte.
„Wie kommst du hierher, wohin du nicht gehörst, das sieht man dir an? Denn du hast kein rechtes Maulwerk. Jede andere hätte längst ihre Galle an mir ausgelassen. Na, weil ich dich so gut behandle, so sage mir, was führte dich hierher?“
Käthe zögerte noch mit der Antwort.
Dieses abscheuliche Weib mit seinem Schnaps- und Schmutzgeruch erregte ihren Widerwillen. Der Fuseldunst verstärkte ihre Mattigkeit und betäubte sie vollends.
Gleichwohl mußte sie ihr doch antworten: „Ich bin jetzt ohne Stelle und weiß nicht, wo ich nächtigen soll…“
„Aha!“ entgegnete die Unbekannte. „Das ist dein Kummer? Ich nächtige hier seit vier Jahren und mir geht es ganz gut. Ich habe freie Wohnung und brauche das Bett nicht zu waschen.“
Dabei zog sie ein Brot hervor und begann begierig zu essen.
Hastig wandte Käthe den Kopf ab.
Sie konnte nicht zusehen, wie jene aß und litt entsetzliche Qualen. Ihr war, als drehten alle Eingeweide sich ihr im Leibe herum und Tränen hüllten ihr die Augen in einen Nebel, durch den sie nichts mehr unterscheiden konnte.
„Das glaub ich schon, daß dir dies erste Nachtlager nicht behagt“, fuhr das Weib fort. „Wenn man aber keinen Kreuzer Geld hat, nagt man wie ein Hund am Knochen. Warst du auch schon im Loche?“
„Jawohl“, flüsterte Käthe.
„Na, dann hast du auch ohne weiteres ein Anrecht hier auf einen Platz. Sollte dich aber so ein Büttel fortjagen wollen, so sag ihm nur, du warst schon im Loch. Dann rührt dich keiner an.“
Käthe bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Ja! Unleugbar war sie schon polizeilich bestraft als nächtliche Ruhestörerin und Landstreicherin, und dies gab ihr, wie das zerlumpte Weib ihr mitgeteilt, ein Anrecht auf diesen Schlupfwinkel.
Auch hier also gab es Rechte und eine Schwelle, die man überschreiten mußte, bevor man einen Platz auf feuchter Erde und ein Stückchen Himmel über sich erhielt!…
Jetzt blickte das Weib auf die neben ihr Kauernde und stieß sie plötzlich in die Seite mit den Worten: „Na, und was hast du ausgefressen? Etwa gemaust oder einem die Augen ausgekratzt?“
Käthe schüttelte nur den Kopf. So etwas hatte sie doch nicht getan! Dennoch wollte sie diesem Weibe nichts erzählen von ihren Erlebnissen. Und wie vor dem Kommissar, so verschwieg sie auch hier ihren Schmerz und dessen Ursachen.
„Hm“, murmelte die Unbekannte, die sich förmlich beleidigt fühlte, „du spielst die Geheimnisvolle? Willst nicht heraus mit der Sprache und fürchtest dich? Seh ich etwa aus wie eine Spionin? Wie lange bist du schon heraus aus dem Loche?“
„Seit heute Nachmittag.“
„Hast du schon etwas gegessen?“
„Nein.“
„Da, nimm das und stopf dich voll, zerbrich dir aber nicht die Zähne. Ha! Ha! Solch Brot schmeckt wie Ananas. Der Wojtek gab es mir, weißt du, der Pferdeknecht, das ist mein Liebster!“
Dabei reichte sie ihr eine harte Brotrinde. Mit zitternden Händen griff Käthe nach dieser elenden Kost und erhob sie zum Munde mit der Gier einer ausgehungerten Bestie.
Inzwischen zog das Weib die verbogenen Nadeln aus dem roten Haar und ließ die spärlichen Büschel herabhängen.
„Mir brummt der Schädel“, hob sie an und streckte die Beine vor sich hin. „Sobald die vermaledeite Dienerschaft endlich herbeikommt, laß ich mir schwarzen Kaffee kochen und ins Bett reichen. Dies Lumpenpack verschläft sich nur immer und hier hab ich keine Klingel.“
„Weißt du“, fuhr sie lachend fort, „einst hatt’ ich vier Stuben und eine Magd. Den ganzen Tag schlug ich diese aufs Maul und nachts ließ ich sie zehnmal aufstehen und Kaffee kochen, rein aus Bosheit und Rache. Denn früher, als ich selbst noch Magd war, ging es mir ebenso. Später kam ich selber wieder so weit herunter, aber ich hatte doch wenigstens alles Gute genossen.“
Jetzt bog sie den Kopf zurück, legte die mageren Arme unter den Nacken und schloß die Augen.
Dann stieß sie Käthe plötzlich an und fragte: „Hast du keinen Liebsten?“
Käthe ließ ab vom Essen und war außerstande, zu antworten, so schnürte ihr ein Krampf die Kehle zu.
Die Unbekannte aber fügte hinzu, ohne auf ihre Antwort zu warten: „Gewiß hattest du auch solch einen Sausewind, der dich im Stiche ließ… O, ich kenne das! – Erst verlockt er ein braves Mädchen und dann wirft er es auf den Kehrichthaufen! Auch mir erging es so mit solchem Scheusal! Hol ihn der Henker! Das erstemal ist’s am schwersten; dann schüttelt man es ab und alles ist vorbei. So wird’s auch dir ergehen!“
Entsetzt raffte Käthe sich vom Baumstamm empor. Wie? Sie sollte dasselbe werden, was dies Weib war. Auf diese Stufe sollte sie herabsinken, ohne jemals wieder sich zu erheben. Gab es denn keine Rettung mehr für sie, keinen Ausweg?
„Sieh, wenn du nur kein Kind hättest!“ raunte ihr die Unbekannte zu. „Aussetzen müßtest du es irgendwo, wie ich das meine!… Denn in Dienst nimmt dich keiner mehr mit dem Kinde, und zu einer Amme hast du kein Geld. Das ist schlimmer wie die Cholera und dadurch gehen wir alle zugrunde!“
Zugrunde! Jawohl! Ein eisiger Schauer überlief Käthe bei diesem Worte. Suchen mußte sie einen anderen Dienst, denn Budowskis nahmen sie nicht mehr an.
„Solch ein Lump“, fuhr das Weib fort, „bezahlt dir nicht einmal die Windeln und alles, samt dem Kinde, hast du auf dem Halse. Das ist einmal so und nicht anders!“
Zusammenschauernd warf Käthe die Brotrinde fort und drängte sich durch das Gebüsch in der Richtung nach der Stadt, getrieben von unbeschreiblicher Angst.
Sie wollte zunächst Johann aufsuchen, ihm zu Füßen fallen und ihn um Verzeihung zu bitten für alles, was sie ihm angetan. Alles wollte sie tun, nur um nicht solch ein Weib zu werden, wie dasjenige, dessen Brot sie soeben gegessen!…
„Was reckst du so deine Schienbeine und dankst mir nicht einmal für den Fraß!“ rief ihr die Unbekannte nach. „Lauf nur, lauf, du wirst schon wiederkommen, wie vor dir schon so manche!“
Dann warf sie sich auf den Baumstamm und pfiff einen Gassenhauer.
Inzwischen watete Käthe durch den Schnee und gelangte, oft auf die Kniee gleitend, endlich auf den Weg, der sich um die Anhöhe herumschlängelte.
Am Fuße derselben zogen sich strahlenförmig engzusammengedrängte Gäßchen hin mit niedrigen, fast in die Erde gesunkenen Häusern, deren Fenster jedoch alle hell erleuchtet waren. Zerlumpte Kerle durchstrichen gruppenweis diese Gäßchen, um in die Fenster zu gaffen, aus denen rohes Gelächter und schrille Fiedelklänge erschallten.
Dem Vorhofe der Hölle glich diese Anhäufung von Verbrecherhöhlen und Spelunken, deren weitgeöffnete Türen zum Eintritt einluden.
Ab und zu drang aus dem Innern ein markerschütternder Schrei oder ein Knäuel sich prügelnder Männer und Weiber wälzte sich plötzlich heraus und erfüllte die Luft mit Flüchen und Schimpfworten. Dieser ganze Menschenknäuel zerschlug sich die Köpfe auf den spitzen Steinen und rötete mit seinem Blute das holprige Pflaster. Dann verschwand er wieder in der Tür und bald darauf schrillte aufs neue die Fiedel.
Nur die Blutflecken blieben als Spuren des soeben beendeten Kampfes.
So flink durcheilte Käthe ein solches Gäßchen, als sei eine übermenschliche Willenskraft in ihr erwacht. Auch die übrigen Schlupfwinkel der Trunksucht und des Lasters ließ sie bald hinter sich und gelangte in einen anderen Stadtteil.
Die Dunkelheit der Nacht verhüllte ihre auffallende Erscheinung, sodaß die Vorübergehenden nicht mehr den Kopf nach ihr umdrehten. Auch schlich sie möglichst dicht an den Häusern hin, so sehr hatte sie sich schon daran gewöhnt, sich vor den Blicken der Leute zu verbergen. Endlich erreichte sie die Straße, in der Budowskis wohnten und die nur spärlich von matt glimmenden Laternen beleuchtet war. Da der Mond aber in Wolken gehüllt war, lagerte dichte Finsternis auf der Straße und warf ihre Schatten bis auf das Pflaster.
Trotzdem fand Käthe sich schnell zurecht und stand bald vor der Haustür.
Ohne sich lange zu besinnen, zog sie mit nervöser Hast an der Klingel.
Mußte sie doch hier trotz alledem Schutz und Zuflucht finden vor der Not.
Hatte sie auch Rosa blutig geschlagen, so konnte Johann sich nicht von ihr lossagen!…
Da niemand öffnete, klingelte sie noch einmal. Die Turmuhren schlugen eben eins mit schrillem, die Luft durchzitterndem Klange.
Eine verspätete Droschke rasselte vorüber mit ohrzerreißendem Getöse.
Endlich ließen sich hinter der Haustür schwere Schritte vernehmen.
Vor Aufregung lehnte Käthe sich an die Wand. Kannte sie doch Johanns Schritt und wußte, daß er ihr jetzt so nahe war, nur getrennt durch die hölzerne Tür.
Nachdem diese geöffnet, erschien im Innern eine weiße Gestalt. Im Nachtanzuge stand dort Johann, noch halb im Schlafe und gewiß in der Seele den späten Ankömmling verwünschend. Trotzdem streckte er mechanisch die Hand aus zum Empfange des ihm gebührenden Lohnes.
Sofort aber erkannte er, anstatt des erwarteten Mieters, an der großen, zerlumpten Gestalt die ehemalige Geliebte.
Was wollte sie hier noch so spät? Etwa neuen Skandal und Streit mit ihm anfangen bei Nacht und Nebel?
Dies konnte er nicht zulassen und mußte dem ein Ende machen.
Und bevor sie noch einzudringen vermochte, stieß er sie mit einem heftigen Ruck zurück auf die Straße.
Trotzdem streckte sie die Arme nach ihm aus und rief mit flehender Stimme: „Johann, Johann, o hör mich an!“
Er aber hörte nicht.
Nur einen Strom von halblauten Schmähworten vernahm sie noch hinter der Haustür.
Er fühlte, daß er kurzen Prozeß machen müsse, sonst hinge sie sich an ihn, wie eine Klette. Braun und blau hatte er sie geschlagen und dennoch kehrte sie zurück! Also so scharf wie möglich! Dann mußte sie doch weichen!
Und zitternd vor Wut schlug er die Haustür zu und drehte den Schlüssel zweimal um.
Auch die andere vom Boden hatte er davongejagt. Alle beide langweilten sie ihn. Käthe mit ihren ewigen Tränen, Rosa mit ihrem fortwährenden Kichern.
Jetzt war er wieder frei und fühlte sich am wohlsten!
Lange noch stand Käthe vor der Haustür, bevor sie sich klar wurde über ihre Lage.
Endlich begriff sie. Die letzte Hoffnung, Johann zu versöhnen, war ihr geraubt mit dem Zuschlagen der Haustür.
Und plötzlich regte sich etwas, zwar schwach, aber trotzdem deutlich unter ihrem Herzen, so seltsam, daß sie unwillkürlich zusammenschauerte und die Arme nach der Haustür ausstreckte.
Ein neues Leben war in ihr erwacht. Ein zweites Wesen gab mit unsicheren Bewegungen sein Dasein zu erkennen und lebte auf in dieser dunklen Wolkennacht, unter dem Einfluß von Not und – Herzeleid.
Schweiß bedeckte trotz der Kälte Käthes Stirn. Krampfhaft preßte sie die Zähne zusammen.
Trotz ihrer Unerfahrenheit erriet und begriff sie mit weiblichem Instinkte, was in ihr vorging, daß sie Mutter werden sollte!
Lange noch stand sie mitten auf der Straße, wie angewurzelt und regungslos, wie eine Säule.
Jetzt litt sie nicht mehr allein unter Johanns Nichtswürdigkeit, sondern sie hatte einen Leidensgenossen, der aus ihrem Schoße sich herausdrängte in die Welt zum – Leiden und Hungern.
Hinter der Haustür war alles still geworden. Johann war müd und matt auf sein Lager gesunken und schlief schon hart und fest.
Käthe vergegenwärtigte sich ihn in dem engen und doch so behaglichen Stübchen, eingehüllt in warme Decken, während sie da draußen zitterte vor Frost und innerer Aufregung.
Unwillkürlich suchte ihr Kopf vor Ermattung irgendwo Schutz und Stütze.
Mit weitgeöffneten Augen starrte sie auf die dunkle Masse der Haustür und preßte die Hände krampfhaft an die Brust.
Den festgeschlossenen Lippen aber entglitten nur die mit an Wahnsinn grenzender Hartnäckigkeit immer wiederholten Worte: „Mein Kind, mein armes Kind!“
Jetzt begannen für Käthe Tage voller entsetzlicher Not und Kümmernis.
Budowski, von allen unterrichtet, schrieb ihr ein entsprechendes Zeugnis in das Dienstbuch und bezeichnete sie darin als das nichtswürdigste Geschöpf. Dabei bedachte er weder die Veranlassung und die Umstände, die ihren Fehltritt herbeigeführt, noch, daß er sie mit solchem Zeugnisse geradezu in den Abgrund stoße, ihr die Möglichkeit zu jedem Verdienste benehme und sie zwinge, in die Reihen der Dirnen und Straßendiebinnen einzutreten.
Auch Frau Julia kümmerte sich nicht um ihre ehemalige Vertraute: Als Käthe endlich ihre Lade, ihr Dienstbuch und den rückständigen Lohn abholen wollte, versteckte Frau Julia sich schleunigst in ihrem Zimmer aus Furcht vor dem Anblick derjenigen, gegen die sie Verpflichtungen hatte.
Budowski selbst händigte ihr das Dienstbuch ein. Was aber den Lohn betraf, so bewies er ihr sehr gewandt, daß sie eigentlich ihm noch schuldig sei für den Schaden, den sie in der Wirtschaft anrichtete.
So nahm sie denn schweigend ihre Siebensachen und trug sie mit Marys Hilfe hinunter.
Denn Mary war ihr treu geblieben und setzte sie von allem Vorgefallenen in Kenntnis.
„Auch die Bestie vom Boden jagte der Schuft in alle Winde. So macht er es eben mit allen, dieser Nichtsnutz!“
Kein Wort erwiderte Käthe, obgleich die Nachricht, daß auch Rosa dasselbe Los getroffen, ihr einigermaßen Trost bereitete.
Nur sah sie sich nach allen Seiten um, ob sie nicht Johann irgendwo bemerke. Vergebens.
Als er sie in das Haus eintreten sah, lief er schnurstracks in seine Schenke, um ihr nicht zu begegnen.
Jetzt bei Tage, das fühlte er, konnte er ihr nicht in die Augen sehen. Daher verfolgte er das System fast aller Männer, die ihre Geliebte im Stiche lassen, und machte sich schleunigst aus dem Staube.
Käthe aber trug ihre Sachen zu einem ihr von früher her bekannten Maurer, der, nachdem er sich verheiratet, Schlafstellen vermietete.
Für den Erlös aus dem Verkauf ihres Bettes vegetierte sie dort noch zwei Wochen.
Während dieser Zeit arbeitete sie auf Tagelohn, da sie wegen des schlechten Zeugnisses keinen festen Dienst finden konnte. Also wusch sie in einem nahen Waschhause für einige Groschen täglich und für elende Kost, die ihr jetzt nicht genügen konnte.
Ihr Zustand, der sich regelmäßig entwickelte, bereitete ihr, wie meist jedem allzu kräftig gebauten Weibe, unsägliche Beschwerden.
Ihr Äußeres veränderte sich nicht wesentlich. Nur noch voller wurde sie und erschien jetzt vollends wie eine Riesin, wenn sie mit aufgestreiften Hemdärmeln sich über den Waschtrog herabbog, umwallt von dichten, weißen Dampfwolken.
Nur das Gesicht war auffallend bleich und die eingesunkenen Augen zeugten von den inneren Qualen.
Wenn sie jetzt ihre Lage bedachte und das in ihrem Schoße verborgene Kind fühlte, sorgte sie sich Tag und Nacht ab über ihre Zukunft und das Elend, dem sie unvermeidlich verfallen sollte.
Jene Worte, die ihr das zerlumpte Weib zugerufen in jener kühlen, düstern Nacht, da sie aus dem Loche hinausgeworfen, ohne Dach und Fach im Gebüsche herumirrte, klangen ihr fortwährend in die Ohren und ließen sie keinen Augenblick in Ruhe.
Was sollte sie anfangen mit dem Kinde, sobald es auf die Welt gekommen?
Sollte sie es auf die Straße werfen oder es aussetzen vor der Spitaltür, wie andere Weiber?
Nein, das täte sie nimmermehr!
Selbst die Hündin schmiegt ihr Junges an sich und läßt es sich nicht fortnehmen.
In Dienst aber nähme sie niemand mit dem Kinde. Um es irgendwo in Pflege zu geben, dazu gehörte vor allem Geld, wenn auch nur einige Gulden. Sie aber verdiente täglich kaum ein paar Groschen.
Nächtelang lag sie schlaflos da und starrte vor sich hin und grübelte darüber nach, wie sie die Kosten dafür aufbringen könne.
Sie selbst – das war das wenigste!
Das Kind aber, das Kind ginge dabei zugrunde, wie das häßliche Weib ihr vorhergesagt, damals in jener denkwürdigen Nacht.
Rings um sie her im Dunst und Dunkel des engen Stübchens schliefen die Mitbewohner, atmeten aber dabei so tief und schwer, als quälten sie ängstliche Träume und als beendeten sie die Arbeit, die sie im Wachen begonnen, als mischten sie Kalk oder trügen Ziegelsteine oder bauten Gerüste.
Manchmal wimmerte ein Kind in der Wiege oder ein Hund winselte im Traum in irgend einer Ecke.
Sie alle aber schliefen hart und fest den Schlaf der Gerechten und der – abgearbeiteten Arme.
Auch Käthe war nicht minder abgespannt und dennoch wachte sie. Auf die Hand gestützt, verzehrte sie sich in dem ohnmächtigen und eitlen Wunsche, sich Geld zu verschaffen.
Wie in Fieberglut lag sie da.
Zu verkaufen hatte sie nichts mehr.
Bett und Wäsche gehörten längst dem Maurer.
Die unzureichende Kost im Waschhause zwang sie, ab und zu sich kleine Lebensmittel zu kaufen, die sie mit fast tierischer Gier verschlang.
Nicht sie war daran schuld, sondern in ihr jenes kleine, gierige Wesen, welches die Unzulänglichkeit und den Mangel an Mitteln zur Stillung des Hungers noch nicht kannte, welches sie aber sättigen mußte, unter allen Umständen.
Unerbittlich war es, wenn der Hunger es quälte, und dann verursachte es ihr die größte Pein,
Nur eine Ware noch hatte Käthe zu verkaufen – den eigenen Körper.
Vor diesem Äußersten aber schreckte die ihr angeborene Ehrbarkeit zurück. Schon beim Gedanken an solche Erniedrigung stockte ihr fast das Herz.
Plötzlich wurde das Waschhaus wo sie bisher Verdienst gefunden, geschlossen. Wegen Mangel an Aufsicht oder wegen Eigenwilligkeit war etwas von der Wäsche der Feldwebel und Unteroffiziere verloren gegangen.
Käthe stand also wieder auf offener Straße nach zweiwöchiger Arbeit.
Als die Maurersleute sahen, daß sie wieder ohne Verdienst war, und daß sie selbst keinen Nutzen mehr von solcher Bettlerin ziehen konnten, vermieteten sie deren Schlafstelle anderweitig.
So wälzte sich alles Unheil auf ihr Haupt, als wolle es sie in den Abgrund stürzen.
Trotz aller Not aber kämpfte Käthe erhobenen Hauptes weiter.
Hungrig und zerlumpt schleppte sie sich nach der Stadt, um nach Arbeit zu suchen, zu der sie mit Freuden den Rest ihrer Kräfte hingegeben hätte für ein Stückchen trockenes Brot.
Rings lächelte ein wonniger Frühlingstag. Hier und da lag noch etwas Schnee. Vom Himmel aber strahlte hinter zartem, durchsichtigen Nebelschleier die goldene Sonne.
In allen Häusern wurden die während des Winters sorgfältig geschlossenen Fenster geöffnet, um Lenzluft und Licht einzulassen in die dumpfen, dunklen Wohnungen.
Wie Argusaugen spähten sie hinaus auf die Straße.
Die Damen lustwandelten in Lackstiefelchen und mit bemalten Wangen unter dem dichten Schleier, während die Herren, obgleich vor Frost klappernd, im leichten Sommeranzuge, mit Siegermienen einherstolzierten.
Die Schaufenster ergossen ganze Ströme heller Farben in den Falten der leichten Stoffe und Sonnenschirme.
So erschien dieser ganze Frühlingsvormittag wie das Vorspiel zu der harmonischen Melodie, die demnächst erschallen sollte, um kaum den Mai zu überdauern.
Fast gedankenlos schleppte Käthe sich durch die Straßen und preßte die Falten der zerrissenen Jacke an die Brust.
Schon hatte sie mehrere ebenso ärmlich wie sie aussehende Weiber gefragt, ob sie ihr nicht Arbeit zuweisen könnten.
Achselzuckend erwiderten jene, sie hätten selbst seit einigen Tagen keinen Bissen in den Mund bekommen. Später aber hofften sie Verdienst zu finden bei Neu- oder Umbauten oder beim Blumenverkauf auf den Straßen. Sonst habe der Magistrat auch Weiber zum Schneeschippen angenommen; jetzt besorgten dies aber Gefangene unter Aufsicht von Wärtern. Dadurch sei ihnen viel entgangen; denn das habe täglich mindestens zehn Groschen eingebracht.
Seufzend schleppte Käthe sich weiter, bis sie auf einem blauen Schilde die Inschrift las: „Waschhaus für Fremde“. Kaum hatte sie dies herausbuchstabiert, so schlüpfte sie durch die Haustür.
Auf dem Hofe gossen einige Weiber blaues Wasser aus oder Seifenschaum. Aus dem niedrigen Hofgebäude erschallte lautes Gelächter und Dampfwolken entschwebten den Fenstern.
Schüchtern betrat Käthe die Schwelle und bat mit leiser, stockender Stimme um Beschäftigung, sei es auch nur mit Wassertragen.
Schnell aber mußte sie zurücktreten.
Die Eigentümerin selbst mit Hilfe ihrer Arbeiterinnen überhäufte sie mit Schmähungen und nannte sie: „Du Landstreicherin, die nur auf fremdes Eigentum lauert!“
In der Tat erweckten Käthes Lumpen gerade kein Vertrauen und jedem, der sie sah, drängte sich die Frage auf: „Weshalb treibt sich dieses kräftige, anscheinend kerngesunde Frauenzimmer auf der Straße herum, anstatt irgendwo Arbeit zu nehmen?!“
Keinem aber kam es in den Sinn, daß der Weg zur Arbeit für Käthe völlig verschlossen war, sowohl jeder Dienst durch das schlechte Zeugnis, als auch durch die sie bedeckenden Lumpen jede andere Beschäftigung.
Und in all den Fleischerläden hinter üppigen Blattpflanzen und rosigen Azaleen türmten sich ganze Fleischmassen auf, zitterte goldgelbe Gallerte und prangten Würste in allen Farben.
War dies nicht der reine Hohn auf all die Bettler, die auf dem engen Trottoir standen und nach den Fleischwaren stierten, deren Geschmack und Geruch sie nur ahnten hinter den Spiegelscheiben?
Zu dieser Schar gesellte sich auch Käthe und wurde bald durch die Vorübergehenden in die vorderste Reihe gestoßen. Lange stierte auch sie auf die ausgestellten Schinken und Räucherwürste und ein förmlicher Krampf schnürte ihr die Eingeweide zusammen. Wie ein Blitz durchzuckte ihren Sinn der Gedanke, eine Scheibe einzuschlagen und irgend ein Stück Fleisch herauszureißen, um sich endlich einmal satt zu essen.
Schon verfolgte aber ein Polizist die zerlumpte Schar, die den Verkehr in der engen, lebhaften Straße hemmte.
Beim Anblick der blanken Knöpfe machte Käthe sich schleunigst aus dem Staube. Denn über alles fürchtete sie die Polizei.
Nachdem sie mehrere Straßen durchschritten, stand sie plötzlich vor der Tür der Benediktinerkirche.
Dort konnte sie wenigstens einen Augenblick ausruhen, denn die Kirche steht jedem offen.
Kurz vorher wurde sie von einer Steinbank vor einem dreistöckigen Hause fortgejagt, weil dies kein Platz sei für Landstreicher. In der Kirche aber konnte sie sich ruhig aufhalten, hatte sie auch ihren Gott fast vergessen und so lange nicht gebetet in der Kirche.
Seit ihrem Falle hielt sie etwas zurück, so oft sie die Schwelle des Heiligtums überschreiten wollte. Ihr war, als halte sie etwas am Rocke fest und banne sie an die Stelle.
Auch dies geschah nur anfangs. Später versuchte sie nicht einmal in die Kirche zu gehen. Heute tat sie dies ungehindert, ohne jenes seltsame Gefühl, welches sie davon abhielt.
Die Kirche hatte sich in nichts verändert. Dieselbe dumpfe Luft unter dem hohen Gewölbe, derselbe Schatten hinter den Pfeilern, dasselbe fieberhafte Flüstern, dieselben vergoldeten Engelsfittige und dieselbe kühle und trotzdem von der Inbrunst der Betenden zitternde Ruhe, dies alles umwehte die plötzlich Eintretende und machte auf sie einen niederschlagenden Eindruck.
Fast mechanisch schlüpfte sie vor den nächsten Altar, schlug ein Kreuz und versuchte zu beten. Dies wollte ihr aber durchaus nicht gelingen. Wie ein verhaspeltes Garn verwirrten sich ihre Gedanken. An ihren Eingeweiden nagte der Hunger und ein dichter Nebel verhüllte ihre Augen.
„Jetzt kannst du ruhig nach Hause gehen!“ sagte der alte Küster, ungeduldig mit dem Schlüsselbunde klirrend, den er in den von der Gicht gekrümmten Fingern hielt.
Und sofort erhob sich Käthe von der Lade, auf der sie saß und stellte den geleerten Teller beiseite.
Der vor ihr stehende Alte hatte sie bewußtlos und halb erstarrt auf dem Steinfußboden der Kirche vorgefunden. Eben wollte er die Kirche schließen, als er sie daliegen sah, wie ein Stück Holz. Mit Hilfe zweier Kirchendiener ließ er sie in sein Stübchen bringen und ermunterte sie dort nach langen Bemühungen.
Der Alte hatte ein gutes Herz. Ein Teller warmer Suppe und ein Stück Brot waren die besten Heilmittel für das entkräftete Mädchen. Daher teilte er mit Käthe sein Abendessen und goß es ihr fast mit Gewalt in den geschlossenen Mund.
Unter dem Einflusse der Wärme im Stübchen kam sie allmählich wieder zu sich und wollte sich nach kurzen Dankesworten still entfernen.
Wußte sie doch, daß für sie dort nur ein vorübergehender Zufluchtsort sei und daß sie denselben früher oder später verlassen mußte.
Aufmerksam betrachtete sie der Alte und fragte dann achselzuckend: „Warum gehst du nicht auf Arbeit, anstatt halb zu verhungern? Du bist doch so groß und kräftig.“
„Ach, tagelang sucht’ ich nach Arbeit und konnte keine finden“, erwiderte sie und erhob unter Tränen die Augen. „Im Waschhause sprach ich vor, aber sie schlossen es mir vor der Nase zu. Seitdem kam mir kein Bissen über die Lippen.“
„Fandest du auch keinen Dienst?“
„Wer nähme mich in diesen Lumpen?“
Dabei zeigte sie mit trübem Lächeln auf ihre zerfetzte Kleidung.
„Im Dienst hab’ ich sie so abgerissen, daß eine ordentliche Herrschaft mich nicht einmal mehr zum Wassertragen gebrauchen kann.“
Das schlechte Zeugnis erwähnte sie nicht, um sich jedenfalls die Gunst des braven Mannes zu erhalten, der sich zuerst ihrer Not erbarmte und ihr einen Löffel warmer Suppe reichte.
Er aber versank ein Weilchen in Nachdenken. Augenscheinlich wollte er seine Unterstützung nicht auf die einmalige Hilfe beschränken. Vielmehr suchte er nach irgend einer Beschäftigung, die er dieser halb verhungerten, aber trotzdem nicht dem Laster verfallenen Bettlerin anvertrauen könnte.
Mit dem Kennerblick des Mannes wußte er Käthes jugendliche Gestalt zu schätzen und gelangte zu der Überzeugung, sie könnte, falls sie schlechte Neigungen hätte, mit Leichtigkeit sich reichlichen Lebensunterhalt sichern.
Da sie aber vor den Altarstufen umsank vor Hunger, mußte sie ein ehrliches Mädchen sein.
Und ohne weiter nachzuforschen oder Vorwürfe auf das Haupt der Unglücklichen zu schleudern, forderte er sie auf, nach drei Tagen sich in der Sakristei einzufinden zur Aushilfe beim Ausfegen, Scheuern und Fensterputzen in der Kirche.
„Das bringt ein paar Groschen; nur mußt du tüchtig arbeiten“, sagte er.
Nach wiederholten Dankesworten ging Käthe hinaus auf die Straße, konnte aber doch ihren Kummer nicht los werden.
Der Küster machte ihr Hoffnung auf Verdienst. Dieser aber war noch so weitausstehend und nur vorübergehend. Was sollte sie inzwischen anfangen und wohin ihr Haupt niederlegen?
Die Sonne neigte sich zum Untergange.
Die Stadt verschlang in sich den ganzen Rest von Licht und Wärme und hüllte sich in düsteren Schatten.
Die entlaubten Bäume der Gärten und Alleen ragten empor wie Gerippe, die einer Hülle harren.
Gesenkten Hauptes schritt Käthe immer weiter über große Plätze, durch breite Straßen und enge Gäßchen. Ohne nach den Menschen zu sehen, die ihr gleichgültig waren, fühlte sie, daß die Nacht hereinbreche und mit ihr die Notwendigkeit für sie selbst sich ergebe, irgendwo unter Dach und Fach zu kommen.
Hunger empfand sie nicht mehr, aber unbeschreibliche Angst vor der Nacht.
Und weiter, immer weiter schritt sie an den Häusern entlang und sah nur nach den dunklen Kellerfenstern. O, könnte sie nur dort hinein gelangen und nächtigen! Das wäre unzweifelhaft das allersicherste!
Stockfinster schon war es, als Käthe sich plötzlich vor dem Zaune des Polytechnikums befand.
Völlig menschenleer war es in diesem, fast nur von der Aristokratie bewohnten Stadtteile.
Hoch ragten die weißen Häuser empor, wie riesige Grabmäler, die nur Leichen in sich bergen oder in Untätigkeit oder Schwelgerei verkommende Menschen.
Die langen Fensterreihen sahen so düster aus, wie Augenhöhlen von Totenköpfen.
Schon bei Lebzeiten setzten sich dort die Großen des Landes ihre Grabsteine.
Lebensfrisch auf diesem Totenhofe erhob sich nur das Polytechnikum, weit geöffnet zum Empfange der aus der Stadt herüberschallenden Frühlingslaute.
Unwillkürlich setzte sich Käthe vor dem Zaun auf einen umgestürzten Baumstamm und lehnte das matte Haupt an die Planken. Obgleich nirgends ein Polizist zu sehen war, wußte sie doch, daß sie nicht lange dort sitzen konnte. Also beschloß sie, nur ein wenig auszuruhen und dann weiterzugehen, immer weiter…
Plötzlich zupfte sie jemand am Arm.
Wodnieckis Schüler war es, jener Taubstumme, der nur zum Abendessen ausgegangen war und bald wieder zurückkehren sollte, da er im Atelier immer zu Füßen der „Nixe“ schlief, wo er beim Erwachen die plumpen Gestalten der „Apostel“ vor sich sah.
Sofort hatte er Käthe erkannte, die in ihm damals eine gewisse Bewunderung erregt hatte.
Aufgewachsen unter all den Statuen über Lebensgröße, blickte er mit Verachtung herab auf alle kleineren Gestalten, mit einer Art von Verzückung dagegen empor zu so riesigen Gliedermassen, wie die Käthes, welche die Menge um Haupteslänge überragte und sofort seinen Beifall fand. Er setzte sich neben sie und zupfte sie unter schrillem Aufschrei am Arme.
Auch sie erkannte ihn und blickte ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Wußte sie doch, daß dies nichts nütze, da er sie doch nicht verstehe.
Allmählich erweckte sein Anblick in ihr die schmerzlichsten Erinnerungen.
War sie doch bei dem Bildhauer am selben Tage gewesen, an dem sie Rosa mit auf den Boden nahm und Johann mit ihr bekannt machte.
Zwei große Tränen rannen ihr über die welken Wangen.
Sofort sprang der Taubstumme auf und warf sich vor ihr auf die Knie, um ihr mit der vom Gips geweißten Hand jene Tränen zu trocknen. So empfänglich war sein mitleidiges Herz für fremden Schmerz. Wie mancher Hund, so konnte auch er keine Tränen und keinen Menschen leiden sehen. Das Pfauengekreisch, mit dem er Käthe von seinem Mitgefühl überzeugen wollte, hatte in der Tat etwas Komisches.
Käthe aber lächelte kaum durch Tränen beim Anblick seiner Grimassen.
Dabei machte er die possierlichsten Sprünge zum Ergötzen einiger zerlumpter Straßenjungen, die, wie aus der Erde gewachsen, plötzlich auftauchten und laut auflachten über die Affenmienen des Taubstummen.
Verwundert blickte Käthe nach dieser Gruppe von Kindern, deren jüngstes kaum ein Jahr zählen mochte. Ein etwa zehnjähriges Mädchen hielt es auf dem Arme. Bleich und abgezehrt, ließ es den fast kahlen Kopf von fast Kürbisgröße hängen wie ein Idiot.
Käthe empfand eine sonderbare Beklemmung. Auch sie sollte einst solch ein Kind haben, und lag auch ihre Stunde noch fern, so kam doch der Tag, an dem solch ein Kopf sich auf die Welt drängen und zu essen verlangen wird.
Nach und nach verlief sich der Kinderschwarm und durch die Fenster der weißen Grabmäler blinkte mattes, unsicheres Lampenlicht mit ungesundem, wie bleichsüchtigem Glanz und rötlichem oder bläulichem Schatten.
Dort erwachte jetzt jenes künstliche Scheinleben, um kaum einige Nachtstunden zu überdauern und ohne jemand etwas zu nützen.
Noch immer hockte der Taubstumme zu Käthes Füßen, aber ohne sein übermenschliches Kreischen. Nur bei jedem neu aufblinkenden Licht in den Fenstern, die er mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete, entrang sich seiner Brust ein gedämpfter heiserer Laut, gewiß ein Ausdruck seiner Freude. Als, nach seiner Berechnung, das letzte Licht aufleuchtete, raffte er sich plötzlich auf und zupfte Käthe wieder am Arm und fragte sie mit Gesten, ob sie nach Hause gehe.
Wehmütig lächelnd schüttelte sie den Kopf und zeigte nach dem Zaune hin, als nach ihrem letzten Zufluchtsorte.
Mit wunderbarem Scharfblick erriet er ihre Lage, und daß sie weder Dach noch Fach habe, wo sie ihr zermartertes Haupt niederlegen könnte. Befand er sich doch manchmal selbst in ähnlicher Lage.
Ein Weilchen stand er bekümmert vor ihr, da er diese Riesin nicht verlassen wollte, zu der er sich so hingezogen fühlte. Plötzlich kreischte er triumphierend auf, ergriff Käthes Hand und zog sie mit sich fort in der Richtung nach dem Polytechnikum.
Weshalb sollte sie nicht in Wodnieckis Atelier nächtigen ?
Gern trät’ er ihr seinen Strohsack ab und seine Decke, während er selbst sich irgendwo anders hinlegte. Hatte er nicht schon öfters irgend einen herrenlosen Hund dort aufgenommen und an seiner Seite ruhen lassen?
Nur mußte er dann sich ganz leise einschleichen mit seiner Begleiterin und schleunigst durch die stillen hohen Gänge schlüpfen. Nur wie eine Schmugglerware konnte er solches Elend in diesen Prachtbau einbringen, dessen Marmorfliesen von Sauberkeit nur so blinkten.
Mit seltsamer Leichtigkeit ließ sich auch Käthe dort von ihm einschmuggeln in der Gewißheit, daß er sie wenigstens unter Dach und Fach bringe und vor einer möglichen Begegnung mit der Polizei schütze.
Gleichwohl zögerte sie noch auf der Schwelle des Ateliers. Trotz des Halbdunkels blinkten dort nasse Tonhaufen, mit Lappen bedeckt, in Gestalt phantastischer Tiere, während die riesigen Statuen, die bis zur Decke aufragten, fast im Schatten verschwanden.
Schnell stieß sie der Taubstumme fast mit Gewalt hinein und verschloß sorgfältig die Tür.
Dann zog er einen Lichtstumpf aus der Tasche, brannte ihn an mit einem Streichhölzchen und stellte ihn auf den Ständer der „Nixe“.
Als der gelbliche Lichtschein hauptsächlich auf die nackten Füße dieser Statue im Fischnetze fiel, blickte Käthe ängstlich nach der weißen regungslosen Gestalt mit den ausgestreckten Armen.
Ach, sie erkannt dieselbe nur zu gut.
Eine Magd, wie sie selbst, hatte sie unverhüllt sich in Ton für ein paar Groschen nachbilden lassen.
Bei diesem Gedanken durchschwirrte ein Chaos Käthes Sinn. Auch ihr hatte man solchen Verdienst angeboten, den sie aber ablehnte, stolz auf ihre Arbeitskraft und ihrer Hände Arbeit, in die sie sich für immer einspinnen wollte. Heut aber, wer weiß – Hunger und Not, das ist eine harte Schule. Heut würde sie nicht mehr so entrüstet sein, wenn jener kleine Herr ihr dasselbe anböte. Vielleicht erklärte sie sich doch dazu bereit, wenn er ihr erlaubte, irgend eine Hülle umzubehalten. Dann stellte sie sich ebenso hin mit ausgestreckten Armen, wie jenes Weib, das dort im erlöschenden Lichtscheine noch blinkte…
Inzwischen breitete ihr der Taubstumme seinen Strohsack zu den Füßen der Nixe hin und zeigte lachend auf dies elende Lager. Sie aber dankte ihm mit einem Kopfnicken für seine Gastfreundschaft.
Als sie vor Ermattung auf den Strohsack sank, biß sich der Kleine vor Freude in den Finger und stand noch lange vor ihr, bis sie die Augen schloß.
Nur ab und zu noch warf das erlöschende Licht wie im Krampf oder im Tanze den flackernden Schein auf Käthes entblößten Arm, der, aus der zerrissenen Jacke hervortretend, wie ein heller Fleck von den dunklen Lumpen abstach und bald im Lichtschein blinkte, bald im Schatten verschwand.
Unwillkürlich neigte sich der Krüppel über die Schlummernde. Dieser weiße Körper eines lebenden Weibes zog ihn mächtig an und heischte seine Berührung.
Bisher hatte er nur Gips- oder Marmorarme berührt. Jetzt aber vermochte er der Versuchung nicht zu widerstehen und streifte mit den Fingern Käthes Arm. Obgleich derselbe sich ganz kühl anfühlte, lief es ihm plötzlich wie Feuer bis an die Fingerspitzen.
Betroffen prallte er zurück in die Ecke und brummte wie ein junger Bär.
Inzwischen schlief Käthe hart und fest und verfiel in einen an Erstarrung grenzenden Zustand.
Über ihr erhob sich die Nixe, leicht und schlank, wie eine Wasserlilie und bildete so einen vollständigen Gegensatz zu Käthes üppiger Gestalt.
Trotzdem lieferten deren volle Arme und kräftige Hüften wie auch Busen Hals und Nacken das vorzüglichste Material, um den Typus eines Riesenweibes und einer Mutter aus dem Volke zu schaffen.
Noch einen flüchtigen Strahl warf das jetzt ganz erlöschende Licht auf die tote Nixe und auf die lebende Karyatide –
dann verschwanden sie beide im Dunkel.
„Sei doch nicht so ungeschickt! Zieh’ das Laken höher herauf!“
Und Käthe gehorchte und zog mit zitternder Hand die dünne Hülle auf die entblößten Hüften.
So stand sie halb nackend da im hellen Tageslicht, vom Gürtel an in schmutzigweißen Perkal gehüllt. Auch die Füße waren bedeckt und nur die Nägel sichtbar unter der nicht übel angelegten Draperie. Am Gürtel war der Perkal mit einigen Nadeln befestigt, deren schwarze Köpfe vom weißen Gewebe abstachen.
Nur die Büste blendete fast die Augen durch ihre prächtige Nacktheit und hob sich wundervoll ab von den Gips- und Marmorbüsten der Statuen. Ein heller Lichtstrom aus dem Fenster überflutete mit Silberglanz die vollen Schultern und die kühnen, aber reinen Linien des Busens, den die Mutterschaft noch verstärkte zur Größe der vollentwickelten Karyatide.
Vor ihr stand mit entzücktem Lächeln Wodniecki und formte mit Fieberhast aus den Tonmassen den üppigen Körper, der im hellen Tageslichte so deutlich hervortrat.
Käthes Gesicht kümmerte ihn wenig, da es ihm zu welk und verändert erschien. Ebensowenig der Hals, dessen Haut ihm zu sehr ausgedehnt war.
Die bis zu den Hüften reichende Draperie ließ von Schenkel und Waden nur die Umrisse erkennen.
So verbesserte der Künstler die Natur, indem er nur, was noch schön war, dem Modell entnahm und daraus ein Meisterwerk schuf.
Käthes erhobene und über dem Kopf übereinandergelegte Arme zitterten schon vor Ermüdung, da sie schon beinah eine Stunde lang so dastand. Gleichwohl wagte sie nicht, sich zu melden.
Auch der Hunger setzte ihr zu. Denn der Taubstumme hatte sie nicht bewirtet, da er selber nicht frühstückte.
Wodnieckis Taschen befanden sich offenbar in traurigem Zustand und enthielten schwerlich die zur Ernährung seiner Kunstjünger erforderliche Summe.
Trotzdem arbeitete er mit verdoppeltem Eifer, nachdem er hochbeglückt die in seinem Atelier Nächtigende aufgefunden und sie zum Modellstehen überredet hatte.
Dies gelang ihm leichter, als er erwartete.
Käthe aber verlor vor Hunger und Elend schon fast alle Willenskraft. Nachdem sie sich anfangs noch hartnäckig geweigert, gedachte sie ihres Kindes und ihrer Schwäche und ging endlich auf den Vorschlag ein.
Die Zähne zusammenbeißend, ließ sie nach und nach all ihre Lumpen fallen, obgleich eine Blutwelle ihr bis in den Kopf stieg.
Als sie endlich halb unverhüllt dastand vor dem Bildhauer, hielt sie noch ein Weilchen den Kopf gesenkt und kämpfte mit dem Reste von Schamgefühl, der ihr die Tränen aus den Augen preßte.
Anfangs fürchtete sie sich vor dem lustigen Künstler, in der Meinung, er werde nur Scherz mit ihr treiben und sie so behandeln, wie sie es anscheinend verdiente.
Wodniecki aber sah, ganz durchdrungen von seiner Arbeit, in ihr nicht das Weib, sondern nur das echte Modell und die in Galizien sich nur selten bietende Gelegenheit, ein solches zu finden, da das Modellstehen hier noch nicht zum Geschäfte geworden ist.
Männliche Modelle mußte der Künstler bisher unter Kollegen suchen, weibliche dagegen nur in schmutzigen Kneipen und Gassen unter den niedrigsten Volksschichten.
Nur jene „Nixe“ schuf er nach einer armen, aber ehrbaren Magd seiner Schwägerin.
Heute stand die zweite in Käthes Person auf der aus Brettern hergestellten kleinen Erhöhung, lebhaft errötend im Glanze des Frühlingsmorgens.
Nachdem er schon eine Stunde eifrig gearbeitet hatte, dabei aber ganz vernünftig geblieben war, beruhigte sie sich allmählich bei dem Gedanken, daß er ihr nichts antun werde, obgleich sie so halb entkleidet vor ihm stand.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und hereintrat ein Herr, der durch sein Äußeres sofort seinen wunderlichen Charakter und sein Haschen nach Originalität kennzeichnete.
Der Hut saß schief auf dem linken Ohr. Die Hände steckten in den Taschen des kurzen Sackpaletots; der Schnurrbart war fast bis zur Nase hochgedreht und der Blick schweifte unstät von einem Gegenstande zum andern – kurz, alles an ihm erschien aufdringlich und erkünstelt, und gab ihm den Anstrich einer beweglichen Gliederpuppe.
Einen Gassenhauer trällernd, näherte er sich, ohne den Hut abzunehmen, dem Künstler, reichte ihm mit Gönnermiene die magere Hand und fragte in kurzen, abgerissenen Sätzen: „Na, wie steht’s? Denkmal für Historiker schon fertig? Möcht’ es gern sehen. Wo ist es?“
Sein ganzes Auftreten verriet die Sucht, möglichst aufzufallen oder Eindruck zu machen.
Wodniecki aber schrie, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, nur Käthe zu, sie solle ruhig stehen bleiben, da sie beim Anblick des Fremden irgend eine Hülle über sich werfen wollte.
Dann zeigte er nach dem äußersten Winkel und erwiderte dem vor ihm stehenden Herrn: „Dort ist das Medaillon.“
Der Schriftsteller oder Zeitungsschreiber aber bemerkte jetzt Käthe und sah sie verwundert an.
Unwillkürlich schloß sie die Augen, um die Blicke dieses Mannes nicht zu sehen, die über ihren nackten Körper glitten und ihr geradezu körperlichen Schmerz bereiteten. Sah jener sie doch bei hellem Tageslichte, kaum verhüllt in ein Stück Perkal!
„Woher nahmen Sie dies?“ fragte endlich der Kritiker und verzog verächtlich den Mund.
„Ist das nicht ein prächtiges Modell? Sehen Sie nur diese Büste, diese Arme!“
„Allerdings… Wo bleibt aber das Schöne, das Ideal?“
„O, sie ist ja nur eine Magd, aber doch wie geschaffen zu einer Karyatide.“
„Sooo? Das ist etwas anderes! Und ist das Ihre –“
Hier brach er ab, als wolle er sich die Lippen nicht beflecken mit dem Worte „Geliebte“, während seine dünnen Nasenflügel zitterten und die Hände nervös am Paletot zupften.
„Wieso?“ erwiderte achselzuckend der Künstler. „Sie wissen doch, daß ich so etwas nicht liebe, sondern stets nur platonisch. Übrigens, wenn Sie wollen, können Sie das Mädchen mitnehmen, obgleich mir scheint, als würden Sie jetzt mit ihr sich eine unnötige Sorge aufbürden.“
Schnell öffnete Käthe die Augen.
O, sie verstand recht gut, was die beiden soeben von ihr sprachen. Woher hatte der kleine Bildhauer das Recht, sie diesem Herren anzubieten, der sie so boshaft anblickte? Arm und hungrig war sie allerdings und ließ sich sogar in dieser Not als Modell verwenden. Aber nimmermehr würde sie sich auf solch ein schändliches Anerbieten einlassen.
Der Kritiker jedoch besänftigte sofort ihre Aufregung, indem er, sich von ihr abwendend, ausrief: „Pfui! Das ist mir zu schmutzig. Ich lasse mich nicht mit dem Pöbel ein. Wozu sind die – Damen da?“
Er ließ sich, den Zylinder schiefer setzend, auf einem Steinblock nieder und pfiff, die Beine übereinanderschlagend, einen Walzer aus einer Operette.
Jetzt trat eine lange Pause ein.
Käthe fiel beinahe um vor Müdigkeit, wagte aber doch nicht, sich zu rühren. Daran hinderte sie die versprochene Bezahlung, für die sie sich etwas warmes Essen kaufen wollte.
Plötzlich stand der Kritiker, der gelangweilt Wodniecki bei der Arbeit beobachtet hatte, auf und trat dicht an die Erhöhung, auf welche der Bildhauer sein Modell gestellt.
Mit boshaften Blicken maß er dies vollenwickelte Weib, welches nur von den Hüften an in ein weißes Gewebe gehüllt war und von unten gesehen nur um so größer erschien.
Gesicht und Hals waren von der Sonne gebräunt und stachen grell ab von der übrigen Körperfarbe, wie auch die Arme bis zu den Ellenbogen mit ihrer Kupferröte, die sie von den so oft gescheuerten Kesseln und Kasserollen entliehen zu haben schienen.
Dies war allerdings nicht jenes Ideal mit Marmoroder Atlashaut, wie die Salonschriftsteller es so gern beschreiben. Wohl aber war es der Typus des vollentwickelten, wenn auch durch Not und Elend, Sinnengenuß und Mutterschaft stark mitgenommenen Weibes, mithin auch einer Mutter, jener Karyatide, die als Stütze der Gesellschaft zukünftige Geschlechter auf ihrem Nacken trägt.
So stand sie da im Frülingsglanze der Jugend, riesengroß und unverderbt trotz ihrer Nacktheit, während zu ihren Füßen jener Pygmäe mit dem kleinen Kopf und mit dem noch kleineren Hirn immer nur gedankenlos die Worte wiederholte: „Nur das Ideale muß man suchen in der Kunst.“
Eine ganze Woche schon nächtigte Käthe in Wodnieckis Atelier und schlief auf dem zerlumpten Strohsacke des Taubstummen, um in aller Frühe aufzustehen und ihre Modellstellung einzunehmen.
Allmählich an ihre Lage gewöhnt, legte sie schweigend ihre Lumpen ab und hüllte sich in ihre Draperie, deren Faltenwurf sie dem Künstler überließ.
Das vernünftige Benehmen desselben beruhigte sie vollends, sodaß sie nicht mehr fieberhaft zitterte, wenn seine kleine weiße Hand ihre nackten Glieder berührte.
Ganz aufgehend in seiner Arbeit, vergaß er Blut und Sinne, obgleich auch seine Wangen ab und zu sich fieberhaft röteten. Ihre Nacktheit aber reizte ihn nicht.
Zitternd vor Eifer wünschte er nur, ein Meisterwerk zu schaffen und so bald als möglich zu vollenden.
Den ganzen Vormittag verbrachte Käthe beim Modellstehen, den Nachmittag dagegen in der Sakristei jener Kirche beim Scheuern, Fegen und Fensterputzen.
Der alte Küster hatte Wort gehalten und gab ihr täglich einige Groschen zu verdienen.
Freilich mußte sie dafür auch schwer arbeiten und in gebückter Stellung oft bis an die Knie in schmutzigem Wasser waten.
Wodniecki gab ihr vier Groschen nach der ersten Sitzung. Das übrige mußte sie ihm stunden.
Zu mahnen wagte sie ihn nicht, da er immer so gut gegen sie war und nur ab und zu wegen ihrer Dummheit seinen Scherz mit ihr trieb.
Überdies fürchtete sie, sonst ihr freies Nachtlager zu verlieren. Nun hatte sie doch immer ein Dach über dem Haupte, und das war schon viel wert.
Ob Wodniecki freilich imstande war, ihr alles auf einmal auszuzahlen, wer konnte das wissen?
Inzwischen entstand unter der Hand des Künstlers eine prächtige Karyatide, die blütenweiß unter der feuchten grauen Hülle hervorblinkte, mit der sie nachts bedeckt wurde.
Und dies war Käthe in ihrem ganzen vielbewunderten, vollentwickelten Riesenbau, sogar mit denselben, nur etwas zarteren, dabei aber doch scharf ausgeprägten Gesichtszügen. Infolge dieser Ähnlichkeit war auch der Gesichtsausdruck, namentlich um den Mund herum, ein auffallend schmerzlicher. In ihrer Trübsal und Ermattung vermochte Käthe das Herzeleid nicht zu verbergen, welches sich in schmerzlichen Zügen auf ihrem Gesichte ausprägte.
Unwillkürlich hatte der Künstler dies getreu nachgebildet, später aber, als er das Ungewöhnliche darin bemerkte, sich anders besonnen und seine Karyatide mit wehmütigem Lächeln dargestellt.
Mit diesen Spuren des Leids auf dem schönen Antlitze sollte sie Jahrhunderte überdauern und mit den Steinaugen herab auf die ganze Schar von Männern blicken, die wie ein Rudel gieriger Wölfe auf ihren Körper losstürzten, um ihn auf jede Weise auszubeuten.
Nur der kleine Kritiker konnte nicht unbefangen diese große traurige Gestalt anblicken, so scheute er die nackte Wahrheit, die ihm so rücksichtslos vor Augen geführt wurde.
Vielmehr schwärmte er für die wesenlose Gestalt der auf einem Felsblock lagernden Venus. Dies war für ihn der Gipfel aller Schönheit, das letzte Wort der Poesie. Nur so etwas wirkte auf ihn aufregend, fast sinnverwirrend, und mit der Menge berauschte er sich an der Wonnegestalt der mythologischen Göttin, die nur zweideutig ihre Reize verhüllte.
Käthe dagegen in ihrer üppigen, aber abgehärmten Gestalt, mit ihrem nicht koketten, sondern wehmütigen Lächeln, trat ihm, wie auch der Menge, urplötzlich vor Augen, wie ein Fragezeichen, als riefe sie ihnen zu: „Ich, ein vollentwickeltes Weib und eine junge Mutter, wurde dennoch mißhandelt, wie ein Vieh dafür, daß ich den Zweck erfüllte, zu dem ich geschaffen bin. Seht, wie ich leide, wie meine Lippen bitter sich beklagen, trotz ihres Schweigens. Meine Schuld ist groß, noch größer aber mein Leid. Ihr aber, die ihr mich in den Abgrund gestoßen, wo bleibt eure Strafe?…“
Eine ganze Woche also hatte Käthe schon im Atelier genächtigt und war immer ruhiger geworden.
Trotz der Besorgnis um die Zukunft schlief sie oft stundenlang ununterbrochen.
Der Taubstumme hing an ihr wie ein treuer Hund und bemühte sich auch auf alle Weise, ihre Lage zu erleichtern. Sogar seine letzte Decke überreichte er ihr mit feierlicher Miene. Sie dagegen teilte mit ihm alles Eßbare, was sie mitbrachte. So unterstützten und halfen sich gegenseitig diese beiden Ärmsten.
Jetzt schlief der kleine Stümper in einem Winkel schon auf der bloßen Erde und legte nur die Faust unter den Kopf.
Beim matten Scheine des auf dem Gestelle noch glimmenden Lichtstumpfes beobachtete er Käthe, bis sie sich zur Ruhe legte.
Nicht wenig beunruhigte ihn ihre Anwesenheit, und lange wälzte er sich an der Erde, bevor er einschlief. Gleichwohl wagte er niemals, sie zu berühren, solch eine Furcht und Achtung flößte sie ihm ein. So oft ihn auch die Lust anwandelte, ihre weiche Haut zu streicheln, wenn sie so rosig schimmerte in den Strahlen der Morgensonne, immer fürchtete er sich vor ihren kräftigen Fäusten.
Sie dagegen schien die Unruhe gar nicht zu bemerken, die sie unbewußt in ihm erregte. Müd und matt schon morgens stand sie auf und fragte, wie jener Dänenkönig täglich seine Höflinge: „Also morgen ist auch noch ein Tag?“…
An einem trüben, naßkalten Vormittage schlug der Regen an die Fensterscheiben im Atelier.
Käthe zitterte vor Frost, als sie fast unbekleidet mitten in diesem großen, hohem Raume stand.
Auch Wodniecki arbeitete nur langsam und in düsterer Stimmung, da er, ohnehin sehr reizbar, namentlich gegen Witterungswechsel sehr empfindlich war.
Selbst der Taubstumme hockte trübselig im Winkel, wie ein Hund, dem ein Hundewetter die gute Laune raubte.
Mit verdoppelter Wucht schlug der Regen an die Fenster. Die Scheiben trieften förmlich vom Wasser, welches in blinkenden Furchen herablief. Auch aus den nahen Dachrinnen plätscherte das Wasser in schäumender Kaskade hernieder.
Im ganzen Polytechnikum war alles öd und still, als hätten selbst die fleißigen Ameisen dort sich verkrochen vor dem Unwetter.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
Zitternd ließ Käthe die Arme herabsinken, als sie in dem Eintretenden – Frau Julias früheren Liebhaber erkannte. Ganz deutlich erinnerte sie sich noch jenes breitschultrigen Blonden, den sie einigemal bei mattem Laternenscheine gesehen.
Mit einem Lächeln der Befriedigung blickte er sie an. Das war für ihn keine üble Zerstreuung an solchem trüben, regnerischen Tage.
An toten Körpern fehlte es ihm nicht, da er sie Studien halber sezieren mußte. Um so mehr zog ihn solch lebender weiblicher Körper an, in dem das Blut so frisch pulsierte.
Schnell warf er den nassen Mantel ab und trat in die Mitte des Ateliers.
Dort begrüßte er den Künstler und überreichte ihm ein anatomisches Werk, dessen er für einige Tage bedurft. Dann setzte er sich auf einen Steinblock, zündete sich eine Zigarre an und nickte Käthe zu, die, allmählich wieder zu sich gekommen, ihre frühere Stellung wieder einnahm.
„Woher, zum Kuckuck, nahmst du diese Maschine?“ fragte er endlich den Künstler. „Das ist ja ein Haus, aber kein Weib!“
„Auf dem Markt kauft’ ich sie in einem Bündel Mohrrüben“, erwiderte jener trocken, ohne von der Arbeit aufzusehen.
„Ach, fasle nicht!“ rief lachend der Student. „Auf dem Markte kannst du sie schon aufgelesen haben, aber nicht unter Mohrrüben!“
Dann musterte er Käthe mit größter Aufmerksamkeit. Trotzdem erkannte er sie nicht, da er sie früher nur kurze Zeit und flüchtig gesehen.
Allerdings hatte er damals die Hand nach ihr ausgestreckt, als sie ihm den Auftrag ihrer Herrin überbrachte. Dies hatte er aber schon so oft bei anderen Weibern getan, deren Gesicht er nicht einmal erkennen konnte in der Dunkelheit. Daher erschien sie ihm völlig neu und unbekannt und seine zügellosen Sinne schwelgten in ihren üppigen Formen.
Unsägliche Qualen litt Käthe bei diesen Blicken. Kannte sie doch nur zu gut diese verzückten Männeraugen als die Vorboten einer Vertierung des Menschen. Daher zitterte sie schon bei dem Gedanken, daß sie einer solchen zum Opfer fallen könnte und fühlte sich unbeschreiblich erleichtert, als Wodniecki ihr das Ende der Sitzung ankündigte.
Da ihm die Arbeit heut nicht recht von der Hand ging, wollte er sie lieber auf später verschieben.
Nachdem Käthe von ihrem Platz herabgestiegen, mußte sie an dem Studenten vorübergehen, der dicht neben ihren abgelegten Kleidern saß.
Mit auf der Brust gekreuzten Armen wollte sie an ihm vorbeischlüpfen, ohne seine ausgestreckten Füße zu berühren.
Er aber sprang auf und umschlang sie mit den Armen, denen sie sich jedoch entwand, indem sie ihn weit von sich stieß mit aller Kraft, über die sie noch verfügte.
Der Student taumelte zurück auf den Steinblock, auf dem er bisher gesessen, fand aber zum Ausdrucke seines Erstaunens nur die Worte: „Ha! diese Bestie!“
„Ach! laß sie doch zufrieden“, rief ihm der Künstler zu, der sich zum Ausgehen anzog. „Sie ist schon elend genug!“
Anders aber dachte der Student.
Dieser Trotz fachte ihn nur noch mehr an und bestärkte ihn in seiner Absicht.
Solche Bettlerin wagte es, ihm zu widerstehen, ihm, der sogar in den Salons die Wahl hatte!
Und mit verdoppeltem Groll sah er ihr zu, wie sie sich ankleidete.
Ihre Lumpen waren zwar nicht gerade anziehend. Was aber fragt danach in der Leidenschaft ein Mann? Unter der zerlumpten Jacke hervor blinkte der weiße Arm. Das genügte, daß das Tier in ihm nicht einschlief! Ein Stück weißen Körpers, das ist alles, was solch ein Mann begehrt!…
Gleich darauf entfernte sich der Student mit dem Bildhauer, beschloß aber im Innern, bald zurückzukehren.
An der nächsten Straßenecke schon verabschiedete er sich und verschwand in einem engen Gäßchen, welches eine Art von Engpaß bildete. Von dort eilte er nach dem Atelier zurück und begegnete auf der Schwelle der soeben heraustretenden Käthe.
Als er sie hastig mit der Hand zurückhalten wollte, flüchtete sie sich ängstlich hinter die Statuen und ihr Gesicht ward vor innerer Aufregung ebenso bleich wie diese. Wußte sie doch nur zu gut, was dieser Mensch von ihr wollte, dessen Blick auf ihr wie ein Backenstreich brannte.
In wahrer Todesangst schmiegte sie sich an die stummen, kalten Steinbilder, als suche sie dort Schutz und Hilfe vor den Menschen, die sie in all ihrem Elend noch überfielen.
Tiefe Stille herrschte im Atelier.
Ohne ein Wort zu sprechen, standen die beiden eine Zeitlang einander gegenüber. Nur der Regen plätscherte an die Fenster, und immer keuchender wurde der Atem des Mannes, während Käthe, den ihrigen anhaltend und den Feind anstarrend, die Fäuste ballte, wie bereit zum Kampfe, den sie längst erlernt, wie ein heimatloses, hin und her gehetztes Wild.
Zuerst trat der Mann mit seltsamem, fast krampfhaftem Lächeln einige Schritte vor, und streckte, wie der Herr der Schöpfung, die Hand aus nach dem Wesen, welches, wie er sich vorgenommen, ihm zur Beute fallen sollte.
Sie aber hüllte sich hastig in ihre Lumpen und versuchte mit beiden Händen den Angriff abzuwehren. Ihre sonst etwas trivialen Gesichtszüge verschwanden vor dem Ausdrucke des Zornes und des Abscheues, der sie verzerrte. Die ganze Verachtung, die sich in ihrem kurzen, aber traurigen Leben angesammelt, prägte sich in den sonst halberloschenen Augen aus.
So blickte sie ihm starr in das Gesicht und nervös zuckten ihre Lippen. Fast glich sie einer Löwin, die auf den Jäger losstürzen will, um ihn abzuwehren.
Der Student jedoch beachtete dies gar nicht. Das Blut stieg ihm zu Kopfe und benahm ihm beinahe die Besinnung. Blindlings stürzte er auf sie los, um sein Ziel zu erreichen…
Doppelte Kräfte verlieh ihm die Leidenschaft. Hastig ihre ausgestreckten Arme beiseite schiebend, preßte er sie an sich.
Jetzt begann ein entsetzlicher Kampf, wie auf Leben und Tod, der schmachvollste, den je ein Mann zu führen vermag und bei dem das Blut in den Adern zu Eis erstarren müßte.
Während das Weib sich selbst, das eigene Ich, seinen Körper und alles, was noch sein Eigentum war, verteidigte, schlug der Mann die Unglückliche fast zum Krüppel und zerrte sie hin und her, ohne auf ihr Angstgeschrei zu achten, nur um sie zu entehren und in unauslöschliche Schmach und Schande zu stürzen…
Plötzlich stürzte mit markerschütterndem Gekreische hinter den aufgestellten Steinplatten der Taubstumme hervor und stieß auf die beiden einander Mißhandelnden wie ein Raubvogel hernieder. Mit seinen langen, dürren Fingern packte er das üppige Haar des Mannes und zerzauste es mit aller Kraft unter fortwährendem Geschrei.
Der rasende Schmerz zwang jenen sofort, Käthe loszulassen, die hierauf ohnmächtig zu Boden sank, während der Taubstumme voller Wut sich auf den durch den unerwarteten Angriff halbbetäubten Studenten warf. Mit affenartiger Geschwindigkeit zerkratzte er ihm das ganze Gesicht mit den langen Nägeln. Dies Mittel half.
Hastig verließ der Blonde das Atelier und warf die Tür hinter sich zu.
Erst unter dem strömenden Regen kam er wieder ins Gleichgewicht und eilte nach kurzem Verweilen auf dem Hofe nach Hause. Sorgfältig verbarg er das blutig zerkratzte Gesicht unter dem Regenschirm, aus Furcht vor irgend einer Begegnung.
Inzwischen lag Käthe noch immer krampfhaft zitternd und stöhnend auf der Erde, so hatte der Kampf ihre Kräfte erschöpft und ihren ganzen Körper erschüttert.
Vor der Unglücklichen kniete der Taubstumme und suchte sie zu trösten und zu beruhigen. Dabei heulte er wie ein treuer Hund, der das Leid seines Herrn mitfühlt und versteht. In die Augen traten ihm Tränen, und das ganze Gesicht drückte ungeheucheltes Mitleid aus.
Obgleich durch die Lumpen ihm Käthes blendendweiße Haut entgegenblinkte, berührte er sie nicht, sondern deckte zartfühlend sie zu und kniete wie zuvor und weinte bitterlich.
Dies war der einzige Mann auf Käthes Lebenswege, der nichts von ihr forderte, der eine Träne des Mitleids für sie übrig hatte, und der nicht mit viehischer Leidenschaft vor ihr erschien.
Dieser Mann aber war – bekennen wir die traurige Wahrheit – eben ein – Blödsinniger.
Tags darauf fühlte Käthe sich so krank, daß sie außer Stande war, Modell zu stehen.
Fortwährende Krämpfe schnürten ihr die Brust zusammen und zwangen sie, sogar das Stöhnen zu unterdrücken, welches sich mit aller Gewalt über die Lippen drängte. Dabei litt sie an heftigen Kopf- und Kreuzschmerzen.
Tiefbekümmert über ihren Zustand, stand sie ein Weilchen schweigend da und hielt die eben ausgezogene Jacke in der Hand.
Auch der Künstler saß düster und abgespannt auf einem Holzschemel. Das Unwetter zog sich in die Länge und wirkte ungünstig auf seine Nerven.
Ein Weilchen sah er Käthe an, dann nahm er die nassen Lappen, die seine Karyatide bedeckten.
„Du kannst schon gehen“, hob er an, seine Arbeit wieder verhüllend. „Wiederzukommen brauchst du auch nicht: du bist nicht mehr nötig!“
Nicht mehr nötig!
Allerdings! Welch kühle Abfertigung aber, nachdem er ihren Körper, den besten Teil ihres Wesens, so ausgenutzt!
„Jetzt kannst du gehen, bist nicht mehr nötig!“
Alles ließ sie hier zurück, das Schönste, was sie besaß als Bettlerin.
Ihr Körper wird ihm Ruhm einbringen, wer weiß, vielleicht auch eine Menge Geld. Sie aber, das Gerippe, das Gerüst, auf dem er sein Kunstwerk aufgestellt, – kann gehn, ist nicht mehr nötig!…
Schweigend wollte Käthe sich entfernen.
Wieder entging ihren Händen der Verdienst, den sie erwartet. Denn der Bildhauer hatte offenbar nicht die Absicht, seinem Modelle die so prahlerisch versprochenen drei Groschen für jede Sitzung auszuzahlen.
Ruhig saß er da und trällerte eine Walzermelodie vor sich hin.
„Komm auch nicht mehr hierher über Nacht“, fügte er hinzu. „Der Hausverwalter hat dich gesehen und mir Vorwürfe gemacht. Du könntest mich sonst irgend einem Verdachte aussetzen.“
Käthe erwiderte kein Wort.
Wieder verlor sie ihr Obdach über Nacht und wußte, daß sie wieder im Freien herumirren müsse.
Unwillkürlich schloß sie die Augen, wie beim Anblicke von irgend etwas Entsetzlichem, welches ihrer harre. Allmählich jedoch sammelte sie den Rest ihrer Kräfte und wankte nach der Tür.
Wodniecki sah in ihrer Langsamkeit die Erwartung der ihr mit Recht zukommenden Bezahlung und rief ihr nach mit herablassender Handbewegung: „Hör einmal, du, nach acht Tagen oder nach vier Wochen kannst du wieder zu mir kommen. Dann werd’ ich dir ein paar Gulden geben. Na, wirst du kommen?“
In diesem Augenblicke bedauerte er sie wirklich aufrichtig, diese zerlumpte, barfüßige Bettlerin, die in solchem Hundewetter in die Welt gehen mußte ohne einen Pfennig Geld und ohne sicheren Verdienst.
Diesen Morgen war er nur, wie er sich ausdrückte, selbst vollständig abgebrannt, weil seine Flotte noch nicht eingelaufen sei. Wäre er irgend bei Kasse gewesen, unzweifelhaft hätte er der Ärmsten etwas gegeben, die jetzt vor der Tür stand und mit Tränen in den Augen vor sich hin starrte.
„Vielleicht finde ich für dich noch irgend eine Beschäftigung“, fügte er hinzu mit eigentümlichem Lächeln: „Wenn du nur nicht schon so aus der Form geraten wärest!“
Alles übrige ergänzte sein Blick.
Eine Blutwelle überströmte Käthes Antlitz. Ohne den Scherz ganz zu begreifen, verstand sie doch im Nu dies Lächeln und diesen Blick und preßte mit nervöser Hast ihre Lumpen an sich.
Wie? So auffällig also sah sie schon aus, daß die Leute ihr nachgafften, ihr diese Schande in das Gesicht warfen oder sie auslachten? Wie von Sinnen lief sie hinaus aus dem Atelier, ohne sich noch einmal umzusehen.
Noch niemals fühlte sie ihre Schmach so tief wie jetzt. Bisher glaubte sie, ihr Zustand sei nur ihr selbst bekannt und ihre Schande noch nicht auf der Stirn ausgeprägt. Jetzt aber sahen und wußten es schon alle Leute! Wie sollte sie sich vor deren Spott und Verachtung verbergen?
Und, wenn das Kind auf die Welt käme, was sollte sie mit ihm anfangen und wie es ernähren?…
Als Käthe die Straße betrat, war es schon stockfinster. Lange kauerte sie an der Erde und zögerte und wagte kaum weiterzugehen und den Leuten in die Augen zu sehen.
Erst als sie sich mitten im Straßenlärm befand, mußte sie doch einen Entschluß gefaßt haben. Denn mit Fieberhast eilte sie nach der Vorstadt, in der sie früher gewohnt hatte. Mit glühenden Wangen, ihre Lumpen an sich pressend, lief sie so schnell, daß sie alle Leute anstieß.
Bald darauf stand sie vor der Tür jenes Hauses, das ihr so wohlbekannt und vordem so teuer war. Ihr Blick versenkte sich in den dunklen Hausflur, den sie doch nicht zu betreten wagte.
Offenbar suchte sie in ihrer höchsten Aufregung Johann. Vielleicht wollte sie sich rächen für all die Kränkungen, die er ihr zugefügt, seit sie ihn kennen gelernt hatte.
Nichts Gutes verkündeten die krampfhaft zusammengepreßten Lippen. Denselben Gesichtsausdruck zeigte sie, wie damals, als sie Rosa bei den Haaren faßte, da droben in der dunklen Bodenkammer.
Endlich erhob das lange mißhandelte Tier in ihr das Haupt und suchte den Urheber seines Unglücks und lauerte ihm auf, wie ein schwer verwundetes Raubtier.
Lang stand sie so, da kam Mary aus der Haustür und bemerkte beim matten Laternenschein die dort regungslos stehende zerlumpte Gestalt, die sie sofort an Käthe erinnerte.
Hastig näherte sie sich ihr und erkannte wirklich den „Mehlsack aus dem dritten Stock“. Obwohl Käthe nicht eben erfreut über diese Begegnung, sich ängstlich abwandte, faßte Mary sie am Rock und rief: „Käthe, du bist es? Was willst du hier?“
„Fräulein“ sagte sie nicht mehr zu ihr, wie früher, da sie fühlte, dies sei lächerlich gegenüber einer so zerlumpten Erscheinung.
Käthe zog nur die Brauen zusammen und blickte sie finster an, erwiderte aber kein Wort.
„Suchst du etwa Johann hier, den Galgenstrick?“ fragte Mary, mit weiblichem Scharfsinn erratend, weshalb Käthe hierher kam. „Da kannst du lange suchen! Schon längst haben wir einen andern Portier und jener Lump ging in einen anderen Dienst. Wegen seiner ewigen Liebschaften in allen Stockwerken, bald mit dieser, bald mit jener, jagten sie ihn fort, und mit vollem Rechte. Mag er die Mädchen hier in Ruhe lassen und nicht so ins Unglück stürzen, dieser Nichtsnutz!“
Traurig ließ Käthe den Kopf hängen, als sei alle Rachgier in ihr verweht. Im Herzen empfand sie nur das tiefste Weh, daß Johann sie so betrogen, während sie so schwer, so unsäglich schwer zu leiden hatte…
Endlich zog Mary sie zur Haustür hinein und erzählte ihr von ihrer immer zunehmenden Krankheit und dem trockenen Husten, der sie jede Nacht so quälte. Dann wandte sie sich mit der ihr eigentümlichen Veränderlichkeit zu Käthe und suchte alles von dieser zu erfahren, was ihr seit ihrer Verhaftung begegnet war.
Halb ohnmächtig sank Käthe zu Boden, und heiße Tränen entrannen ihren Augen.
Jetzt lag sie auf derselben Stelle, auf der sie sich Johann an jenem Herbstabende hingegeben hatte, als sie, mißhandelt und durchnäßt, wie ein Vieh, dem vermeintlichen Geliebten zu Füßen gefallen war.
„Sei doch nicht so dumm! Ich will dich ja heiraten!“
Diese Flüsterworte schienen ihr noch unter der Wölbung des Hausflurs in der Luft zu schweben, dieselben, die sie damals umwehten zugleich mit seinem heißen Atem und die sie willenlos machten gegenüber seinem Willen…
Mitleidig neigte sich Mary über die Weinende und hörte geduldig die ganze Wahrheit mit an.
Käthe beichtete ihr nach und nach all ihr Elend und war glücklich, endlich jemandem all ihr Leid klagen zu können. Sogar ihren Zustand verhehlte sie nicht vor Mary, die diese Nachricht als ganz selbstverständlich aufnahm.
„Wie konnte es auch anders kommen?“ fragte sie mit naiver Rücksichtslosigkeit. „Das ist einmal die Strafe für jede, die sich nicht ordentlich aufführt.“
Und nach einigem Nachdenken fuhr sie fort: „Und was gedenkst du jetzt zu tun?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Käthe achselzuckend. „Ich müßte denn ins Wasser gehen. Denn ich habe keinen Anhalt mehr und weiß nicht, wo ich mein Haupt niederlegen soll.“
„Ins Wasser?“ rief Mary, „du bist wohl nicht klug? Das würdest du doch nicht tun?“
„Weshalb nicht?“
„Aus Furcht! Ich stand auch schon einmal am Teiche, weißt du, da draußen – mich ergriff aber solche Angst, daß ich spornstreichs wieder nach Hause lief. Du aber würdest ebenso zittern; denn das Wasser ist so schwarz wie Schuhwichse und man erschrickt schon, wenn man es nur ansieht!“
Käthe bestritt das nicht; Mary hatte gewiß ganz recht. Man spricht so gern vom Tode; wenn’s aber soweit kommt, schreckt man davor zurück. Sicher hätte auch sie nicht den Mut, ins Wasser zu springen, wenn ihn nicht einmal Mary hatte.
Mit praktischem Sinn überlegte Mary, was wegen Käthes Zukunft zu tun sei.
Durchaus wollte sie dieser Unglücklichen helfen, die zermartert und zitternd hinter der Haustür lag.
Nachdem sie sich über den Stand ihrer Kasse und alles Übrige befragt, kam ihr plötzlich ein Gedanke in den Sinn, der sich jetzt als einziger Rettungsanker erwies. Mit strahlendem Blicke rief sie: „Weißt du was? Ich führe dich zu Frau Schnaglow.“
„Wer ist das?“
„Eine ganz ordentliche Frau, die dich aufnimmt und verpflegt in den Wochen. Komm nur, sie wohnt nicht weit von hier!“
„Ich kann sie aber doch nicht bezahlen.“
„Ach, du Närrin! Das bezahlen allein die Herrschaften. Wir gehen auf Pump. Sobald du wieder gesund bist, wirst du irgendwo Amme und wer dich mietet, bezahlt deine Schulden. Verstanden?“
Ja! Jetzt leuchtete Käthe alles ein.
Daß sie Schulden machte, war Nebensache, wenn sie nur wieder ein Dach fand und ein Stück Brot und eine Windel für das Kind.
Wer weiß, vielleicht finden sich dann auch mitleidige Leute, die ihr erlauben, das Kind bei sich zu haben, sodaß sie sich nicht ganz von ihm zu trennen braucht!
Gern also erhob sich Käthe und folgte Mary auf die Straße.
Der Weg von der Vorstadt nach der Wohnung jener Frau war nicht weit, und Mary wollte die Freundin dort einführen und empfehlen.
Ihre Herrin war ausgegangen, also hatte sie den Abend frei und konnte ihn dazu verwenden, die Lage ihrer einst so verhaßten Nebenbuhlerin zu verbessern.
Bald hatten sie beide den Stadtwall erreicht. Blütenduft würzte die Luft des Frühlingsabends.
Auf dem Walle war alles öd und still. Nur im Schatten der Gräben huschte ab und zu ein Liebespärchen vorüber.
Rings herrschte eine Dunkelheit wie auf dem Lande, nirgends unterbrochen vom matten Schein einer Gaslaterne.
Hier und da blickte durch das Gebüsch ein Lichtchen aus den dahinter verborgenen kleinen Häusern, die in langer Reihe, höher oder niedriger, je nach dem Vermögensstande ihrer Besitzer, am Wege aufschossen wie Pilze mit flachen Hüten.
Vor einem dieser Häuschen blieb Mary stehen. Da es auf einer kleinen Anhöhe stand, führte eine Holztreppe empor.
Nur klein und niedrig war es, fast in die Erde eingesunken.
Rings von Bäumen umgeben, verschwand es beinah im zarten Frühlingsgrün.
Die Fenster waren matt erhellt.
Eines derselben war dicht mit einem Laken verhängt, durch dessen zerrissenes Gewebe bleiche Lichtstrahlen in Form eines Kreuzes auf dunklem Hintergrunde drangen.
Als Käthe von der morschen Holztreppe aus dieses Fenster bemerkte, vermochte sie den Blick davon nicht abzuwenden…
Zwei Frauengestalten standen dicht beieinander und flüsterten.
Bei der nächtlichen Stille verstand jedoch Käthe die Worte: „Nehmen Sie davon die Hälfte morgens und abends. Hat es nach drei Tagen nicht geholfen, so kommen Sie wieder. Dann geb’ ich Ihnen das Doppelte.“
„Da ist ja die Frau selbst“, flüsterte Mary und zog Käthe am Rocke.
„Guten Abend, Frau Schnaglow“, fügte sie dann laut hinzu. „Hier bring’ ich Ihnen ein gutes Geschäft, mit dem Sie zufrieden sein werden!“
Sofort prallten die beiden auseinander.
Die eine blieb an der Haustür stehen, die andere eilte nach der Holztreppe und stieß mit der eben dort emporsteigenden Käthe fast zusammen. Sie war fein gekleidet und die Jetperlen ihres Umhanges blinkten in der Dunkelheit, wie Johannis-Würmchen. Sorgfältig verhüllte sie das Gesicht mit den von langen, schwarzen Glacés bedeckten Händen.
Verächtlich lächelte Mary, als sie an ihr vorüberging.
„Das ist auch so eine“, murmelte sie. „Mag die Schnaglow sie nur gehörig rupfen, denn solch ein Satan kann gut bezahlen!“
Inzwischen war Frau Schnaglow aus dem Schatten unter das erhellte Fenster getreten und Käthe sah deren kleine, hagere Gestalt mit dunklem Aug’ und Haar und fahler Gesichtsfarbe vor sich.
Schlicht, fast ärmlich gekleidet, sah sie aus, wie eine einfache Handwerkersfrau, die die Heimkehr ihres Mannes erwartet. In der Hand hielt sie ein kleines Fläschchen mit einer bräunlichen Flüssigkeit, welches sie vor Marys forschenden Blicken ängstlich verbarg.
„Na, Fräulein“, fragte sie gelassen. „Wen bringen Sie mir da?“
Dabei bemühte sie sich, in der Dunkelheit etwas zu unterscheiden.
„Meine Verwandte“, erwiderte Mary. „Nehmen Sie die Käthe in Pflege; später dient sie alles ab. Übrigens, sehen Sie nur, welch eine Maschine dies ist: sie wird einmal eine gute Amme und Ihnen viel Geld einbringen.“
„Treten Sie einmal näher, Fräulein, hierher!“ sagte die Frau, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Halb geschoben von der Freundin, trat Käthe dicht vor sie hin, und ein Lichtschein aus dem Fenster streifte ihre verkommene Gestalt.
Zitternd und demütig stand sie da und wurde immer bleicher vor den prüfenden Blicken der Frau.
Konnte sie doch auch von hier wieder vertrieben oder gar nicht aufgenommen werden in dieses Häuschen, wo es doch ruhiger zuging, als da draußen in jenem Gebüsch.
Frau Schnaglow aber erriet mit Kennerblick, daß dies große, kräftig gebaute Mädchen für sie ein glänzendes Geschäft abwerfen werde.
Unbezahlbar erschien ihre Käthe gerade jetzt, da es an tüchtigen Ammen immer mehr mangelte.
Nach kurzem Überlegen öffnete sie also die Tür und rief fast befehlend: „Treten Sie nur ein, Fräulein!“
Und Käthe überschritt diese Schwelle, die sie so heiß ersehnte, wich aber unwillkürlich zurück, als sie dort der gedämpfte Schmerzensschrei eines Weibes begrüßte.
Dieser Schrei drang aus einem Stübchen, dessen Tür fest verschlossen war und zu dem nach Käthes Berechnung jenes mit dem zerrissenen Laken verhängte Fenster gehörte.
Wer konnte dort so schmerzlich stöhnen hinter jenem bahrtuchähnlichen Vorhange mit dem Zeichen des Kreuzes?
Ängstlich lauschend, erriet Käthe mit weiblichem Instinkte nur zu bald die Bedeutung dieses Klagelautes, während Frau Schnaglow, mit dem Gesicht nach außen gewandt, noch mit der vor der Tür stehenden Mary sprach.
Plötzlich wurde die Tür jenes Stübchens aufgerissen und mitten auf den Hausflur lief ein kaum vierzehnjähriges Mädchen, barfuß und in zerlumptem Röckchen.
Ohne Käthe zu beachten, eilte die Kleine auf Frau Schnaglow zu, zupfte sie am Kleide und rief: „Mama! Komm schnell! Es ist tot!“
„Schrei nicht so“ erwiderte das Weib und wandte sich dem Stübchen zu. „Da nimm den Kommodenschlüssel, hole mir Papier und Stecknadeln und koche Kamillentee für die Kranke.“
Dann verschwand sie durch die Stübchentür, während die Kleine nach der anderen Seite des Hauses rannte.
Von allen vergessen, lehnte Käthe sich an die Wand und starrte vor sich hin.
Rings war es mäuschenstill.
Auch das Stöhnen war verstummt, und man hörte nur Frau Schnaglow im Stübchen herumwirtschaften.
„Es ist tot!“
Gewiß das Kind, welches das Weib hinter einer Tür mit Schmerzen gebar!
Eine Leiche also begrüßte Käthe an der Schwelle dieses Hauses, wenn auch nur die eines Kindes, welches das Licht der Welt nicht erblicken sollte, aber dennoch gelebt hatte im Schoße der Mutter und Freud’ und Leid mit ihr geteilt…
Unwillkürlich preßte Käthe die Hände auf die Brust. Sollte auch sie solange leiden, um endlich nur – eine Leiche zur Welt zu bringen?
Das Aufreißen der Tür und das Rascheln von Papier erweckte sie aus ihrem Sinnen.
Wie ein Pfeil schoß die kleine Barfüßige an ihr vorüber und klopfte an die Stubentür. In der Hand trug sie einen großen Bogen Packpapier und ein kleines Sametkissen mit Stecknadeln.
Außer Frau Schnaglow erschien jetzt noch eine zweite Gestalt in der Tür, und zwar ein großes, üppig gebautes Mädchen in verschossenem Rosakleide, ebenfalls barfuß, aber mit hochfrisiertem Haar und blauem Kopfputz.
Wie eine Königin schritt sie durch den Hausflur, ein Büchlein mit schwarzem Holzschnitt auf dem Titelblatt in der Hand haltend.
„Nicht einmal meine ‚Isabella’ kann ich zu Ende lesen bei Eurem Heidenlärm! Verhaltet Euch doch etwas ruhiger und stört mich nicht immer!“ rief sie mit gebieterischer Stimme.
Die beiden anderen aber beachteten das gar nicht. Frau Schnaglow griff hastig nach Papier und Nadeln, schloß hinter sich die Stübchentür und flüsterte der Kleinen zu: „Madi, lauf in den Garten! Ich reiche dir’s durch’s Fenster hinaus!“
Die Liebhaberin spanischer Romane hatte sich inzwischen wieder entfernt.
Auch Madi war hinausgelaufen, ohne sich um Käthe zu kümmern, die noch immer an der Wand lehnte und teilnahmslos zu Boden starrte.
Nach einigen Minuten regte sich jedoch auch in ihr die weibliche Neugier. Vorsichtig schlüpfte sie nach der Haustür und blickte hinaus.
Unter jenem verhüllten Fenster stand Madi und pfiff einen Walzer. Augenscheinlich erwartete sie etwas. Denn sie streckte weit die Arme aus und ihre Finger zitterten vor Ungeduld.
Bald darauf wurde das Fenster geöffnet und auch das Laken unten etwas zurückgeschoben.
Madi griff hastig nach einem ziemlich großen, in Packpapier eingewickelten und mit Bindfaden zugeschnürten Gegenstande, der dicht unter dem erleuchteten Kreuze aus dem Fenster herausgereicht wurde.
„Trag’s nur ja nach den neuen Gruben!“ flüsterte ihr dort Frau Schnaglows Stimme zu.
Schnell barg Madi das kleine Paket unter der zerrissenen Schürze und sprang wie ein Böckchen, immer noch ihren Walzer pfeifend, davon, bis sie im Gebüsch hinter dem Häuschen verschwand.
Dann wurde das Fenster geschlossen und das Laken wieder zugeschoben.
Noch lange aber starrte Käthe nach jenem hellen Kreuz.
Was mochte sich dahinter verbergen?
Nur Unglück und Schande oder gar ein Verbrechen?…
Allmählich wunderte sich Käthe über nichts mehr, was um sie her vorging.
In den ersten Tagen ging sie wie irrsinnig herum und stieß alle Augenblicke an irgend ein bleiches, kränkliches Weib, welches im Hause umherschlich, sogar in der Nacht.
Oft auch waren es mehrere, wie eine ganze Prozession mit den Fahnen des Unglücks und des Elends.
Nicht selten auch erschienen feine Damen, umweht von Heliotropenduft, das Antlitz hinter dichtem Schleier bergend. Beim Überschreiten der hohen Schwelle rafften sie die rauschenden Seidenkleider auf und die gelben Sommerstiefelchen schillerten wie Falterflügel auf dem dunklen Hausflur.
„Liebste, einzige Frau“ nannten sie die Schnaglow, und mit zitternder Stimme verabschiedeten sie sich von ihr mit freundlichem „Auf Wiedersehen!“ wünschten aber gewiß nichts sehnlicher, als niemals in dies kleine Haus zurückkehren zu brauchen.
Frau Schnaglow geleitete sie stets bis zur Holztreppe, um, sich fast bis zur Erde verneigend, mit zischender Stimme ihnen nachzurufen: „Seien Sie ganz unbesorgt, Gnädige!“
Mit den ärmeren Weibern gab sie sich weniger Mühe.
Manch bleiches, abgehärmtes Mädchen wies sie ohne Erbarmen von der Tür.
„Bei mir ist doch kein Spital!“ rief sie dann, bereitete schnell einige Pulver und schüttete sie in die bereit gehaltenen Kapseln.
Daß sie eine Ausländerin war, verriet schon ihre Sprache. Auch die Namen Madi und Fina waren nur auf Wiener Pflaster gebräuchlich. Woher aber dies Weib eigentlich kam, welches in kurzer Zeit sich hier ein Häuschen und sogar ein Stück Land erwarb, das wußte niemand.
Jedenfalls kam sie arm und elend an mit zwei kleinen Mädchen und, nachdem sie das Häuschen anfangs nur gemietet, hing sie dort ein Schild mit einem verblichenen „Auge der Vorsehung“ auf blauem Felde heraus mit der Inschrift:
„Frau Schnaglow, Hebamme.“
Dies war ihre ganze Empfehlung.
Nach und nach jedoch zog sie eine bedeutende Kundschaft an sich und verdiente, wie es hieß, eine Menge Geld.
Ohne vor einem Verbrechen zurückzuschrecken, verbarg sie bei sich jede Schande und nach rechts und links verabreichte sie mörderische Mittel.
Was später geschah, war ihr gleichgültig, wenn nur reichlich bezahlt wurde, und zwar im voraus.
So manche Matrone im Silberhaar erschien bei ihr, um ihr einziges Kind vor der hellen Schande zu bewahren.
Schnell richtete die Schnaglow irgend ein Stübchen ein, und in Nacht und Nebel kehrte dann die unglückliche Mutter mit ihrem bleichen, fast verzweifelnden Kinde zu ihr zurück.
Nach Verlauf einiger Monate aber holte sie es wieder dort ab, um es später im Brautschleier und im Myrtenkranze irgend einem ihr vertrauenden Manne zur Gattin zu geben.
So bargen sich Schande und Unglück gefallener Weiber und alle Gemeinheit treuloser Männer unter dem Dache dieses jetzt im frischen Grün des Frühlings verborgenen Häuschens.
Jenes Weib mit den ruhigen, dunklen Augen und dem glattgekämmten Scheitel verbreitete von dort aus Mord und Verbrechen, schickte nachts geheimnisvolle Pakete unter der Schürze ihrer unmündigen Tochter fort, – tötete junge Leben schon im Mutterschoße! Und dies alles tat sie gegen reichliche Bezahlung, die zukünftig die Mitgift ihrer eigenen Kinder werden sollte.
Diese Mädchen aber waren zwei ganz verschiedene Wesen.
Die Ältere war von ungewöhnlicher, beim ersten Blicke fast blendender Schönheit. Eine üppig gebaute Brünette, hatte sie alle Fehler und Neigungen eines zum Falle geschaffenen Weibes.
Tagelang hockte sie über einem Roman und wühlte mit der weichen Hand im Lockenhaar. Am liebsten ging sie barfuß und liebte vor allem Flieder- und Rosenduft. Meist trank sie die Weinsuppe aus, die für wohlhabendere Kranke bestimmt war, und machte sich auch kein Gewissen daraus, deren gebratene Hühnchen abzuknabbern.
Vorwiegend las sie spanische Novellen, aber auch englische Romane in beliebiger Übersetzung rührten sie auf das Tiefste.
Wenn sie ausging, putzte sie sich wie eine Puppe und tuschte sich die Brauen.
Das schändliche Gewerbe ihrer Mutter verabscheute sie, obgleich sie oft in aller Ruhe ihren Roman beim Röcheln irgend einer sterbenden jungen Mutter auslas.
Niemand im Hause konnte sie wegen ihrer Hoffahrt und Selbstsucht ausstehen. Fina aber zuckte darüber nur die Achseln und hielt das Haus nur für eine Art von Vorhalle des Palastes, in dem sie, nach ihrer Meinung, ihr Leben hinbringen sollte.
Inzwischen trank sie täglich ihren Wein, stahl den Kranken die Parfüms, wechselte täglich die Farben der Strumpfbänder und las Romane.
Madi, die Jüngere, die den Walzer an jenem Abende pfiff, war der vollständige Gegensatz ihrer Schwester.
Auch sie versprach für die Zukunft eine ungewöhnliche Schönheit zu werden, war aber jetzt noch ein magerer, halbwüchsiger und dabei zerlumpter und barfüßiger Backfisch.
Überaus lebhaft und immer geschäftig, voller Pläne und Einfälle und von der Mutter in alle Geheimnisse eingeweiht, trieb sie sich den ganzen Tag im Hause herum und zirpte wie ein Heimchen.
Mit einer bei einem solchen Kinde seltenen Ausdauer beschäftigte sie sich mit den Kranken, beaufsichtigte sie und schrieb ihnen die Diät vor und sogar manche Arzneien.
Die Mutter vertraute ihr blindlings und rief sie selbst in schwierigen Fällen manchmal zu Hilfe.
So oft sie ausging, beruhigte sie alle mit den Worten: „Madi wird bei euch bleiben.“
Und – wie seltsam – die Kranken schlossen sich ungemein leicht an die Kleine an, die immer lachend und lustig sich ihren Betten näherte und wenn sie bleich vor Angst und Schmerz dalagen, sie voller Übermut fragte: „Wollt ihr einen Kautschukmenschen sehen?“
Und dann bog und renkte und reckte sie sich in die possierlichsten Stellungen, als ob sie wirklich nichts als ein Stück Kautschuk sei.
Madi kannte keinen Unterschied unter den Kranken ihrer Mutter. Oft stahl sie der reicheren zu Gunsten der ärmeren die Apfelsinen oder den Fruchtsaft und steckte dies der ärmsten und verlassensten unter den Strohsack.
Oft auch half sie, da sie alle Künste der Mutter kannte, ganz im Geheimen irgend einer armen Dulderin und handelte dabei ganz auf eigene Faust, nur aus gutem Herzen.
Aufgewachsen in dieser Atmosphäre des Verbrechens, hielt sie dies für ein gutes Werk und pfiff noch einmal so lustig, wenn es ihr gelang, auf eigne Rechnung irgend ein Mittelchen zuzubereiten.
Die Schwester haßte sie, nannte sie nur die „Prinzessin“ und verbrannte ihr die Romane, wenn sie ihr in die Hand fielen. –
Außer diesen beiden Mädchen befanden sich im Hause noch drei Kinder, arme, in Schande geborene und hier untergebrachte Waisen, deren Pflege die Schnaglow übernommen hatte.
Das älteste zählte kaum drei Jahre und das jüngste nur einige Monate.
Letzteres lag bleich und abgezehrt beständig in der Wiege dicht am Ofen, ab und zu winselnd wie ein blindes Hündchen, obgleich es sich anscheinend der größten Rücksicht seiner Pflegerin erfreute, weil diese regelmäßig bezahlt wurde und die Mutter jeden Sonntag zum Besuche kam und stundenlang an der Wiege saß. Eine junge abgehärmte Lehrerin, die von ihrem Brotherrn betört wurde, ihr Kind aber über alles liebte und für dasselbe zärtlich sorgte.
Fast die Hälfte ihres Monatsgehaltes bezahlte sie für die Pflege und widmete dem Kinde jeden freien Augenblick.
Nur Sonntags wechselte die Pflegerin die Wäsche und badete das Kleine in warmem Wasser, stellte auch immer frische Milch, Zucker und Reiswasser auf die Kommode.
An den übrigen Tagen aber erhielt das Kind nur verdünnte, schon säuerliche Milch mit Kamillentee, und die Sauberkeit der Wäsche ließ viel zu wünschen übrig.
Wußte doch die Schnaglow, daß die Lehrerin alltags nicht kommen und das Kind sich noch nicht beklagen konnte!
Madi aber hatte so viel im ganzen Hause zu tun, daß sie dem armen Wesen nicht ihre besondere Aufmerksamkeit widmen konnte.
Ab und zu nur nahm sie es auf den Arm und schwang es hoch, wie eine Puppe und sang dabei irgend einen Wiener Gassenhauer.
Die beiden anderen Kinder halfen sich so gut sie konnten und krochen bleich und blutarm im Hause herum mit ihren Kartoffelbäuchen und kürbisgroßen Köpfen.
Den ältesten dreijährigen Knaben hatte die Mutter längst vergessen. Sie war aus der Stadt gekommen und nach der Geburt des Kindes dahin zurückgekehrt und hatte dann nichts mehr von sich hören lassen. Als Tochter irgend eines Handwerkers hatte sie sich gewiß später verheiratet, um eine musterhafte Familienmutter zu werden…
Frau Schnaglow war öfters in ihrer Art höchst ärgerlich über die ihr aufgebürdete Last, obgleich sie sich so gut wie garnicht um das Kind kümmerte.
Still und schüchtern, nährte dasselbe sich hauptsächlich von Knochen- und sonstigen Abfällen und aß alles, was es irgendwo an der Erde fand, wie ein herrenloses Hündchen. Niemals erinnerte es an das Essen, als fühle es, daß es in diesem fremden Hause weder einen Platz am Tische noch ein Recht dazu habe.
Niemals lachte dieses bleiche Kind mit den großen blauen Augen und immer verkroch es sich in die dunkelsten Winkel, nur um Fina nicht zu begegnen, die es förmlich haßte.
Als es einst, auf der Treppe herumkriechend, sich an ihrem Kleide festhielt, während jene „Martin, das Findelkind“ las, stieß sie es mit dem Fuße die Stufen hinab.
Seitdem ging der Kleine diesem Fräulein aus dem Wege, weil es ihn immer so bös ansah.
Das mittlere Kind, ein blondes skrophulöses Mädchen, saß tagelang im Garten auf dem Sande und wärmte die krummen Beinchen und den geschwollenen Hals in der Sonne.
Auch dies Kind war eine Waise, deren Mutter im selben Hause nach entsetzlichen Qualen gestorben war. Nur wie durch ein Wunder erhielt es sich am Leben, und da auch die Mutter gänzlich verlassen und noch dazu in tiefes Geheimnis gehüllt war, wußte niemand, wohin es geschickt werden könnte.
Im Hause behielt man es nur noch in der Hoffnung, es werde vielleicht doch noch jemand sich melden und die Pflegekosten bezahlen.
Die Aufsicht über diese Kinder führte Madi. Sie allein leitete deren Erziehung und verteilte unter sie die Lumpen, die ihre elenden Körper bedeckten.
So oft die Krankenpflege ihr freie Zeit ließ, widmete sie dieselbe mit vollem Eifer den Kindern.
Zum Glück für diese kam dies nicht allzu häufig vor. Denn sobald es geschah, erschallte Kindergeschrei im ganzen Hause, weil Madi die Kleinen mit Sand oder Ziegelmehl abscheuerte, oder ihnen Haarwickel drehte bis auf die Haut oder die Skrophelbeine gewaltsam grade zu recken versuchte.
Dies alles tat sie in bester Absicht, bereitete aber, da sie es immer übertrieb, den armen Kindern wahre Tantalusqualen.
Erkrankte eines von ihnen, so versuchte sie an ihm all ihre Hausmittel, auf die sie volles Vertrauen setzte.
Bei solcher Behandlung, oft mit giftigen Tränken, die sie den Kindern mit Gewalt einflößte, war es fast als ein Wunder anzusehen, daß die armen Wesen ihr elendes Dasein noch so mit hingeschleppt hatten.
So glichen sie Gliederpuppen, auf Gnade oder Ungnade einem halbwüchsigen Mädchen überlassen, oder jungen Hunden, gefüttert mit Küchenabfällen, an der Leine geführt und gebettet auf halbverfaulter Streu, welche die Luft verpestete.
Oft erhob sich unter den Lumpen hervor, welche die Bettdecke vorstellen sollten, ein Köpfchen, geschmückt mit den Haarwickeln, welche Madi ihm tags vorher in übermütiger Laune gedreht hatte.
Frau Schmaglow übernahm auch die Unterbringung der in ihrem Hause geborenen oder aus der Stadt dorthin gebrachten Kinder.
Dann erschienen, wie auf Beschwörung, unheimliche Bauernweiber mit eingesunkener, welker Brust, deren Nahrung längst versiegte. Und trotzdem übergab sie ihnen ohne Bedenken die ihr anvertrauten Kinder zur Pflege und feilschte mit ihnen über die Bezahlung, die zur Hälfte meist in ihre Tasche fiel.
Dann entfernten sich die Weiber mit den weinenden Kindern und einem Paketchen Zucker oder auch Kaffee, um sich nur ab und zu mit den abgemagerten, schmutzigen und trübseligen Kleinen wieder vorzustellen.
Ohne ihnen jemals hierüber Vorwürfe zu machen, warf die Schnaglow nur einen flüchtigen Blick auf die elenden Wesen, die sich stumm, aber nicht minder schmerzlich bei ihr beklagten.
Und so schnell wie möglich fertigte sie dann die Weiber ab mit der Bezahlung.
Genügte ihr doch die Tatsache, daß das Kind noch – lebte.
Aus Vorsicht aber bezahlte sie niemals im voraus: mit Rücksicht auf den Tod des Kindes, welcher in zehn Fällen mindestens sechs- bis siebenmal erfolgte.
Dann berechnete sie genau die Tage und wußte mit größter Schlauheit jedem Weibe, welches sie betrügen wollte, die Wahrheit zu entlocken.
Sie dagegen verriet diese Wahrheit keineswegs der für das Kind sorgenden Person, und das arme Wesen schlief oft längst unter dem Rasen, während das Pflegegeld noch immer fortgezahlt wurde, um die Mitgift Finas und Madis zu vergrößern.
Die Geschichte von der Wahrheit und dem Ölbaume bewährte sich nicht unter dem Dache dieses Hauses.
Mit größter Schlauheit wurde dort alles verborgen.
Bei Nacht und Nebel wurden die Leichen der Neugeborenen in die Lehmgruben nahebei geworfen.
Nicht selten starb dort ein Weib an den Folgen der im Übermaß angewandten Gifte.
Man mißhandelte und ließ halb verhungern lebende Wesen, für welche die Mütter ihren blutsauer verdienten Lohn zahlten.
Man schickte Kinder in den sicheren Tod, in elende Hütten voller Feuchtigkeit und giftiger Dünste.
Man feilschte mit lebendem Fleisch in Gestalt von Ammen, die man festhielt durch die aufgelaufene „Schuld“.
Und trotzalledem war alles still und ruhig rings um dies kleine Haus.
Blütenweiß lugte der Flieder durch die matten Fensterscheiben, hinter denen so Entsetzliches geschah.
Rings rauschten die Bäume und wiegten das junge Laub und zwitschernd begrüßten die Vöglein den Sonnenaufgang.
Wie eine abgesonderte, verzauberte Welt erschien dies Häuschen, frei von allen Polizeivorschriften, Gewissensbissen und Kriminalgedanken.
Zweideutig lächelte Frau Schnaglow bei Erwähnung der Polizei und Madi pfiff dann um so lauter den frömmsten Choral der Burgmusik.
Käthe gewöhnte sich allmählich an ihre Umgebung.
Frau Schnaglow vertauschte ihr die Lumpen mit Finas abgelegten Kleidern, die zwar vorn zu kurz waren und hinten schleppten, immerhin aber doch ganz und sauber waren.
Madi gab ihr dazu noch ein Jäckchen, welches sich jedoch für Käthes breite Schultern als zu eng erwies. Man bedeckte daher diese mit einem Tuche von schwarzem Kammelot, welches von dem roten Flanelljäckchen auffallend abstach. Nur Madi war entzückt über dies ihr Werk und versicherte, so etwas gebe es nicht einmal in Wien.
Mit dankbarem Lächeln nahm Käthe diese Spenden an. So glücklich war sie, als sie die häßlichen Lumpen endlich los war, daß ihr Madis Jäckchen wie ein königlicher Schmuck erschien.
Frau Schnaglow begann jetzt sie förmlich zu mästen und gab ihr die ihrem Zustande entsprechende kräftige Kost.
In großen Schüsseln ließ sie durch Madi allerlei Speisen mit kochender Milch mischen und rief ihr dann zu, indem sie die Schüssel auf die Bank stellte: „Na, jetzt iß dich satt!“
Während Käthe aß, verfolgte sie schweigend und regungslos jede ihrer Bewegungen.
Sobald Käthe als gesättigt sich erhob, zwang sie mit befehlender Gebärde sie immer wieder zum Essen.
Auf der anderen Seite stand mit dem dampfenden Milchtopfe Madi und goß bei jedem Winke der Mutter die Schüssel wieder voll mit der Miene einer Landwirtin, welche Jungvieh mästet.
War doch für die beiden auch Käthe nichts anderes, als eine Ware, die sie binnen einiger Monate nach Gewicht und Futterzustand loswerden wollten.
Allmählich kam Käthe doch dahinter.
Während sie anfangs halb ausgehungert, da sie selbst bei Budowskis nur schlechte Kost hatte, gern und viel aß, widerte sie nach und nach diese Aufdringlichkeit der beiden förmlich an und sie begriff gar nicht deren Ärger über den ab und zu bei ihr eintretenden Mangel an Appetit.
Frau Schnaglow biß dann die Zähne zusammen und befahl ihr mit zischender Stimme Gehorsam. Madi dagegen verhehlte ihr gar nicht den Zweck, weshalb man sie so reichlich fütterte. Und mit stummer Ergebenheit fügte sich Käthe in ihr Schicksal. Überdies war dies bei weitem noch nicht das Schlimmste. Hunger und Elend waren doch viel empfindlicher. Also ließ sie sich ruhig weiter mästen.
Leider aber gelang ihnen dies durchaus nicht nach Wunsch. Käthe wurde von Tag zu Tag bleicher und matter und ihre Gesichtsfarbe immer gelblicher, fast leichenfahl.
Mit Mißvergnügen bemerkte Frau Schnaglow diese Veränderung.
Offenbar hatte dies Frauenzimmer irgend eine Gemütskrankheit, die den Körper untergrub und alle Bemühungen der schlauen und vorsichtigen Frau zu schanden machte. Für solches Leiden gab es kein Heilmittel in der Hausapotheke der Hebamme. Befehlen konnte man ihr, zu essen und im Garten sich zu ergehen, nicht aber: ihren Gedankenlauf zu unterbrechen, ihre Erinnerung an die Kämpfe der Vergangenheit auszulöschen und die Angst vor der Zukunft zu verbergen. Dagegen wußte die „kluge Frau“ selbst keinen Rat.
Mit jedem Tage nahm Käthe an Kräften ab. Und dennoch war sie durchaus keine empfindsame Heldin, die über ihr eigenes Schicksal in Tränen zerfloß. Nur tiefbetrübt war sie und konnte nicht anders sein, gegenüber alledem, was ihr das Leben, die Welt und die Menschen angetan.
Jetzt aber weinte sie nicht mehr, sondern erfüllte schweigend alle ihr erteilten Aufträge. Den eigenen Willen, den sie übrigens fast niemals besaß, hatte sie vollends verloren.
An Johann dachte sie jetzt häufiger als sonst; vielleicht weil sie mehr Zeit dazu hatte. Beim Gedanken an seinen Verrat ballte sie oft die Fäuste, als wolle sie sich auf die Gespenster der eigenen Einbildung stürzen. Dann wieder übermannte sie eine törichte Rührung.
Sie war nur noch ein halbes Weib und tat alles nur halb. Ohne völlig vergeben zu können, schwankte sie hin und her zwischen glühendem Haß und herzlicher Zuneigung.
Jetzt wurde sie wieder fromm. Oft aber übertäubte der Schmerzensschrei einer Kranken ihr gedankenloses Beten.
Zitternd vor Angst schmiegte sie sich dann an die Wand und hielt sich die Ohren zu, so zerriß solch ein Schrei ihr das Herz und erfüllte es mit Furcht und Schrecken. Auch sie sollte noch so leiden und so schreien mitten in der Nacht, um göttliches Erbarmen anzurufen und menschliches Mitleid!…
O, käme doch niemals diese Stunde!…
Nichts ist so herzerschütternd, wie solch Schmerzensschrei, wenn er so plötzlich erschallt in nächtlicher Stille.
In Schweiß wie gebadet und leichenblaß vor Aufregung, vernahm Käthe diese Laute, so grausig, wie das Geheul eines wilden Tieres.
In die Krankenstübchen selbst wurde sie niemals eingelassen.
Man befürchtete für Käthe die Aufregung und beschränkte ihre Dienstleistungen auf Wasserholen, Krautkochen und Wäschewaschen.
Überdies hatten vermögendere Kranke die Zusicherung der Verschwiegenheit und deshalb genügten Mutter und Tochter zur Pflege.
Käthe schloß sich innig an die Kinder an, jene verlassenen, kränklichen Wesen, die den ganzen Tag im Hause herumschlichen wie junge Kätzchen ohne Mutter.
Mit aller Gewalt erwachte auch in ihr das Gefühl jedes Weibes, welches Mutter werden soll. Trotz des strengen Verbotes, die Kinder auf den Arm zu nehmen, trug sie diese in den Garten und spielte mit ihnen dort stundenlang.
Der Anblick dieser armen, zerlumpten, verlassenen und halbverhungerten Geschöpfe zerriß ihr fast das Herz. Also das war die Lage solcher Würmchen? Und so sollte auch ihr Kind sich unter den Menschen herumstoßen?
Urplötzlich kam ihr der Gedanke an ihren möglichen Tod, zumal da man gestern erst die Leiche eines kräftigen, gesunden Mädchens hinausgetragen, welches zwei Stunden nach der Geburt eines toten Kindes im Hause gestorben war.
Sollte auch sie hier so umkommen, wie ein Hund, ohne Priester und Gebete und vielleicht ihr lebendes Kind schutzlos der menschlichen Gnade überlassen müssen?…
Gleichzeitig erwachte in Käthe auch der Wunsch, Johann noch einmal wiederzusehen und ihn darum zu bitten, er möge sich des Kindes für den Fall ihres Todes annehmen.
Als sie dies Mary anvertraute, die sie ab und zu besuchte, lachte diese sie aus: „Diese Angst hat jedes Weib. Das ist eine alte Geschichte. Drum sei nicht so töricht und rege dich nicht auf. Die Alte hier allein schon läßt dich nicht sterben. Sie ist mit allen Hunden gehetzt und versteht nur zu gut ihr Geschäft! Weiß sie doch, daß, wenn du stirbst, niemand deine Schulden bezahlt. Ebenso, wie sie dich gemästet, wird sie dich auch vor allem Übel bewahren!“
Als Käthe schwieg, obgleich sie durchaus nicht überzeugt war, dachte Mary noch ein Weilchen über den Wunsch der Freundin nach und fuhr dann fort: „Du wirst dir doch nicht die Augen aussehen nach diesem Schufte, der dich so ins Unglück stürzte? Ja, ja, ich kenne dich. Nur angeblich willst du über das Kind mit ihm sprechen, in Wirklichkeit aber handelt es sich bei dir um etwas anderes. Mein Gott! Was hat solch ein Weib doch alles im Kopfe! So schwach schon ist es, daß es sich kaum noch auf den Beinen erhalten kann, und möchte den Schurken doch noch wiedersehen!“
Dabei spie sie aus und kaute an einem Fliederzweige.
Sie selbst war jetzt viel zu vernünftig, um nach den Männern zu sehen.
Die Köchin der Frau Gräfin hatte sie sogar dazu überredet, sich in den Rosenkranzorden einschreiben zu lassen.
Dies sollte Käthe auch tun, sobald sie hier wieder herauskonnte. Dies sei immer noch das Beste und Anständigste für ein Mädchen…
Und immer weiter so setzte diese büßende Magdalene ihre Moralpredigt fort, indem sie den abgemagerten Körper der früheren Dirne in der Sonne wärmte.
Traurig saß Käthe neben ihr und starrte vor sich hin. Nein! Mary beurteilte sie falsch wegen des Wunsches, Johann wiederzusehen: ihr handelte es sich nur um das Kind.
Mary konnte dies gar nicht begreifen.
Als bald darauf Madi die Freundin zum Abendessen hereinrief und diese noch trübseliger aussah, als je zuvor, hielt sie am Rocke sie fest und flüsterte ihr zu: „Käthe, sei doch nicht so albern und setz’ dir nichts in den Kopf, sonst wirst du hier noch herausgejagt, und wohin willst du dich dann wenden?“
Bei diesen Worten ward es Käthe doch ganz schwarz vor den Augen.
Ja, Mary hatte recht! Würde sie hier fortgejagt, wer nähme solch ein Geschöpf, wie sie, noch unter sein Dach?…
An diesem Tage war ihre Pflegerin ganz mit ihr zufrieden.
Käthe aß wie mit Heißhunger und blickte dabei ihrer Herrin so demütig in die Augen, wie ein gezüchtigter Hund. Dafür wurde sie auch gelobt von ihr und sogar gestreichelt und Madi machte Bocksprünge, die selbst die im Küchenwinkel kauernden Kinder in Erstaunen setzten.
Seitdem verflossen einige Monate.
Mit jedem Tage mehr näherte sich Käthes schwere Stunde…
Bleich und ängstlich schleppte sie sich herum, fast untätig, auf Schritt und Tritt gefolgt von ihrer Pflegerin.
Noch immer setzte diese auf sie die glänzendsten Hoffnungen; sie nahm sogar schon Handgeld von einem Bankier, in dessen Hause gleichfalls nach einigen Wochen ein Sprößling erwartet wurde. Dort sollte Käthe nach der Entbindung als Amme eintreten, Frau Schnaglow aber ihren Lohn einziehen, um zunächst die Kosten der mehrmonatigen Pflege für sich zu behalten. Da diese Kosten sehr hoch waren, blieb für Käthe so gut wie gar nichts übrig.
Zwar fühlte diese im voraus, daß sie sich in die Sklaverei verkaufte, ward aber schon längst unempfindlich für alles, was ihr hier begegnete.
Im Vergleiche mit den körperlichen Beschwerden, der entsetzlichen Mattigkeit und dem wilden Schmerz, der ihr Inneres durchwühlte, erschien ihr alles übrige als Nebensache.
Madi bemühte sich zwar, ihr Mut einzusprechen, aber nur ganz in ihrer Art, d.h. sie schilderte ihr die schrecklichen Qualen junger Mütter, deren Zeugin sie schon war.
„Käthe, ich sage dir, das ist gar nicht zu beschreiben. Du wirst dich übrigens selbst davon überzeugen, ob es wahr ist und es mir später bestätigen. Wie mir aber scheint, übertreiben sie alle etwas.“
Jetzt war es stiller im Hause geworden, weil Fina für die Sommermonate zu Verwandten verreist und das kleine skrophulöse Mädchen – einfach an Entkräftung – gestorben war.
Niemand, außer Käthe, hatte es beobachtet, daß das Kind sichtlich hinschwand und das Köpfchen hängen ließ, wie ein welkendes Blümlein.
Eines Morgens lag es tot auf dem Strohsacke.
Zusammengekrümmt, wie ein Knäuel, war es entschlafen. Bleich und mit wie vor Verzweiflung geballten Fäustchen sah es aus, wie ein verhungertes Kätzchen.
Sofort wurde Käthe aus der Küche entfernt und alles vorbereitet zur Beerdigung.
Nach einigen Stunden schon trug man den ärmlichen kleinen Sarg hinaus, der mit keinem Namen bezeichnet war.
Dies Kind hatte ja überhaupt keinen Namen!…
Ein Sonntag war es, hell und klar, als Käthe sich aus dem Garten hinter dem Häuschen mühsam hinausschleppte.
Am blauen wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne und warf ringsumher ihren goldigen Glanz.
Das Häuschen stand auf einer Anhöhe, die auf einer Seite allmählich nach dem Stadtwall, auf der anderen steil nach dem Rande der sogenannten „alten Lehmgruben“ abfiel.
Die rege Abfuhr des Lehms schuf dort einen förmlichen Abgrund, dessen gelblicher Boden stark durchfeuchtet war. Über der tiefsten Lehmgrube erhob sich der Garten. Mitten aus dem frischen Grün senkte sich fast gradlinig die schroffe Lehmwand herab. Selten nur betrat ein menschlicher Fuß diese Stätte. Alle eilten dort auf dem Walle vorüber vor das Tor hinaus. Nur Liebespärchen, die sich nach Einsamkeit sehnten, machten dort in der Nähe einmal Halt. Vor dem Tore begegneten sich alle, und jedes rühmte sich, den besten Weg gewählt zu haben.
Käthe legte sich dicht am Rande der Anhöhe auf den grünen Rasen.
Ihre Pflegerin war nach dem kleinen Sarge in die Stadt gegangen, mißmutig über diesen Tod, der ihr nur Kosten verursachte.
Madi saß an der Wiege des Kleinsten, da sie jeden Augenblick den Besuch der Mutter, jener bleichen Lehrerin, erwartete. Daher benutzte Käthe die ihr jetzt selten gebotene Freiheit. Und dennoch hüllte sie sich trauriger und verzagter als jemals in ihr Tuch.
Diese Sommerpracht und Wärme und all dies blendende Sonnenlicht verursachte ihr förmliche Schmerzen und dabei fühlte sie sich so elend und verlassen.
Sehnlichst erwartete sie heut Marys Besuch. War sie doch immer noch die einzige gute Seele, die ihr ein freundliches Wort gönnte.
Plötzlich raschelte etwas im Gebüsche des Nachbargartens.
Dort drängten sich, laut lachend und sprechend, einige Männer hindurch.
Sonntags kürzten sich Spaziergänger auf diese Weise öfters den Weg, indem sie durch die Gärten der kleinen Häuser gingen.
Die niedrigen Zäune reichten nicht bis an den Rand jenes Abgrundes, und so gelangte man leicht aus einem Garten in den anderen.
Dort war sogar eine Art von Fußweg ausgetreten, der nur selten benutzt wurde, manchem aber wohlbekannt war.
In den Gärten saßen öfters die Mädchen im Sonntagsstaate und auch dies bestimmte die jungen Leute zur Wahl dieses Richtweges.
Als Käthe heute durch den Garten ging, hatte sie an solche ungebetene Gäste nicht gedacht. Und als sie das Geräusch hinter sich hörte, war es zu spät zur Flucht.
Also mußte sie ruhig liegen bleiben und hüllte sich nur so dicht wie möglich in ihr Tuch, in der Hoffnung, die Leute würden vorübergehen und sie in Ruhe lassen.
Darin aber hatte sie sich getäuscht.
Die jungen Leute waren alle sonntäglich gekleidet, mit blendenweißer Wäsche, riesigen Halskragen und grellbunten Schlipsen unter dem glattrasierten Kinn.
Lachend und pfeifend und so selbstbewußt, als gehöre ihnen die Welt, gingen sie an ihr vorüber, ohne sie zu sehen und warfen Steine hinab in den Abgrund. Nur der letzte hatte sie bemerkt und eilte mit einem Scherz auf den Lippen auf sie zu.
Dies dralle Mädchen auf dem grünen Rasen, fast verhüllt unter den Falten des Tuches, zog ihn mächtig an.
Lächelnd trat er dicht vor sie hin im vollen Sonnenglanz und bückte sich sogar schon zu ihr herab, um die anscheinend Schlafende in den Arm zu kneifen. Denn Käthe hatte die Augen geschlossen, als fühle sie eine herannahende Gefahr.
Sein Scherz aber erstarb ihm auf den Lippen, als er plötzlich ihr Gesicht erblickte.
Vollständig verwirrt, ließ er die ausgestreckte Hand herabsinken. So stand er eine ganze Weile da, wie angewurzelt, obgleich seine Begleiter hinter dem Nachbarzaune längst verschwunden waren. Nur ihre lauten Stimmen schallten noch herüber durch das Gebüsch, welches dort eine ziemlich dichte grüne Wand bildete.
In der Meinung, daß sie alle schon vorüber seien, schlug Käthe endlich die Augen auf und ihr Blick fiel auf den vor ihr stehenden Mann.
Eine Blutwelle stieg ihr in den Kopf, als sie in ihm – Johann erkannte.
Beider Augen begegneten sich.
Die ihren, gerötet von all den Tränen, die sie in schlaflosen Nächten vergossen, und umrändert von bläulichen Ringen, blickten in die von Gesundheit und Leben strahlenden des Mannes.
In diesen beiden Augenpaaren stand die ganze Geschichte all dieser Monate geschrieben; ihre Qualen, ihre Trübsal, all ihr Unruhe und Sehnsucht, und seine Gleichgültigkeit, seine gute Ernährung, sein ungestörter Schlaf und sein durch keinen Gewissensbiß getrübter Seelenfriede.
Unverwandt starrte sie ihm in das Gesicht. Endlich hatte sie ihn wieder, dicht vor ihr stand er und alles konnte sie ihm sagen, was ihr so schwer auf dem Herzen lag.
Er aber erwachte jetzt aus seiner augenblicklichen Erstarrung. Hastig wandte er sich ab und wollte davonlaufen. Eingedenk jenes Auftrittes auf dem Boden, befürchtete er dessen Wiederholung.
Käthe jedoch raffte sich empor von der Erde und umschlang ihn mit beiden Armen. Dabei zitterte sie wie im Fieber und purpurrot färbten sich die bleichen Wangen. Das Tuch sank ihr von den Schultern und vor ihm stand sie in der vollen Majestät der Mutterschaft, unbekümmert um die übrige Welt und um die Leute, die jeden Augenblick kommen konnten.
Einen Blick nur warf er auf die ganze Gestalt und erkannte sofort ihre Lage.
Mit Gewalt wollte er sich losreißen, um so schnell wie möglich diesem Mutter-Weibe zu entfliehen, er, der Vater-Mann.
Dieser Schoß, der jetzt noch sein eigenes Kind in sich barg, erschien ihm geradezu widerlich und abschreckend.
Käthe aber hielt ihn fest mit ungewöhnlicher Kraft und preßte um seine Hand so krampfhaft die Finger, daß sie ihm empfindlichen Schmerz verursachte.
Gleichwohl beabsichtigte sie dies nicht, sondern wollte ihm nur sagen, sie könne jeden Augenblick sterben und lasse auf der Welt eine Waise zurück, für die sie mit Recht seinen Schutz verlange.
„Johann“, sprach sie mit stockender Stimme. „Wie gut hat Gott es gefügt, daß du mir in den Weg tratest. So sehnlichst wünschte ich dich wiederzusehen.“
„Laß mich los! Was zerrst du mich so herum?“ unterbrach er sie aufbrausend. „Willst du mich wieder so zerkrallen, wie damals auf dem Boden?“
„Nein, o nein!“ rief sie, ihn immer fester haltend. „Ich will dir gar nichts antun und dir nur sagen…“
Hier brach sie plötzlich ab, außer Stande, den Satz zu vollenden. Anfangs erschien es ihr so leicht, ihm alles zu sagen. Jetzt aber erstarb ihr die Stimme in der Brust und das Wort auf den Lippen.
Vor sich sah sie ihn, so frisch und kerngesund im Sonnenglanze mit roten Wangen, ganz wie vor einem Jahre. Sogar denselben Schlips trug er und dieselbe Weste und sein Haar glänzte und duftete von Pomade.
So kräftig und fein sah er aus mit dem neuen Strohhute in der Hand, die noch derselbe Tombakring schmückte.
Und plötzlich schämte sie sich ihrer Not und Armut und vor allem des Zustandes, der sie jetzt so verunstaltete.
Unwillkürlich ließ sie die Arme sinken und befreite so Johann aus deren Fesseln.
Hastig griff sie nach dem Tuche, um den halben Körper zu verhüllen.
Währenddem war Johann einige Schritte zurückgewichen, um nach dem Nachbargarten zu entschlüpfen. Käthe aber vertrat ihm den Weg.
So standen sie beide dicht am Rande der alten Lehmgrube, deren feuchter Boden in den Strahlen der Sonne blinkte.
„Johann! Warte nur einen Augenblick! So kannst du nicht von mir gehen!“ rief sie ihm zu. „Wie du siehst, sitz ich hier im Elend und dazu noch in Schulden. Vielleicht aber geht es bald mit mir zu Ende; ich weiß nicht, wie Gott es lenkt!“
„Was willst du von mir? Halt mich nicht länger auf!“ zischte er durch die Zähne. „Mit dir hab ich nichts zu schaffen. So eine, die sich so lange herumtreibt und prügelt, bis sie zur Polizei abgeführt wird, ist nur eine Schande für ordentliche Leute. Geh mir aus dem Wege, sonst schaff ich mir anders Rat!“
Sie aber war wie im Fieber und hörte seine Drohung fast gar nicht. Nur den einzigen Gedanken hatte sie, ihm etwas zu sagen von dem Kinde, welches sonst verhungern müßte, wie die soeben nach dem Friedhof getragene Waise.
„Für mich verlang ich ja nichts!“ rief sie hastig, „nur… für… das… Kind!“
Tief errötend schlug sie die Augen nieder. Endlich war es heraus, dieses Wort, dies Verbrechen, dieser Fehltritt, den sie begangen unter Mitschuld, nein, nur durch die Schuld des vor ihr stehenden Mannes…
Dieser aber, nachdem er allmählich das verlorene Gleichgewicht wiedererlangt, blickte sie an mit affenartiger Bosheit und pfiff dabei einen Gassenhauer. Dann rief er lachend: „Ei, ei! Ein Kindchen? Na, das ist ja noch schöner!“
Jetzt erst erhob sie das Haupt.
Wie? So also nahm er die Nachricht auf von dem Kinde? Ohne ihr zu zürnen, pfeift er sogar und lacht? Wer weiß, vielleicht überlegt er sich’s und – heiratet sie doch noch?…
Und voller Freude umschlang sie ihn aufs neue mit dem Rufe: „Ach Johann, wie gut du bist, daß du mich nicht ausschiltst. Ich bin ja auch nicht daran schuld, daß ich so elend bin!“
„Weshalb, zum Henker, sollt ich dich ausschelten?“ höhnte er achselzuckend. „Dies Kind ist doch nur deine Sache! Behalt es oder nicht, das macht mich nicht warm und nicht kalt!“
Jetzt konnte sie sich doch nicht länger täuschen über seine in diesen Worten ausgesprochene Gesinnung und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen.
Nichts hören wollte er von dem Kinde, dessen Vater er war! Auf sie allein also sollte dies Wesen fallen, welches ihr in diesem Augenblicke fast den Schoß zerreißt, wie verzweifelt, als fühle es, daß der leibliche Vater sich von ihm lossagte und ohne Erbarmen es hinausstoßen wollte in die Welt!
Dieser plötzliche Übergang aus der Freude in die Enttäuschung versetzte sie in wahnsinnige Wut.
Wieder riß sie das Tuch herab von den Schultern, packte Johann am Arm und starrte ihm mit großen Augen gerade in das Gesicht.
Alle Qualen, die sie schon erlitten und noch zu erwarten hatte, verkörperten sich in diesem Manne, der deren alleinige Ursache war.
Ein Weilchen stand sie schweigend vor ihm. Dann reckte sie sich plötzlich kerzengerade. Aus den Augen zuckten ihr düstere Blitze und der weitgeöffnete Mund zeigte zwei Reihen scharfer Zähne.
Unbeugsamer Trotz sprach aus ihrer ganzen, sonst so sanften und fügsamen Gestalt.
„Wie?“ schrie sie laut. „Du sagst, das Kind geht dich nichts an und macht dich nicht kalt und nicht warm? Wie kommst du dazu?“
Entsetzt über ihren Gesichtsausdruck starrte er sie an. Dieser Jähzorn konnte von schlimmen Folgen sein. Daher beschloß er, sich um so schneller aus dem Staube zu machen. Sah sie doch aus wie eine Rasende!
Mit kräftigem Ruck sie von sich stoßend, rief er wütend: „Da hast du mein Kind!“ und lief wie von Sinnen in der Richtung nach dem Nachbargarten davon.
Käthes Brust entrang sich ein markerschütternder Schrei, nur ein einziger…
Nach dem Stoße der kräftigen Männerhand schwankte sie auf den Füßen… taumelte einige Schritte zurück… und… stürzte von der steilen Höhe in die alte Lehmgrube hinab.
Die gelbliche, aufgeweichte Erde dort nahm willig den ohnmächtigen Körper auf, dessen dunkle Masse scharf sich abhob von dem hellen Grunde.
Johann durcheilte inzwischen schnell die Gärten, um seine Begleiter einzuholen, die ihm schon weit voraus waren und sich nicht wenig darüber wunderten, was den Lustigsten von ihnen so lange zurückhalten konnte, daß er zu der längst verabredeten Kegelpartie zu spät kam.
Als Johann endlich erschien, begrüßten sie ihn mit allerlei zweideutigen, schlechten Witzen.
Er aber gab zu verstehen, irgend ein kleines Liebesabenteuer habe ihn unterwegs etwas aufgehalten.
Und nicht wenig beneideten ihn seine Kumpane, daß ihm so leicht und am hellen Tage so etwas begegnete, indem sie seufzend ausriefen: „Ach! Wer doch auch solches Glück hätte!…“
Düster grollend stand Frau Schnaglow am Fußende des Bettes, in welchem die bewußtlos in der Lehmgrube aufgefundene Käthe lag.
Wie diese dorthin gelangt, konnte sie sich nicht erklären.
Käthe antwortete ihr, auch als sie wieder zu sich gekommen war, auf keine Frage, so entsetzlich waren die Qualen, unter denen sie unaufhörlich stöhnen mußte.
Eine Frühgeburt stand bevor, die alle Pläne und Hoffnungen der Hebamme inbezug auf Käthe vernichtete und ihr sogar die Möglichkeit benahm, auf ihre Kosten zu kommen.
Daher überließ sie Madi die ganze Pflege und begnügte sich mit der Rolle einer Zuschauerin.
Nur ab und zu brummte oder jammerte sie, wenn sie all ihre Auslagen berechnete.
Auch Madi teilte ihren Kummer über den Verlust all der Vorteile, die eine so kräftige Amme in Aussicht gestellt hatte.
Daher quälte sich Käthe stundenlang fast immer mutterseelenallein und biß sich vor Schmerz in die Finger oder zerraufte sich das Haar oder zerriß die Bettwäsche.
In dem engen, dumpfen Stübchen fehlte es an frischer Luft, da auch das Fenster dicht verhängt war und niemals geöffnet wurde, damit Vorübergehende die Schmerzenslaute nicht hören konnten.
Als die Dämmerung herabsank, lag Käthe noch immer im Bette, mit aufgedunsenem Gesichte, tief eingefallenen Augen und schweißbedeckter Stirn.
Ein Wort nur kam öfters über ihre bleichen Lippen.
„Jesus!“ rief sie nur immer wieder, als finde sie Linderung in diesem Namen, an dem sie von Kindheit an gewöhnt war in Kummer und Gefahr.
Ab und zu war es ihr, als sterbe sie, und dann überfiel sie eine entsetzliche Angst beim Gedanken an den Tod in diesem düsteren Stübchen, aus dem schon so manche Leiche herausgetragen wurde.
An das Kind, welches jeden Augenblick auf die Welt kommen sollte, dachte sie jetzt gar nicht mehr, so benommen war sie von der ihr bisher völlig unbekannten, schrecklichen Qual.
Unwillkürlich blickte sie nach dem hellen Kreuze, welches die Risse in dem dunklen Vorhange bildeten.
Jetzt also lag auch sie unter diesem Kreuze. Jetzt kam auch an sie die Reihe und ebenso mußte sie stöhnen wie die andern, deren Jammern sie in der nächtlichen Stille so erschreckt hatte.
Wie und wann wird diese Marter enden? Sie wußte es nicht und wagte nicht, danach zu fragen.
Als Madi das Lämpchen anzündete und auf die Kommode dicht vor dem Bette stellte, steigerte sich noch ihre Angst bei dem Gedanken an die dunkle Nacht, in die sich jetzt die Erde hüllte.
Ihr war, als liege sie schon im Sarge in gemeinsamer Grube mit verendetem Vieh…
Die Vorbereitungen Madis, die auf das Bett geworfenen Lappen, das schwarze Fläschchen und besonders der große Bogen Packpapier auf der Kommode, der bei jeder Bewegung raschelte, vermehrten noch ihre Aufregung.
Was sollte mit ihr geschehen in dunkler Nacht? Würde sie morgen noch Gottes Sonne wiedersehen oder elend umkommen ohne Rettung und Hilfe?
Inzwischen verkündete die Uhr mit heiserem Schlage Stunde auf Stunde.
Madi kauerte schlaftrunken an der Erde, mißmutig über den bevorstehenden Verlust, während ihre Mutter die gleichgültige Miene der Hebamme beibehielt, die selbst die größte menschliche Marter nicht zu rühren vermag. Nicht einmal zuckte sie zusammen, als Käthes Stöhnen überging in das Brüllen eines wilden Tieres, welches mit dem Tode ringt.
Auf dem Wege unterhalb des Häuschens zogen Betrunkene vorüber und sangen zur Harmonika. Die munteren Weisen eines Walzers oder einer Polka mischten sich in Käthes Angstgestöhn, aber ihr Ruf „Jesus!“ überschallte selbst diese Tanzmusik.
Nachdem die Nachtschwärmer über den Wall zur Stadt zurückgekehrt, wurde alles mäuschenstill und nur Käthes Schmerzensschrei erschallte jetzt mit verdoppelter Gewalt, dieser Bußeschrei eines Weibes für einen kurzen Augenblick irdischer Wonne…
Immer mehr veränderte sich ihr Aussehen. Wie ein Schreckgespenst lag sie da, den Kopf tief zurückgebogen und zupfte mit zitternden Händen krampfhaft und nervös an der Bettdecke. Allmählich erstarb sogar der Schrei in ihrer Brust und ging in ein heiseres Röcheln und dumpfes Heulen über, ähnlich dem Herbstwinde.
Dann erst erwachte die Hebamme aus ihrer Erstarrung und näherte sich hastig dem Bette.
Mit irrem Blicke starrte Käthe sie an und stieß ihre Hände zurück. Dann wieder griff sie nach ihrem Kleide, wie nach einem Rettungsbalken.
Madi stand daneben und rieb sich, halb im Schlafe, die Augen.
Nach einigen Minuten erschütterte noch ein durchdringender Schrei die Wände und als schwaches Echo erwiderte diesen das kaum hörbare Wimmern des – Kindes…
Krampfhaft zuckte Käthe zusammen.
Etwas Unbeschreibliches durchfuhr ihren ganzen Körper und zerpreßte ihr das Herz. Instinktiv streckte sie die Arme aus und eine seltsame Rührung übermannte sie, so ergriff die tierische Anhänglichkeit an das Kind ihr ganzes Wesen.
Doch nur zu bald verließen sie die Kräfte, die Arme sanken herab… Und, erschöpft von dem unnatürlichen Geburtsverlaufe, sank sie bewußtlos zurück in die Kissen…
Inzwischen beschäftigte sich Madi mit dem Kinde. Es war ein achtmonatliches Mädchen, kräftig gebaut, aber stark gerunzelt und versprach kein längeres Leben, als einige Minuten, im günstigsten Falle kaum eine Stunde…
Die Hebamme warf, noch bemüht, Käthe zu ermuntern, nur einen Blick auf das Kind und fällte mit einer beredten Armbewegung über dasselbe ihr entscheidendes Urteil.
Sofort schritt Madi zu ihrer in solchen Fällen gewohnten Hantierung:
Nachdem sie die rechte Hand in Wasser getaucht, näherte sie sich dem sterbenden Kinde und besprengte dessen Köpfchen mit den Worten: „Ich taufe dich, Maria, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen!“
Das Kind öffnete die blauen Äuglein und starrte an die Stubendecke.
Dann schloß es langsam die Lider, atmete noch einmal auf mit der kleinen Brust und wieder schwebte eine Seele zurück in das Reich des ewigen Geheimnisses.
Das in der Ecke noch glimmende Lämpchen warf seinen matten Schein auf die kleine Leiche, die starr und fahl auf Käthes Bettdecke lag.
Inzwischen zog der letzte Schwarm starkbezechter Sonntagsgäste drüben auf dem Walle mit lautem Gesang und Gelächter vorüber.
Deutlich vernahm man darunter die Stimme Johanns, des berauschten – Vaters, die mit heiserem Klang in das Stübchen drang, wo sein totes Kind lag und die vor Schmerzen noch immer bewußtlose – Mutter…
„Das bitt ich mir aber aus, Frau Schnaglow; das Kind darf nicht etwa in Packpapier in die Lehmgrube geworfen werden!“ sagte Mary, als sie tags darauf die Freundin besuchte. „Den kleinen Sarg will ich gern bezahlen.“
„Gut, Fräulein, wenn Sie eine so große Dame sind, meinetwegen! Soll ich etwa auch den Leichenwagen bestellen mit Federbüschen und Livreen?“
„Spotten Sie nicht so, Frau Schnaglow! Das Kind soll aber in geweihter Erde ruhen; es ist doch kein junger Hund, sondern ein menschliches Wesen!“
„Natürlich! Geben Sie nur das Geld her, Fräulein, zum Sarge und für den Platz auf dem Kirchhofe!“
„Alles will ich bezahlen, wie es sich gehört.“
Dankbar blickte Käthe die Freundin an, wenn sie auch vor Schwäche nicht mehr sprechen konnte.
Mary setzte sich an ihr Bett, ganz rot vor Unwillen über das schändliche Benehmen der Hebamme, die, ohne Käthes Genesung abzuwarten, schon vom frühen Morgen an die Kranke unaufhörlich mit Vorwürfen quälte, während Madi zu Mary geeilt war, um ihr zu melden, was vorgefallen.
Die Leiche des Kindes war noch im Hause geblieben, weil Madi sich fürchtete, Sonntags Nacht nach der Lehmgrube zu gehen, wo betrunkene Arbeiter aus der Ziegelei sich herumtrieben, bis sie ihren blauen Montag hielten.
Mit dem Auftrage, einen ordentlichen Sarg zu besorgen, händigte Mary der Hebamme drei Guldenscheine ein, und diese zog sich mit höhnischem Lächeln an und entfernte sich mit dem schmutzigen Gelde.
Auch Madi schlüpfte hinaus und lief der Mutter nach bis zur Straßenecke, um ihr noch etwas zuzuflüstern und dann wieder nach Hause zu eilen. Dort schlich sie sich in ihre Schlafstube, nahm aus der Kommode einen Bogen Packpapier und legte ihn auf den wackeligen Tisch. Dann steckte sie sich in ihr Trikotjäckchen einige Stecknadeln und setzte sich ruhig, ein Liedchen pfeifend, auf einen Lehnstuhl.
Inzwischen blickte Mary mit ungeheucheltem Mitleid die Freundin näher an und sie erschien ihr weit mehr verändert, als sie erwartet.
Das ganze Gesicht war wie mit Asche bestreut und die Züge hatten sich ungemein verlängert.
Sie selbst hatte so etwas niemals durchgemacht. Die Qual mußte aber keine geringe sein, wenn sie in einer einzigen Nacht ein Weib so verändern konnte!
Der Tag war trüb und regnerisch.
Nur fahles Licht warf das Wolkengrau durch den zerrissenen Vorhang auf die Gestalt der Kranken.
Das Kind lag starr und kalt unter einer dünnen, fadenscheinigen Serviette.
Als Mary diese erhob, fiel das fahle Licht plötzlich auch auf das noch nicht völlig ausgebildete kleine Wesen, welches schon im Mutterschoße halb abgestorben war und sich jetzt über den vorzeitigen Tod noch zu beklagen schien.
Als Käthe dies sah, zuckte sie krampfhaft zusammen und flüsterte halb bewußtlos: „Er sagte, dies sei… nicht… sein Kind!“
„Wer sagte dies?“ fragte Mary, hastig das Kind wieder zudeckend und über die Kranke sich neigend.
„Er! Johann!“
„Wo hast du ihn gesehen, diesen Schuft?“ rief Mary und sprang heftig auf.
Käthe aber schwieg und mochte offenbar nichts weiter sagen. Fühlte sie sich doch so unglücklich, daß ihr die Worte fehlten, um ihr Herzeleid zu beschreiben.
Dabei zerwühlten ab und zu die fürchterlichsten Schmerzen ihr die Eingeweide und ein Fieberfrost durchschauerte sie nach dem andern, daß ihr die Zähne klapperten.
Sollte denn die Marter niemals enden?…
Eine Zeitlang blieb Mary noch bei der Kranken und bemühte sich, ihr Linderung zu verschaffen. Mit allen Lumpen, die sie nur auftreiben konnte, sie bedeckend, versprach sie ihr, aus der Speisekammer ihrer Herrschaft Arak mitzubringen.
Aufrichtiges Mitleid empfand sie mit der Unglücklichen, die so verlassen war, wie ein von seinem Herrn davon gejagter Hund.
Nachdem Käthe anscheinend sich etwas beruhigt, schlich Mary mit dem festen Vorsatz hinaus, nach einigen Stunden wiederzukommen.
Auf der Holztreppe begegnete sie der Hebamme, die aus der Stadt zurückkehrte und ihr mitteilte, der Sarg, blau lackiert und ausgepolstert, werde gleich gebracht werden und solle anderthalb Gulden kosten.
Hiermit einverstanden, bat Mary, das Kind nicht eher in den Sarg zu legen, bis sie wieder da sei.
Nachdem ihr dies feierlich versprochen worden, eilte sie, so schnell wie möglich, nach der Stadt zu, mußte aber unterwegs wiederholt stillstehen, weil ihr sonst der Atem ausging, so hatte die Brustkrankheit schon ihren ganzen Körper zerrüttet.
Frau Schnaglow betrat inzwischen schon das Häuschen und fand Käthe noch immer mit geschlossenen Augen und in Fieberschauern daliegend.
Wie eine Katze schlich die Hebamme an das Bett, zog dort das tote Kind an den Beinchen schnell aus den Lumpen hervor und trug es leise hinaus.
Die Kranke öffnete nicht einmal die Augen und nur ein dumpfes Ächzen entrang sich ihrer schmerzzerwühlten Brust.
Jetzt huschte die Hebamme in die Schlafstube, in welcher Madi saß.
Hastig übergab sie das Kind ihrer Tochter, die, noch immer pfeifend, mit ihm dem Tisch sich näherte, dort es auf einen Bogen Packpapier legte und diesen so gewandt wie ein Ladenmädchen um das Kind zu einem Paket herumschlug, welches sie sorgfältig mit Nadeln zusteckte.
Während dieser Hantierung wechselten Mutter und Tochter miteinander kein Wort.
Als Madi das Paket, wie gewohnt, unter der Schürze verbarg, riet ihr die Mutter, wenigstens noch ihr Tuch darüber zu werfen.
Madi aber zuckte nur die Achseln.
Nein! Sie gehe ja nicht den gewöhnlichen Weg nach der Lehmgrube, sondern einen ganz anderen, auf dem ihr gewiß keine Menschenseele begegnete, da sich mittags dort auch die Arbeiter nicht mehr herumtrieben.
Kopfschüttelnd gab die Mutter der altklugen Tochter nach. Ein Weilchen noch lauschte sie, wie diese ihren Walzer pfiff, während sie sich durch das Gebüsch hindurch drängte. Durch das offene Fenster schallte das schrille Pfeifen, bis es allmählich in der Ferne verstummte.
Dies also war das Grabgeläute für das Kind, welches, in der Nacht gestorben, dort verscharrt wurde, wie ein Hund am Kreuzwege!…
Unterdessen öffnete die Hebamme die Kommode, zog aus der Tasche die drei Papiergulden, dieselben, die ihr Mary gegeben, und schob sie in einen blauen Strumpf, in dem das ersparte Geld klirrte.
Dann versteckte sie lächelnd den Strumpf unter einem Stoß Wäsche, verschloß sorgfältig die Kommode und verfertigte in aller Eile aus schwarzem Papier einen ganzen Vorrat von Trauermalven.
Jetzt konnte Mary ruhig kommen.
Die Leiche habe sich nicht länger gehalten, würde man sagen. Daher habe man sie in den Sarg gelegt und begraben.
Nach dem frischen Grabe zu sehen, dazu hatte Mary keine Zeit. Später wird sie es ganz vergessen und ihre drei Gulden kommen Finas und Madis Mitgift zu gute!…
Als Madi endlich ganz durchnäßt und beschmutzt heimkehrte, sagte sie, das Kind sei in der bequemen Grube, die sie mit Erde bedeckt, gut aufgehoben[WS 10].
Dann bereitete sie sich aus Rosenblättern ihr Konfekt, welches sie über alles liebte.
Still und ruhig verlief der ganze Nachmittag. Mary erschien nicht wieder.
Käthe, der man etwas Kamillentee eingeflößt, lag immer noch stöhnend im Fieber, war aber noch bei vollem Bewußtsein.
Ab und zu warf sie sich unruhig umher, als suche sie nach dem Kinde. Gleichwohl fragte sie nicht danach, aus Furcht vor der Hebamme, die ihr mürrisch das Getränk reichte.
Auch Madi zeigte sich nicht. Mit aufgestreiften Ärmeln stand sie am Kamin und leckte lüstern an dem rosigen Schaum, den sie sorgfältig von ihren Konfitüren abschöpfte.
Vor ihr lag noch ein ganzer Stoß Rosenblätter; dazu aber fehlte ihr der Zucker. Hastig stellte sie die Kasserolle vom Feuer und lief aus dem Hause.
Auf der Holztreppe aber blieb sie stehen wie angewurzelt.
Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich ihren Augen dar. Längs des Weges, der sich unterhalb des Häuschens hinzog, standen Männer in abgetragenen Röcken oder Mänteln mit halb gleichgültigen, halb schlauen Mienen und auf der Brust gekreuzten Armen. Deutlich hob ihre Gestalt sich ab vom grauen Wolkenhimmel. Einige unter ihnen trugen die dunkle Polizeiuniform mit blanken Knöpfen.
Aus dem etwa hundert Schritt entfernten Nachbarhäuschen kamen noch fünf andere Männer, zwei in Zivil und drei in Uniform, herbei.
Einer der längs des Weges stehenden Polizisten hielt in der Hand ein großes beschmutztes und durchnäßtes Paket, aus dem das Wasser triefte.
Weit riß Madi die Augen auf und erkannte sofort – ihr Paket mit der Kindesleiche.
Sollte diese heut’ wieder auferstehen, um sie vielleicht zu vernichten?
Die Polizei mußte die kleine Leiche aufgefunden haben und suchte jetzt nach der Mutter, nachdem festgestellt wurde, daß das Kind erst gestern geboren sei.
Die Polizei fürchtete Madi durchaus nicht, nur die ihr unbekannten Ärzte, die schon längst danach forschten, wer den Weibern immer die schrecklichen Gifte verabfolge, um das keimende Leben zu vernichten.
Madi wußte nur zu gut, daß die Mutter viele Feinde habe.
Fanden diese bei ihr jene Käthe, obgleich deren Frühgeburt nur ein Zufall war, so begründeten sie damit sofort gegen sie die Anklage und fanden wohl gar noch an der Kindesleiche die Zeichen eines gewaltsamen Todes.
Was war also zu tun!
Fast verlor die sonst so besonnene Madi den Kopf.
Drei Häuser nur trennten noch die Polizei von dem Häuschen ihrer Mutter…
Zum Glück gab ein ihr bekannter Polizist unbemerkt einen Wink, um sie vor der nahen Gefahr zu warnen.
Ein Weilchen noch überlegte sie und rang nervös die von den Konfitüren rosig gefärbten Hände.
Dann eilte sie wie der Wind zurück ins Haus, riß die Tür auf und schrie: „Mutter! Revision kommt!“
„Mein Gott!“ rief zitternd die Hebamme.
Dann stürzten sie beide wie rasend in Käthes Stübchen und Madi flüsterte der Mutter zu: „Sie muß fort.“
Ohne etwas zu erwidern, riß Frau Schnaglow die Bettdecke von der Kranken herunter, die zitternd vor Schreck die beiden anstarrte, wie ein tödlich verwundetes Wild die es noch herumzerrende Meute.
„Steh’ auf!“ rief Madi, „die Polizei kommt nach dir! Du mußt fort, sonst nehmen sie dich mit!“
Käthe verstand nur das eine Wort: Polizei. Also wieder wurde sie verfolgt, nicht einmal jetzt in Ruhe gelassen?
Dabei wußte sie nur zu gut, daß diese Weiber sie fortjagen und nicht einen Augenblick länger unter ihrem Dache lassen würden. Und mit der übermenschlichen Willenskraft eines verzweifelten Weibes raffte sie sich aus dem Bette auf.
Die Weiber warfen ihr noch einen zerrissenen Rock und einen von Motten halb zerfressenen Pelz über und steckten die nackten Füße in große Pantoffeln. Dann führten sie die totenbleiche, halb Ohnmächtige durch die Hintertür zum Hause hinaus.
Noch war es Zeit.
Das Gebüsch verdeckte die Holztreppe nach der Seite, wo die Häscher schon langsam sich näherten, und Käthe konnte unbemerkt von ihnen entschlüpfen.
Was übrigens kümmerte dies die Hebamme? Ihr handelte es sich nur um die Entfernung der Kranken aus ihrer Behausung, um weiter nichts. War dieser Hauptbeweis beseitigt, so konnte niemand ihr etwas anhaben.
Selbst wenn Käthe erwischt wurde, alles eingestand, und ihr Haus als ihren Aufenthaltsort angab, konnte sie immer noch alles leugnen.
Wer hatte Käthe bei ihr gesehen? Niemand, außer Mary! Und Mary mußte schweigen aus verschiedenen Gründen.
Inzwischen hatte Madi im Stübchen alles aufgeräumt und das Bett gemacht, auch alle Lappen und Lumpen in den Keller versteckt.
Nach wenigen Minuten schon war von Käthes Anwesenheit keine Spur mehr vorhanden.
Madi stand, ihren Walzer pfeifend, wieder am Kamin, dessen Flammen sie hell beleuchteten, nicht weit von der Mutter, die mit sanftester Miene im fahlen Gesicht ruhig ihre Strümpfe stopfte.
Käthe wankte allmählich die Stufen der Holztreppe hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt oder daran anlehnte.
Nur mit größter Anstrengung gelang ihr dies und jeder Schritt verursachte ihr die heftigsten Schmerzen, als zerschnitten tausend Messer ihre Eingeweide. Rote Flecke schimmerten ihr vor den Augen, die ihr den Blick verhüllten und sie fast blendeten.
Nur einige dunkle Gestalten noch sah sie vor sich, die langsam den Weg entlang schritten.
Sogar die Gedanken verwirrten sich ihr im Gehirn. Wer waren diese Leute? Was wollten sie von ihr? Etwa ihr Leben?…
Sie wußte nur, daß man sie gehen hieß. Also gehen wollte und mußte sie, weiter, immer weiter, ohne Ziel, ohne Ende!
Plötzlich blinkten durch das Wolkengrau einige bleiche Lichtstrahlen, in deren mattem Glanze sich den Blicken der Häscher und der Polizisten die aus dem Gebüsche hervortretende Frauengestalt zeigte.
So erschöpft und so leichenblaß sah sie aus, daß die Männer sofort in ihr die Mutter des toten Kindes erkannten, welches in dem zerfetzten Packpapier aufgefunden wurde.
Und so groß mußte die Qual und das Elend sein, welches sich in der schwankenden, gebückten Haltung und in den tief eingefallenen, von Tränen umflorten Augen ausprägte, die vor Schmerz und Angst vor sich hinstarrten, daß selbst in den gegen alle Not des Lebens so abgehärteten, fast versteinerten Herzen dieser Männer sich das Mitleid regte und der Wunsch, dieser Unglücklichen zu helfen.
Fast alle wandten sie sich ab oder blickten zu Boden, um Käthe das Vorbeigehen zu erleichtern, bevor die Untersuchungskommission aus dem nahen Häuschen zurückkam.
Zitternd wankte sie noch einige Schritte weiter und taumelte hin und her, wie betrunken.
Auch die Männergestalten sah sie nicht mehr, so dunkel war es ihr und so drehte sich ihr alles vor den Augen.
Plötzlich streckte sie die Arme aus und sank lautlos auf die feuchte Erde, dicht vor die Füße des Polizisten, der die Kindesleiche in der Hand hielt.
Gleichzeitig wurde die Tür des Nachbarhäuschens geöffnet und heraus trat der Kommissar mit zwei Ärzten. Zwei Beamte blieben noch im Häuschen zurück, um nähere Erkundigungen einzuziehen.
Der Kommissar sah zuerst die mitten im Wege liegende Ohnmächtige und eilte sofort zu ihr die Holztreppe hinunter, um ihre kalte, starre Hand zu ergreifen und sie heftig hin und her zu zerren.
Dabei verschob sich der zerlumpte Pelz und entblößte ihre nackten Arme und Schultern. Sofort röteten sich die bleichen, großen Ohren des Kommissars und entfalteten sich wie zwei Fächer: er witterte für sich willkommene Beute und wollte sie nicht so leicht wieder loslassen.
Wer weiß, dieser Fall konnte ihm vielleicht zu der längst ersehnten Beförderung verhelfen.
Daher schweifte der Blick seiner kleinen hellgrauen Augen unaufhörlich von der Kindesleiche herab auf das an der Erde liegende Weib, als suche er irgend eine Ähnlichkeit in diesen beiden regungslosen Körpern, oder eine Gemeinschaft zwischen ihnen, die ihn auf den richtigen Weg führen könnte.
Einer der Polizisten, die inzwischen hinzugetreten waren, bog sich herab über Käthe und betastete ihre Arme.
Dies junge, elende Wesen erregte in ihm so tiefes Mitleid, daß er es zu retten wünschte, obgleich er mit seinem Spürsinn die volle Wahrheit längst erriet.
„Herr Kommissar“, hob er an. „Die ist nur betrunken und muß ins Loch, um sich auszuschlafen.“
„Nein, nein!“ erwiderte der Kommissar. „Solch ein großes Frauenzimmer betrinkt sich nicht am hellen lichten Tage, um der ganzen Polizei in die Hände zu fallen. Dahinter steckt etwas ganz anderes. Offenbar hängt dies mit der Kindesleiche zusammen, die vor einigen Stunden in der Lehmgrube unweit der Ziegelei gefunden wurde!“
In der Tat hatten Kinder sie dort zufällig beim Schanzenspiel aus der nur mangelhaft zugeschütteten Grube ausgegraben und so, wie sie war, in Packpapier eingewickelt, zur Polizei gebracht, stolz und glücklich, daß sie auch einmal die Helden des Tages spielen konnten.
Jetzt hing nur noch von den Ärzten der Ausspruch ab, ob dies Frauenzimmer nur betrunken war, oder eine von den Männern schändlich Betrogene, die in ihrer Verzweiflung ein Verbrechen verübte.
Gleich darauf kamen die Ärzte herbei, um die noch immer Ohnmächtige zu untersuchen.
Einige Minuten herrschte Totenstille, nur unterbrochen vom Rauschen des Windes im Laube und in den Zweigen.
Hinter Wolken barg sich wieder die Sonne, als betrübe sie der Anblick dieses menschlichen Elends, welches ihr Goldglanz bestrahlte.
Trüb’ und düster ward es rings umher.
Endlich erhoben sich die Ärzte von der Kranken. Und der ältere, ein Graukopf mit kaltem, gleichgültigem Gesichtsausdruck, zeigte erst nach der fahlen Kindesleiche und dann nach Käthe mit den Worten: „Das ist die Mutter!“
„Johann! Johann!“ stöhnte diese wie im Traume…
Seitdem sie von der Polizei mitten auf dem Wege aufgehoben wurde, war Käthe nicht wieder zur Besinnung gekommen.
Auf Anordnung der Ärzte ins Spital aufgenommen und dort in der Abteilung für Wöchnerinnen untergebracht, lag sie bewußt- und regungslos da mit fieberglühenden Wangen und starrte voller Verzweiflung vor sich hin.
Kein Wort kam über ihre Lippen, außer dem Namen „Johann“, den sie mit der Hartnäckigkeit des Wahnsinnes fortwährend wiederholte, und zwar immer mit anderer Betonung.
Die Ärzte, die ihr beim besten Willen nicht helfen konnten, ließen sie ruhig liegen.
Eine Entzündung nach der andern stellte sich bei ihr ein.
Die Wärterinnen meinten, die Nahrung sei ihr in den Kopf gestiegen und von jedem ward ihre Krankheit anders genannt und beurteilt.
Sie selbst kannte ihren Zustand nicht und lag Tag und Nacht stöhnend da, wie zum Tode verurteilt, wie eine lebende Leiche.
Allmählich kümmerte sich fast niemand mehr um sie. Die Krankheit zog sich in die Länge und der Tod schien sich zu verspäten.
Der junge, kräftige Körper rang mit ihm und wollte sich durchaus nicht ergeben.
Man schaffte Käthe endlich in den Operationssaal und legte sie in ein Bett mit Rädern, um sie im Falle des Todes leichter hinauszubefördern.
Dieser nur selten benutzte Saal führte auf einen langen Gang, der alle übrigen Krankensäle und Zimmer im ersten Stockwerke miteinander verband.
Ab und zu erschien das schwarze Gewand einer Aufseherin oder die Gummischürze eines Arztes, der mit Instrumenten unter dem Arm in den Saal eilte, oder die Soutane eines Priesters, der das Gefäß mit der letzten Ölung an die Brust drückte.
Morgens und abends rief ein Glöckchen zum Gebet; manchmal auch verkündete es, daß wieder eine Dulderin, nachdem sie ihre Bestimmung erfüllt, einging zur ewigen Heimat.
Hin und wieder erschallte auch ein Schmerzensschrei hinter der fest verschlossenen Tür, neben welcher wie auf Vorposten Tragbahren auf Rädern standen, die auf die der Anatomie verfallenden Leichen warteten.
Denn diese verlangte, unersättlich, ewig hungrig, wie eine Hyäne, immer neue Leichen, und das Spital zahlte seinen Tribut mit all den Körpern jener Frauen, die dort nach entsetzlichen Qualen an irgend einer Krankheit starben.
Mit Einbruch der Nacht verstummte dies alles.
Die grauen Schwestern begaben sich nach dem zweiten Stockwerk, um dort ihre Gebete zu murmeln.
Dann zogen sie die groben Gewänder aus und legten sich auf die hohen Schlafbänke, die in langen Reihen an den weißen Wänden standen.
In den sogenannten Fiebersälen aber erschienen auch nachts die barmherzigen Schwestern und näherten sich den am schwersten Kranken, um die welken Hände an Marmorkügelchen zu kühlen, und sie dann auf die glühenden Schläfen der Bewußtlosen zu legen, voller Aufopferung des eigenen Ichs, völlig aufgehend im Dienste der Menschheit.
Diese wahren Engel der Barmherzigkeit neigten sich liebreich selbst über das Schmerzenslager der verworfensten Dirne. Nur war ihre Zahl zu gering, um allen Bedürfnissen zu genügen. Gleichwohl taten sie, was sie konnten und wachten die ganze Nacht. Und dies erst ist das wahre Gebet, solche schlaflose Nacht, unter stöhnenden und jammernden Kranken verbracht!…
Auf dem Gange lagerten sich die Schatten der Nacht. Nur kleine Lämpchen an der Decke warfen matten Schein auf die weißen Wände, an denen hier und da ein schwarzes Holzkreuz hing.
Ab und zu nur wurde mitten in dieser Stille eine Saaltür geöffnet und heraus trugen einige Männer eine in ein Laken gehüllte, starre Leiche.
Sie legten sie behutsam auf die Tragbahre und zogen dann diese auf Rädern, wie einen Leichenwagen, so leise wie möglich den mit Decken belegten Gang entlang.
Beim matten Lampenlichte traten die Umrisse der Toten deutlich hervor unter dem Laken, als wollten sie sich stumm verabschieden von ihren Leidensgenossinnen hinter den verschlossenen Saaltüren.
So verlief der Leichenzug aller Verlassenen und Vergessenen, um die sich niemand kümmerte und denen niemand eine Träne nachweinte…
„Johann! Johann!“
So schallte dumpf und schaurig in jenen öden, fast stockfinsteren Saale noch immer der Ruf der halb wahnsinnigen Käthe.
Sie, die vor sich selber sich schämte, ihre Anhänglichkeit an den Mann zu bekennen, der sie in das Verderben stürzte, in der Todesstunde rief sie unaufhörlich seinen Namen.
Immer wieder trat er ihr auf die zitternden Lippen, bis er in das Röcheln der Sterbenden überging.
Selbst die Bußpsalmen übertäubte er, die man der bewußtlosen Sünderin vorzubeten versuchte.
Alles verdrängte und dämpfte er und kam immer wieder zum Vorschein, als verkünde er jenen ewigen Triumph des Mannes über das Weib, selbst im letzten Stündlein aller Erdenqual.
Das Haupt zurückgebeugt auf das harte Wachstuchkissen, mit aufgelöstem Haar, mit starren Augen, rief diese lebende Leiche, dieses prächtige Weib, welches als Spielball eines Mannes vernichtet wurde, immer und immer wieder noch jetzt dessen Namen und verzieh ihm all ihre Marter und möchte ihm noch die Hand küssen, wie ein Hund die des Herrn leckt, die ihn blutig geschlagen.
Und endlich nahte die Nacht, in der all ihr Stöhnen verstummen sollte und der einzige Ruf ihrer Lippen.
Ihre Wärterin schlief hart und fest in einer Ecke des Saales nebenan. Also lag sie allein, von allen verlassen und so entkräftet vom langen Kampf um ihr Leben, daß sie dem Tode nicht länger Widerstand leisten konnte.
Nur mattes Licht warfen die Lämpchen noch in den dunklen Saal.
Käthe lag fast regungslos da. Die Hände allein gewannen plötzlich wieder Kraft. Mit ihnen schien sie etwas zurück zu stoßen, etwas, das sich zu ihr drängte und das nur ihr sichtbar war. Weit riß sie die Augen auf.
Ihrer Brust aber entrang sich ein heiserer Laut, das Röcheln eines Sterbenden. Auf ihr Antlitz fiel es wie ein Schleier, wie ein grauer Flor, der ihre Züge verlängerte und Kinn und Nase verschärfte. Immer mehr fielen die welken Wangen ein und bildeten rechts und links tiefe Gruben. Das Haar sogar verlor allen Glanz und wurde immer fahler und die Augen verglasten, wie mit Emaille überzogen.
So schien alles an ihr zu ersterben, immer grauer und bleicher zu werden, als verwandle sie sich in eine Eisscholle, die weder Gutes, noch Böses mehr tun kann.
Wie vereist auch reckten sich die Beine, so kalt und starr, samt den ausgestreckten Füßen.
Nur die Arme, so welk und dünn, wie die eines Gerippes, bewegten sich noch ein Weilchen in der Luft. Dann sanken sie auf das Bett herab, dicht an den Körper, als bereiteten sie sich dazu vor, im Sarge zu liegen.
Käthe lag im Verscheiden…
Keine Menschenseele befand sich in dem öden, dunklen Saale. Sie allein lebte noch dort, wenn dies noch leben zu nennen war.
Manchmal noch trat im Lampenschein ein schwarzes Holzkreuz an der Wand hervor.
Käthe aber sah es nicht und sah überhaupt nichts mehr. Nur ihre Lippen regten sich noch einmal und leise, kaum hörbar, flüsterten sie: „Johann! Johann!“…
Dann wurde sie starr und steif und nahm jene fahle Leichenfarbe an, die sich öfters sofort nach dem Tode zeigt.
Durch diesen noch vergrößert, blickte ihr Körper unter der Decke wie eine riesige Marmorstatue mit dem Ausdruck einer klagenden Waise in den weit geöffneten, starren Augen hervor.
Das graue Licht der Morgendämmerung fiel nur spärlich durch die dicken Fensterscheiben des Anatomiesaales auf die Marmortische und die darauf liegenden Instrumente.
In der Mitte des Saales standen einige Herren in Überziehern mit verknüllter Wäsche und nach schlafloser Nacht bleichen Gesichtern und plauderten leise. Augenscheinlich gingen sie unmittelbar nach dem Frühstückskaffee an die Arbeit, um mit zitternder Hand die scharfen Messer zu führen oder die gestern präparierten Leichenteile hermetisch in Büchsen zu verschließen.
Düster und ernst erhoben sich die kahlen, hohen Wände des Saales. Die hochstehenden Fenster waren vergittert wie im Gefängnisse. Die Wände entlang standen Tische, oder vielmehr lange Tafeln mit Marmorplatten. Jede Platte war an beiden Seiten mit einer Blechrinne und einem daran befestigten großen alten Schwamm versehen.
Dies war jedoch nicht das eigentliche Prosektorium, sondern der nur im Sommer geöffnete Präpariersaal für Ferienstudien der in der Stadt verbleibenden Studenten, denen zu diesem Zwecke die Leichen aus dem Spital überwiesen wurden.
Durch die halb geöffnete Tür sah man eine ganze Reihe von musterhaft sauber gehaltenen Sälen mit gewichstem Fußboden, so blank wie im Ballsaale und mit allerlei Schränken voll der interessantesten Gegenstände, wie verschrumpfte Mißgeburten in zu engen Büchsen, oder Totengerippe in den verschiedensten Stellungen, oder Schädel, so blendend weiß, wie Marmor, oder einzelne Knochen, sorgfältig geordnet und mit Zettelchen bezeichnet.
Kurz, alles was vom Menschen nach ausgerungenem Lebenskampfe übrig bleibt, war dort im Dämmergrau des Morgens ausgebreitet und grausig in seiner Regungslosigkeit anzusehen, wie die Reste eines Schmauses von Menschenfressern, die nur die Knochen ihrer Todfeinde übrig ließen und zum ewigen Andenken aufbewahrten.
Eine wahre Kirchenstille herrschte in jenen Sälen, als fehle dort nur noch der Wachholder- und Weihrauchduft.
Im Feriensaale dagegen enthielten die Schränke nur Schürzen, Handtücher und Lappen.
Auf Messinggestellen standen Glasgefäße in Retortenform und auf Drahtgeflechten waren Hautstücke zum Trocknen ausgespannt wie Fledermäuse. Auch in den Glasgefäßen hingen an weißen Fäden in allen Farben schillernde Körperteile und in hermetisch verschlossenen Büchsen wurden unter Glyzerin oder Spiritus sorgfältig präparierte Hände und Füße aufbewahrt.
Mitten im Saale standen noch immer die Studenten und plauderten.
Mit der Arbeit hatten sie es nicht eilig. Mehr oder minder verlebt und fast lebensüberdrüssig, erzählten sie sich allerlei Schnurren.
In der Ecke des Saales schien ein bestaubtes Frauenskelett vornübergebeugt diesen Schnurren, meist Liebesgeschichten, zu lauschen, die in dieser Stätte des Todes so seltsam klangen.
Jahrelang schon stand dies Gerippe dort und hörte so manches und bog sich, längst vergessen, immer mehr aus den Drähten und lachte mit dem Totenköpfen eigentümlichen Grinsen über diese mit ihren Eroberungen sich brüstenden Männer, oder über sich selbst, und seinen früheren Leichtsinn…
Plötzlich verstummten die Plaudernden.
Hinter der Wand erschallte ein Glöckchen, so hell und rein, als rufe es im Kloster zur Frühmette oder Vesper.
Sofort veränderte sich vollständig der Gesichtsausdruck der Studenten und jede Spur von Abspannung oder Leichtfertigkeit verschwand.
Das Glöckchen rief sie aus dem Bereiche ihrer Kneipenliebschaften zur Arbeit und zur Wirklichkeit.
Als es zum zweitenmal erschallte, vernahm man ein dumpfes Geräusch hinter der Wand und einer der Studenten, ein breitschultriger Blondin, näherte sich derselben, um mit dem Finger auf einen großen Holzknopf zu drücken.
Langsam schob sich die Wand auseinander und zeigte eine viereckige Öffnung.
In dieser befand sich eine Art von dunkler Kammer mit hölzerner Plattform, die auf breiten Eisenspangen ruhte und auf welcher zwei in grobe Laken gehüllte Leichen lagen.
„Ein Weib und ein Kind!“ rief der Blondin vornübergebeugt und streckte gleichzeitig die Hand aus nach der größeren Leiche, deren Umrisse fast die Falten der Leinwand ausfüllten.
„Das Weib ist für mich!“ rief er und niemand bestritt ihm dies Eigentumsrecht.
Man scherzte sogar darüber.
„Wie? Sogar die Toten nimmt er ausschließlich für sich in Anspruch?“
Er aber hörte nicht mehr, sondern zog die Leiche schon aus der Öffnung heraus mit Hilfe des buckligen Wärters, der gleichzeitig mit dem Glockenschall im Saale erschienen war.
Die Leiche war ungewöhnlich schwer, ein Prachtexemplar!
Das gab ein famoses Skelett für seine Studierstube. Dort stellte er’s unter die Photographien all seiner Geliebten, die schon die halbe Wand einnahmen.
Darunter befindet sich auch die Julias, jener bleichen Gattin des alten Geizkragens, mit der er so oft vor das Tor gefahren war.
Welch köstlicher Gegensatz, jenes kleine, dralle Weib und dieses Riesenskelett.
Wozu aber mußte gerade solch herrlich gebautes Weib so vor der Zeit sterben?
Kaum lag Käthes Leiche auf der Marmortafel und schon riß Julias Geliebter die letzte Hülle von ihr herab.
Und zum letzten Male zeigte sich dieser Körper in all seiner glänzenden Schönheit und blendete fast, obgleich schon entstellt von der Krankheit und dem Tode, noch mit den Resten seiner Pracht die Augen der Anwesenden.
Obgleich alle Studenten sich dicht um die Tafel scharten und selbst an schlechten Witzen es nicht fehlen ließen, rötete keine Scham mehr die bleichen Wangen. Wie erstarrt in all ihrer Marter lag sie mit weitgeöffneten Augen ruhig da, trotz ihrer Nacktheit inmitten dieser noch von der durchschwärmten Nacht ermatteten Männer.
Ihr Leben lang gequält wie ein Lastvieh, ausgebeutet an Leib und Seele, betört, verraten, mißhandelt und halb verhungert, opferte sie noch den zermarterten Körper dem Wohle der Menschheit, – dem Messer, welches nur zu bald ihr Fleisch zerwühlen würde.
In der Tat, so ward es zur wahren Karyatide der Gesellschaft, dies elende Weib aus dem Volke, dieses Saumtier der Arbeit in den Händen andrer Weiber, schlecht genährt und Tag und Nacht gequält und schlafend auf der nackten Erde.
Ohne jeden Strahl von Licht und Sonne trägt solche Karyatide die ganze Last der Arbeit und des Unglücks auf ihren Schultern…
Und will sie als Weib ihre Bestimmung erfüllen, so muß sie ihr Kind in Not und Elend gebären, und es entweder auf die Straße werfen wie einen jungen Hund oder, wenn kein anderer Ausweg sich findet, es umbringen mit eigener Hand…
Der Mann dagegen verfolgt solche Unglückliche wie ein Jagdhund und stößt sie, oft nur, um eine augenblickliche Laune, ein flüchtiges Verlangen zu befriedigen, in den Abgrund der Schande und Verzweiflung.
Und nur zu bald vergißt er sogar die Züge und die Gestalt derjenigen, die er zum Fehltritt förmlich zwang, und wälzt alle Folgen desselben auf ihre Schultern.
So wird sie zur Karyatide, ruft aber, verborgen in Schatten, in Lumpen gehüllt, mit lauter Stimme nach Licht und Brot.
Und dennoch nimmt solch ein Wesen eine wichtige Stellung ein in jedem Hause, verkehrt fast beständig mit den Kindern und beeinflußt deren Charakter.
Trotzalledem ist und bleibt sie nur eine Sklavin mit – breiten Schultern und niemand kümmert sich um ihr Verhalten, niemand fragt nach ihrem Herzeleid…
Mechanisch legte der Blondin die Hand auf Käthes entblößte Brust, wie der Herr der Schöpfung auf sein lebendes oder totes Eigentum.
Als er diese mächtige Brust so hart wie Marmor und so blendendweiß in den Strahlen der Morgensonne vor sich sah, war ihm, als habe er diese Frauengestalt schon einmal gesehen und in den Armen gehalten.
„Jawohl!“ murmelte er. „Irgendwo hab’ ich diese Maschine schon mal gesehen!“…
Dann ergriff er mit der Rechten das Messer und gedachte dabei jenes heißen Kampfes im Bildhauer-Atelier, wo er mit Fieberglut auf den Wangen mit Gewalt sein Verlangen befriedigen wollte.
Und zögernd nur senkte er das in der Sonne blitzende Messer in die schneeweiße Brust…
Zum letztenmal opferte dem Dienste der Menschheit ihren Körper – Käthe, die Karyatide…