Kleine Fälschungen

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Autor: Dr. Söhns
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Titel: Kleine Fälschungen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 562–563
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Kleine Fälschungen.

Wie Geldstücke, während sie von Hand zu Hand gehen, allmählich ihren ursprünglichen Glanz, ihre ursprüngliche Reinheit verlieren, so daß man häufig kaum noch das Gepräge erkennt, so ergeht es auch vielgebrauchten Redewendungen, Citaten, „geflügelten Worten“: sie „haben ihre Schicksale“. So das prosaische Wort, so noch mehr das poetische, weil bei seiner Wandlung nebenbei auch Rhythmus und Geschmack eine besondere Rolle spielen.

Welch berühmter Ausspruch der Toleranz des großen Friedrich: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden!“ Aber hat er diesen Ausspruch jemals gethan? Thatsächlich nicht, er hat ihn nur niedergeschrieben in seiner absonderlichen Orthographie und mit etwas abweichendem Wortlaut: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.“

Und wer ist der Vater des allgemein bekannten „beschränkten Unterthanenverstandes“? Man sagt wohl, es sei Herr von Rochow, der Minister des Innern unter Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Als nach der mannhaften That der „Göttinger Sieben“ (1837) eine Anzahl Elbinger Bürger eine Anerkennungsadresse an die muthigen Männer gerichtet hatte, erhielten sie von Herrn von Rochow den amtlichen Verweis, daß es dem Unterthan nicht gezieme, an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner „beschränkten Einsicht“ anzulegen. Und wenn nun diese beschränkte Einsicht in der Folgezeit zum beschränkten „Unterthanenverstande“ wurde, ist Herr von Rochow immer noch der Schöpfer desselben zu nennen?

Wir kommen zu der großen Anzahl umgewandelter Worte der Poesie. Um ganz zu schweigen von dem allgemein bekannten Schillerschen Mohren, der in der ganzen Welt seine „Schuldigkeit“, bei Schiller dagegen seine „Arbeit“ gethan hat und dann gehen kann – wer kennt sie nicht, „die schönen Tage von Aranjuez“, von denen Domingo Don Carlos gegenüber meint, daß sie nun „vorüber“ seien. Sagt er wirklich wörtlich so? Schiller läßt ihn sagen:

„Die schönen Tage in Aranjuez
Sind nun zu Ende.“

Und „der Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden“, scherzt dieser und jener, obwohl Schiller klar und deutlich geschrieben hat:

 „Der Knabe
Don Karl fängt an, mir fürchterlich zu werden.“

Und weiter, äußert der König Philipp nicht Marquis Posa gegenüber: „Stolz liebe ich den Spanier“? Gewiß nicht, sondern: „Stolz will ich den Spanier“. – Wie das Volk mit Königreichen umspringt! „Ein Königreich für ein Spiel“, sagt der Jünger des edlen Skat und parodiert dabei bekanntlich die Worte Richards III., der nach der verlorenen Schlacht von Bosworth bei Shakespeare verzweifelnd ausruft: „Ein Pferd! ein Pferd! ein Königreich für ein Pferd!“ Ja, so sagen wir; bei Shakespeare aber hat der Ausspruch einen anderen Wortlaut und die Schlegelsche Uebertragung übersetzt sehr richtig dem Urtext nach: „Mein Königreich für’n Pferd.“

Das Dichterwort muß sich eben mancherlei willkürliche Behandlung gefallen lassen, es geht ihm wie dem „feinen Knaben“, zu dem Erlkönig spricht: „Und folgst du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ Manch liebes Mal haben wir so gelesen, ehe wir bemerkten, daß Goethe eigentlich doch „Und bist du nicht willig“ geschrieben hat.

Fast noch gewaltsamer ist man mit dem Ausspruch Tassos (II, 1.) umgegangen: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt“. Wer kennt es nicht, das beliebte: „Man merkt die Absicht und man wird verstimmt“?

Auch falsch lesen kann man mit Beharrlichkeit, Gewohnheit der Auffassung macht das Auge blind. Der Verfasser hatte als „Pennäler“ einen übrigens sehr verehrten Lehrer, der nach fruchtloser Anstrengung, irgend einem der schwachköpfigen Knaben die hohen Lehren der Mathematik beizubringen, ab und zu mit der Entsagung des sterbenden Talbot zu äußern pflegte: Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“ Was Wunder, daß wir alle, die wir zu seinen Füßen gesessen hatten, noch lange Jahre nachher nicht ahnten, daß er wörtlicher hätte sagen müssen: „Mit der Dummheit“ etc. Und den ebenfalls der „Jungfrau“ entnommenen Spruch: „Den stolzen Sieger stürzt sein eignes Glück“, wer hätte ihn nicht oft genug schon gelesen und gehört als: „Es stürzt den Sieger oft das eigne Glück“? Man ist dabei ebenso umbildend vorgegangen wie mit dem bekannten Worte Max Piccolominis: „Die Uhr schlägt keinem Glücklichen“, das man fast nur gebraucht in der Form: „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“. – Einzelne Aenderungen liegen auch hie und da theils der Auffassung, theils der Zunge besser als der ursprüngliche Ausdruck. So kann man sich kaum wundern, wenn man so oft, ja fast durchgehends Schillers Alpenjäger anführen hört: „Willst du nicht die Lämmlein hüten“, anstatt des in seiner Verallgemeinerung weniger ansprechenden „das Lämmlein“.

„Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
Gegrüßt Ihr schönen Damen –“

deklamirt fast jeder Schüler, und wenn ihn der Lehrer nicht verschiedentlich und nachdrücklich auf die Interpunktion des zweiten Verses „Gegrüßt Ihr, schöne Damen!“ aufmerksam macht, so nimmt er den Vers natürlich mit der kleinen Fälschung ins Leben hinüber, um ihn stets zu wiederholen, wie er ihn gelernt hat.

„Von dem Dome, schwer und bang,
Tönt der Glocke Grabgesang –“

Mindestens die Hälfte derjenigen, welche diese Verse der „Glocke“ bei irgend einer Gelegenheit anziehen, wird durchaus keine Rücksicht nehmen auf den thatsächlichen, freilich der gewöhnlichen Sprach- und Denkweise ferner liegenden Wortlaut:

„Von dem Dome, schwer und bang,
Tönt die Glocke Grabgesang.“[1]

[563] Und Tells Knabe, zieht er nicht allgemein

„Mit dem Pfeil, dem Bogen
Durch Gebirg und Thal – –
Früh im Morgenstrahl,“

anstatt des wörtlichen, aber wieder ungewöhnlicheren „am“ Morgenstrahl?

„So kann ich hier nicht ferner hausen,
Mein Freund kannst du nicht länger sein,“

läßt der Schüler mit dem Brustton der Ueberzeugung den Amasis zu Polykrates sprechen und stößt sich nicht im geringsten daran, daß in seinem Schiller „nicht weiter sein“ die einzig angegebene Lesart ist. Der Verfasser – und gewiß mancher der Leser mit ihm – hat in seiner Jugend in schwerer Arbeit über dem Thema gebrütet: „Wo viel Licht ist, ist viel Schatten,“ ohne zu ahnen, daß die Worte, die Götz dem Weislingen gegenüber äußert, genauer lauten: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ –

„Die Nürnberger henken keinen,
Sie hätten ihn denn zuvor –“

ruft man wohl scherzhaft demjenigen zu, der irgend eine Drohung einem Manne gegenüber ausspricht, dessen er zunächst noch gar nicht habhaft geworden ist. Man meint, so habe der Edle von Gailingen, als er, zum Tode verurtheilt, kurz vor seiner Abführung zum Richtplatz durch einen tollkühnen Sprung „hoch zu Roß“ über den Nürnberger Stadtgraben sich rettete, den mit etwas verdutzten Gesichtern ihm nachblickenden Nürnbergern zugerufen. Der Ueberlieferung nach drückte er sich ein wenig anders aus, nach ihr lautete der zweite und wichtigste Theil seines Ausspruches: „Sie hätten ihn denn vor.“ Eine spätere Zeit hat natürlich dieses ihr mehr ungeläufig als unverständlich gewordene „vor“ in „zuvor“ umgewandelt. Aber noch Schiller in den „Räubern“ läßt seinen Razmann den Ausdruck wortgetreu anführen. – Bei Räubern wie die Schillerschen, die noch „Lieder haben“, sollte man sich übrigens nach Seume mit einer gewissen Seelenruhe ansiedeln können, denn

„Wo man singt, da laß dich ruhig nieder,
(Ohne Furcht, was man im Lande glaubt.
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt.)
Böse Menschen haben keine Lieder.“

Ganz recht, nur daß der erste Vers wörtlich heißen muß: „Wo man singet, laß dich ruhig nieder,“ und der letzte: „Bösewichter haben keine Lieder.“ Uebrigens ändert das an der Sache nichts, man kann sich bei singenden Räubern nichtsdestoweniger ruhig niederlassen. „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ Nun, das Liebchen könnte zunächst mit großer Berechtigung die Entfernung des bei Heine in diesen Worten durchaus nicht vorhandenen, erst durch die bekannte Komposition des Liedes eingeschmuggelten „noch“ verlangen, ebenso wie es sich nicht gefallen zu lassen braucht, daß es gemeiniglich mit: „Du hast ja die schönsten Augen“ angesungen wird, anstatt einfacher und richtiger mit: „Du hast die schönsten Augen.“ Ja, diese Lieder! „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“ singt das Volk unbeirrt fort und fort, obwohl Matthias Claudius, der Schöpfer des Liedes in seiner heutigen Gestalt, und mit ihm unsere Unzahl von Volksliederbüchern dafür lesen lassen: „wie treu sind deine Blätter,“ das heißt: wie beharrlich und selbst im Winter dauernd, wo andere Bäume von ihrem Blätterschmucke treulos verlassen werden.

Ironie des Schicksals! Je mehr Liederbücher auftauchen, um so zäher hängt das Volk an seinen Umänderungen. „Erkläret (oder gar löset) mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur!“ Müllners Originalausdruck: „Und erklärt mir, Oerindur,“ wird ängstlich gemieden. – „Je näher Rom, desto schlechter der Christ“ – freilich, Till Eulenspiegel, der Vater dieses Wortes, würde sich mit Hand und Fuß gegen die angegebene und, wie es scheint, unverdrängbare Fassung sträuben und immer wieder betonen, daß er eigentlich gesagt habe:

„Je näher Rom, je böser’ Christ.“

Ein Beispiel aus allerneuester Zeit, das uns zeigt, wie schnell sich derartige kleine Fälschungen vollziehen: „Behüt’ dich Gott! Es wär’ so schön gewesen!“ singt man nach dem bekannten Trompeterliede Scheffels, „Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein!“ So schön wäre es gewesen? Gewiß, auch! Aber im Scheffelschen Texte steht nichtsdestoweniger: „Behüt’ dich Gott! Es wär’ zu schön gewesen!“ Ist das dasselbe?

Unsere kleine Sammlung ist zu Ende; derjenige, welcher auf sich selbst und auf die Ausdrucksweise anderer bei Wiedergabe derartiger Worte achtet, wird leicht noch manches anziehende Beispiel hinzufügen können. Es ist das gar keine undankbare Aufgabe. „Es liegt ein tiefer Sinn im kind’schen Spiel,“ auch wenn man mit Schillers „Thekla“ richtiger sagt: „Hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel“. Und wer mit seinen Beobachtungen dahin sich wendet, wohin ihn Goethes „lustige Person“ mit den Worten weist:

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben,
Und wo ihr’s packt, da ist es int’ressant,“

der hat gleich den Anfang der eigenen Sammlnng gefunden, denn nicht, wie es soeben in landläufiger Gestalt angeführt wurde, lautet das Citat, sondern wörtlich:

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
(Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,)
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“

Dr. Söhns.     


  1. Aehnlich: „Laß, Vater, genug sein des grausamen Spiels“ anstatt des wörtlichen „das grausame Spiel“.