Ketzereien zum Büchertag

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Textdaten
Autor: Carl von Ossietzky
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Titel: Ketzereien zum Büchertag
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. 25. Jahrgang 1929, Nummer 12, Seite 441-445.
Herausgeber: Carl von Ossietzky
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 19.03.1929
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. 25. Jahrgang 1929. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978. Scans auf Wikisource
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Ketzereien zum Büchertag von Carl v. Ossietzky

Jetzt ist also auch das deutsche Buch in den großen Kreis derer getreten, für die „etwas getan werden muß“, und um etwas zu tun, setzte man unter dem Patronat des Herrn Külz einen „Tag“ an. Alle Buchhandlungen werden ihr Unglück schön dekoriert feilbieten, und vom Rednerpult und durchs Mikrophon wird höflichst gebeten werden, das deutsche Buch nicht sterben zu lassen.

Die Frage, wie der deutsche Verlagsbuchhandel in seine heutige miserable Lage gekommen ist, soll hier nicht in ihren letzten wirtschaftlichen Ursachen durchleuchtet werden, was doch schließlich immer auf den Nachweis hinausliefe, daß die Armut von der Powerteeh kommt. Das deutsche Volk ist nachweislich ärmer geworden, seine Lebenshaltung hat sich verschlechtert, sein geistiger Habitus reduziert, aber an der Bücherproduktion sind diese nicht ganz geheimen Tatsachen ziemlich spurlos vorübergegangen. Auf ein Volk, das in breiten Schichten einem heitern Analphabetentum zustrebt und dessen heranwachsende Generation auf leichten Kreppsohlen über den von den Vätern gehäuften Bildungshausrat steigt, kommt ein Büchersturz herab, als wäre jeder einzelne unsrer Mitbürger ein Dichter und ein Denker und jeder dritte Mann ein Studienrat.

Lebenskraft und Unternehmungslust unsres Buchgeschäfts sind gewiß nicht zu verachten, aber in der Grundkalkulation muß da etwas nicht stimmen. Der Appetit nach Geistesfutter wird weit, weit überschätzt, und um ihn zu reizen, greift man zu Mitteln, die wohl vorübergehend begehrlich machen, aber im ganzen die geistigen Aufnahmeorgane abstumpfen.

Hinzu kommt, daß der Verlagsbuchhandel, der sich so willig dem sagenhaften Rhythmus der Zeit anvertraut, nach seiner ganzen Art sehr konservativ ist. Von welch unüberbietbarer komischer Kraft ist nicht dies sein Börsenblatt, wo tummeln sich mehr Irish bulls als dort? Der in Leipzig residierende christliche Buchhandel ist vor allem auf seine Tradition stolz, dazu gesellt sich auch ein geist-politisches Rückschrittlertum, [442] das sich kein Stand gestatten sollte, der jene Güter verwaltet, die Vergangenheit und Zukunft verbinden. Für den Daseinskampf ist die Repräsentation des Buchhandels mehr mit Anmaßungen als Ideen gepanzert und in der Propaganda, gelinde gesagt, etwas zurück. Wie steifleinen waren nicht allein diese Aufrufe zum Büchertag! Mit welchem Wortschatz wurde da nicht an einen Menschentyp appelliert, den es überhaupt nicht mehr gibt, vielleicht niemals gegeben hat! Man sehe sich nur dieses unfreudige, einschläfernde Propagandaplakat an mit der welken Goethemaske, das ganz im Geschmack von vor zwanzig Jahren gehalten ist und damals „Nocturno“ oder „Totenopfer“ geheißen hätte und heute wie eine vor Alter schwarz gewordene Blaue Stunde wirkt.

Sei es. Auch ein besseres Plakat hätte die Frage nicht gelöst, wie dem deutschen Buch zu helfen ist. Denn die Ursache der Krise liegt in der Literatur selbst, und der Verleger ist auch nur Opfer, wenngleich er mit nervösen Experimenten oft verschlimmernd dazwischengreift. Seit der Auflösung des Expressionismus hat sich ein alles-verschlampender Eklektizismus ausgebreitet, der keine Gesetze oder Richtmaße mehr kennt, sondern nur die alles umfassende Liebe, mit der die Herren Buchrezensenten jede halbwegs erfolgreiche Erscheinung begrüßen. Es gibt kaum noch Autoren, die auf den Stolz des eignen Stils, der eignen und selbsterrungenen Form halten. Alles vermischt und vermanscht sich. In einer Saison torkeln in hundert Nachahmungen alle Stilarten der Weltliteratur über den Markt und verscheuchen mit ihren großsprecherischen Bauchbinden das Publikum mehr als daß sie es verlocken. Die Buchkritik der großen Zeitungen hält sich in allem Prinzipiellen durchweg in zornloser Toleranz; eingeengt zwischen Inseratenspalten ergeht sie sich ohne die Mühe einer Begründung in lobenden oder verdonnernden Superlativen. Sie gibt Schlagworte über das Buch, nichts von seinem Inhalt. Im Allgemeinen überwiegt die Neigung zur Überschätzung, und über jedem belletristischen Windei rauschen die Flügelschläge der Ewigkeit.

Schnell sind seit zehn Jahren literarische Moden gekommen und gegangen, und geblieben ist nur ein riesiger unsortierter Bücherhaufen. Grade unter den geistigen Menschen: herrscht eine ungeheure Überfressenheit an Literatur, ein Mißtrauen gegen Werdendes, eine spöttisch verneinende Haltung gegen alte Bildungswerte. Und die große Menge der Bücherleser irrt ohne Kompaß und Chronometer im Zauberwald der Neuerscheinungen, faßt wahllos zu, ist bitter enttäuscht, wenn der best seller nicht den heiß gegessenen Superlativen entspricht und schwört es sich zu, sich möglichst von „Modernem“' fernzuhalten. Einen Monat später ist der best seller versackt ...

Der Erfolg von Büchern wird in Berlin gemacht, von ein paar Blättern und – sagen wir – einem Dutzend Kritikern. Das hat seine ernsten Folgen. Diese Bemerkung ist nicht polemisch, sondern konstatierend, die Entwicklung geht dahin, und die Bannflüche des Herrn Eugen Diederichs werden daran [443] nichts ändern. Dadurch wird wohl einer Novität zum Durchbruch verholfen, günstigstenfalls eine Mode gestartet, aber für das geistige Gesamtniveau ist gar nichts getan. Wo der kurze Aktionsradius der literarischen Kritik aufhört, taumelt Kunst und Kitsch durcheinander, und kein Instinkt erkennt die Merkmale. Wer sich nur ein paar Tage lang das Börsenblatt des Buchhandels ansieht, der bekommt eine schwache Ahnung davon, wie es um das Lesebedürfnis aussieht und welches Genre bevorzugt wird. Da stößt man auf höchst erfolgreiche Schriftsteller, deren Name selbst besten Kennern und Beobachtern von Neuerscheinungen kaum jemals aufgefallen ist und auf Auflagezahlen, die unsern bekanntesten literarischen Verlegern den Atem rauben können. Wer weiß heute noch von dem Dichter Richard Voß? Aber sein Roman „Zwei Menschen“, vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren erschienen, hat heute die Riesenauflage von 620 000 erreicht, wovon auf die Zeit seit 1926 allein 77 000 entfällt. Dies nur als Beispiel, wie wenig die Parolen der literarischen Wetterstationen das Publikum wirklich beeinflussen.

Ein breiter Riß zieht sich hin zwischen Literatur und Volk. Der Film hat die Sehnsucht nach Bewegung und Geschehnissen wieder erweckt, die psychologisierende Epoche beendet und die ungezählten „stillen Bücher“ auf ewig still gemacht. Die Verleger aber machten aus der Not eine Konjunktur. In schrankenloser Fülle fluteten Abenteurerbücher auf den Markt. Nicht mehr die lieben alten Schmöker von einst mit den knallbunten Deckeln und der Moritat darauf, sondern sehr raffiniert mit den neusten Mitteln der Aufmachung. So ein Goldmannscher Edgar Wallace mit Photomontage sieht von weitem fast aus wie ein Upton Sinclair vom Malik. Der Erfolg des Herrn Wallace in Deutschland ist überhaupt die offensichtliche Niederlage unsrer Romanschreiber. Hier wird der Hunger nach Handlung mit einer rohen Häufung von Sadismen gefüttert, ohne den geringsten Kitzel für die Intelligenz, ohne den geistigen Spaß am „Fall“. Aber der Schmöker von einst sieht jetzt aus wie ein richtiges Buch und ist von der verschämten Sünderecke in den vordersten Schaukasten gerückt, neben die pikfeinsten literarischen Erzeugnisse. Der Erfolg egalisiert, Schund steht mit ruhiger Selbstverständlichkeit neben Qualität. Die Distanz ist aufgehoben, es gibt keine Wertmaße mehr.

Der bedrängte Verleger aber braucht Erfolg um jeden Preis. Er bestellt, impft Ideen ein oder was er dafür hält, zwingt einen Autor, der zu Dunkel neigt, hell zu schreiben; er verwirrt ihn, nimmt ihm den persönlichen Zug. Oder er nötigt einen Autor, den ein Zufallserfolg hochgehoben hat, nun weiter auf gleichem Feld zu ackern, er lehnt andre Vorschläge als nicht zugkräftig ab. Er raubt seinen Leuten damit das Recht auf die Entwicklung, nimmt der Literatur den Reiz der Vielfältigkeit, stellt seine genormten Autoren wie gespießte Schmetterlinge nebeneinander. Oder er greift kritiklos auf, was ein Andrer grade mit Erfolg begonnen hat. Der Respekt vor dem Original, vor der Einzigartigkeit einer Leistung ist dahin. Rasende Reportage, Petroleum, Kriegsromane [444] – eben wars noch neu und eine Idee. Und gleich ist es abgegriffen, durch Dutzende von Nachahmern verkleinert und als Genre verdächtig gemacht. Erreicht ein Buch, neuartig in Form oder Motiv, in ein paar Tagen Beachtung, so heißt es gleich in soundsovielen Verlagskontoren: „So etwas müssen wir auch haben!“ In diesem Wort liegt das ganze Unheil des deutschen Buches beschlossen. Die Tätigkeit zahlreicher deutscher Verleger ist nicht mehr als eine geistverlassene Doublettenzucht. Wenn einer einen Einfall hatte, leben sofort zwanzig Konkurrenten davon. Mit dem Vorangehen steht es allerdings schlechter. Es wird erzählt, daß Erich Maria Remarque, ehe er mit seinem Kriegsroman zu Ullstein kam, von drei großen und notablen Verlagen abschlägigen Bescheid erhalten habe, und Ludwig Renn sogar soll bei 16 (sechzehn) Verlagen vergebens angepocht haben.

Dann kam der Dokumentenfimmel. Die literarischen Moden, spekulierte man, vergehen, aber die Wirklichkeit kann uns niemand rauben. So begann die Jagd nach Dokumenten, die diese Wirklichkeit in präzisen kleinen Ausschnitten packten oder nach solchen Büchern, die ein Stückchen Wirklichkeit mit der Zeitlupe bezwungen hatten. Diese Zeitlupenbücher sind schon heute durchweg nicht mehr zu lesen. Denn das Auge will auch die Weite, und wer könnte dauernd durchs Mikroskop blicken? Die Menschen Balzacs und Dostojewskis, sind visionär, sie überzeugen von ihrem Leben, ohne durch Unterschrift legitimiert zu sein.

Natürlich haben auch die Dokumentenbücher einigen Nutzen gehabt. Sie haben bestimmte soziale Einblicke gegeben, die uns die Zeitungen versagt haben, weil der Radikalismus gewöhnlich beim lokalen Teil aufhört und dort, wo die härteste Wahrheit am Platze wäre, der vom Verlag vorgeschriebene Sozialoptimismus mildeste Pastellfarben aufträgt. Vor vielen Jahrzehnten hat Gustav Freytag bekanntlich „das deutsche Volk bei der Arbeit aufgesucht“, und das Bild, das er mitgebracht hat, haben auch die härtesten Schrubber des Naturalismus nicht ganz abkratzen können. Hier haben ein paar Außenseiter mit Erfolg korrigiert und den melodramatischen Einschlag beseitigt, den das Volksleben in der Literatur niemals ganz verloren hat. Aber sofort wurde daraus ein Kultus des Dokuments, und heute will jeder welche bringen. Als Wieland Herzfelde seinen Harry Domela startete, war es ein Geniestreich. Aber jetzt ist auch diese Sparte schon gründlich ausgewalzt, und es muß einmal mit aller Bescheidenheit vermerkt werden, daß jemand, der mit Erfolg Brieftaschen geklaut hat, deshalb noch nicht der Träger einer schriftstellerischen Sendung zu sein braucht. Auch das Dokument ist ohne Gestaltungskraft nicht denkbar, und es bedeutet eine Täuschung, ungestalte und farbenleere Skripturen zu offerieren, bei denen das „Milieu“, das die gutartigen Rezensenten nachher als besonders gelungen ankreiden, von den Verlagslektoren nachträglich in den Bürstenabzug hineingepinselt worden ist. Die Überschätzung von Amateurleistungen führt zur Mißachtung der einfachen Wahrheit, daß auch Schreiben eine [445] Kunst ist, die gelernt werden muß. Es ist ein schlechtverstandener Kollektivismus, der neuerdings einige unsrer erfolgreich Schaffenden unter ihr Publikum drängt, um es gleichsam am Schöpfungsakt teilnehmen zu lassen. Es ist ein etwas blamabler Vorgang, wenn ein Schriftsteller von der hohen Qualität Jacob Wassermanns einen Schwarm von Teegänsen um sich versammelt und ein Referendum über die weitern Schicksale des Knaben Etzel veranstaltet. Aber vielleicht liegt dahinter doch eine große Hilflosigkeit, der Wunsch nach Vereinigung von Literatur und Gegenwart. Denn nicht nur thematisch ist die Literatur hinter der Zeit geblieben, sondern mehr noch sprachlich. War jemals die Buchsprache so entfernt von der Umgangssprache, ja selbst von der Sprache, die der Gebildete, des Ausdrucks Mächtige in seinen Briefen gebraucht –? Die einzelnen Berufe schon haben ihr eignes Vokabular und ihre eigne Dialektik, sie haben mehr als ihren Jargon, es sind schon fast gültige Sprachen. Das Volk spricht anders als selbst in den lebendigsten Büchern von heute gesprochen wird. Das ist wahr. Aber ebenso wahr ist, daß das Volk wieder von den Büchern nichts wissen will, in denen der Autor sich bemüht hat, die Alltagssprache einzufangen, denn das ist den Leuten dann wieder nicht fein genug.

Das ist ein sehr großes Dilemma, und man ahnt hinter alledem die Götterdämmerung, das Heraufkommen eines neuen Barbarentums, das schrecklich aufräumen wird unter den Werten, an denen wir heute noch hängen. Dem fettgewordenen Geist steht eine harte Abmagerungskur bevor, aber er wird daran nicht sterben, sondern jung und sehnig wieder aufstehen. Heute wird noch die Ablaßglocke geläutet und für den Buchbetrieb die liebe Caritas auf die Beine gebracht. So mag es denn sein, und wer möchte als höflicher Mensch auch Herrn Külz widersprechen? Aber an einem andern Tag, der vielleicht noch sehr fern liegt, wird es keine mildtätige Losung mehr geben. Dann wird es heißen, das zu stoßen, was doch fallen will.