Kopf und Herz

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Autor: A. v. W.
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Titel: Kopf und Herz
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40–44, S. 465–468; 481–484; 493–496; 505–512; 521–526
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

Kopf und Herz.

Von A. v. W.

I.

Es war an einem der letzten schönen Herbsttage des Jahres 1840, als Morgens gegen neun Uhr das Thor des Schlosses Adersheim geöffnet ward, und ein leichter Jagdwagen, mit zwei muthigen Pferden bespannt, über die Brücke rollte, welche die beiden Ufer des ziemlich breiten Schloßgrabens verband. In dem Sitze des offenen, eleganten Wagens saßen zwei Männer, deren Ausrüstung ihre Absicht errathen ließ. Ein Jeder trug an der Seite Tasche und Pulverhorn, und vor sich hielt er ein doppelläufiges Gewehr. Auf dem niedern Bocke neben dem schon ergrauten Kutscher saß ein schlanker, brauner Hühnerhund, der Liebling des alten Barons von Adersheim; zwei andere jagten kläffend hinter dem Wagen her.

Der ältere der beiden Jäger war der Besitzer des Schlosses, Friedrich Baron von Adersheim. Er war ein großer, stattlicher Mann von gesundem Aussehen, und obgleich er bereits achtundfünfzig Jahre zählte, obgleich sein Haupt und sein großer Schnurrbart mehr weiße als dunkele Haare enthielt, so erlaubte ihm dennoch seine kräftige Constitution, daß er seiner leidenschaftlichen Liebe zur Jagd ohne Beschwerden nachhängen konnte. Der Baron war nicht nur als ein passionirter Jäger, sondern auch als ein guter, wackerer Mann bekannt, der allgemein geachtet und geliebt ward. Er hatte früher als Oberst in der königlichen Armee gedient, war vor zwölf Jahren ausgeschieden, und lebte seit dieser Zeit auf dem von dem Vater ererbten Rittergute, das für die reichste Besitzung in der ganzen Provinz galt.

Der Oberst war nicht verheirathet, obgleich er die Frauen gern sah. Bei seinem großen Vermögen und seinem leutseligen, verträglichen Charakter blieb seine Ehestandslosigkeit ein Räthsel; doch einige Jugendfreunde, zu denen auch sein gegenwärtiger Begleiter gehörte, wußten, daß er nicht aus Abneigung oder Vorurtheil unvermählt geblieben, sondern daß er das Andenken an seine erste Jugendliebe heilig hielt, deren Gegenstand, ein reizend schönes Mädchen aus dem Bürgerstande, ihm durch den Tod entrissen war. So lebte er einsam auf seinem Schlosse; die Leitung seiner ausgebreiteten Oekonomie war seine Beschäftigung, und die Jagd seine Freude und Zerstreuung.

Friedrich war zur Zeit, in der unsere Erzählung beginnt, der einzige Repräsentant der alten Familie Adersheim, denn sein jüngerer Bruder war vor zwei Jahren gestorben, nachdem er ein ziemlich bedeutendes Vermögen vergeudet hatte, so daß seiner einzigen Tochter Franziska, einem stolzen, hochfahrenden Fräulein, nichts geblieben, als die kleine Hinterlassenschaft der Mutter, die aus Gram über den zum Spiele und Trunke geneigten Gatten drei Jahre früher gestorben war. Die Feindschaft, die seit langer Zeit zwischen den beiden Brüdern geherrscht, hatte ihren ersten Grund in der Charakterverschiedenheit, und später in dem wüsten Leben, dem sich der Verstorbene ergeben. Franziska hatte die Abneigung ihres Vaters gegen den Obersten getheilt, und nicht selten mit großer Heftigkeit über den filzigen Hagestolz, wie sie ihn nannte, gesprochen. Seit dem Tode ihres Vaters jedoch hatte sie sich dem Onkel, den sie sonst verächtlich gemieden, wieder zu nähern gesucht, und sie war einige Mal auf Adersheim gewesen, ohne den Onkel anzutreffen. Der Oberst, obgleich Gehässigkeit nicht in seinem Charakter lag, suchte sich der Annäherung seiner Nichte, deren Grund er kannte, zu entziehen. Hatte er auch die von dem übermüthigen Fräulein erlittenen Kränkungen vergessen, so konnte er sich dennoch nicht entschließen, sie in dem verschwenderischen Leben des Vaters zu unterstützen, das sie auf ihre Weise fortsetzte.

Der Begleiter des Barons war ein westphälischer Edelmann, Eberhard von Detmar. Beide waren zu gleicher Zeit in die Armee eingetreten, hatten zusammen die Kadettenschule besucht, und jene Freundschaft sich bewahrt, die, in der Jugend angeknüpft, unwandelbar für das ganze Leben bleibt. Eberhard war auf einer Geschäftsreise begriffen, und verweilte einige Tage bei seinem Freunde, den er seit einer langen Reihe von Jahren nicht gesehen hatte. Beide fuhren heute, an dem letzten Tage ihres Beisammenseins, auf die Jagd. Der Morgen war schön, und die Freunde befanden sich in der heitern Laune, die günstiges Jagdwetter bei den Jägern stets zu erzeugen pflegt.

Unter Gesprächen, die sich meist um die fröhlich verlebten Jugendjahre drehten, hatte man nach einer halben Stunde ein anmuthiges Wäldchen erreicht. Am Rande desselben lag ein kleines, reinliches Gehöft, dessen rothes Ziegeldach und schneeweiße Mauern freundlich durch die gelben Bäume blickten. Der glatte Feldweg führte dicht an dem Thore vorüber, in dem ein junger Mann stand, und ehrerbietig grüßte.

„Guten Morgen, Philipp!“ rief der Baron. „Wie geht es Deiner alten Mutter?“

„Sie befindet sich wohl, gnädiger Herr!“

„Sage ihr, daß sie mich nächsten Sonntag besucht.“

„Zu dienen!“

„Auch läßt Marianne grüßen.“

„Danke, danke!“ rief Philipp dem dahinfahrenden Wagen nach, der in der nächsten Minute hinter einer Waldecke verschwand [466] „Jener junge Bauer,“ sagte der Oberst, „ist ein Verwandter meiner Marianne. Wunderst Du Dich nicht darüber,“ fragte er lächelnd, „daß sie dem Bauernstande angehört, nachdem Du sie kennen gelernt hast?“

„Da ich weiß, daß Du selbst keine Tochter hast,“ antwortete Eberhard von Detmar, „so habe ich sie für eine Verwandte, vielleicht für eine Tochter Deines verstorbenen Bruders gehalten. Das Mädchen ist nicht allein schön und gut, sie besitzt auch Kenntnisse und eine Tournüre, die nur in den höhern Ständen heimisch zu sein pflegt.“

„Wollte Gott, Franziska, meine Nichte, hätte Marianne’s Charakter, ich würde viel darum geben. Beide sind zwar sehr schöne Mädchen, aber in Bezug auf Sinnesart kann ich sie mit dem Nord- und Südpol vergleichen. Franziska hat alle Fehler ihres Vaters geerbt. Sie liebt den Aufwand, sie spielt, reitet und lästert wie ihr Vater. Und dabei sind ihre Einkünfte so gering, daß sie kaum zur Bestreitung eines bescheidenen Haushaltes ausreichen. Von mir hat die übermüthige Verschwenderin nichts zu erwarten, denn ich halte es für eine Sünde, einer leichtsinnigen, und fast möchte ich sagen, verderbten Person Vorschub zu leisten. Marianne hingegen ist ein Muster von weiblichen Tugenden – sie besitzt nützliche Kenntnisse, ist die Seele meiner großen Wirthschaft und wird von Allen geschätzt, die sie kennen. Und dabei spricht sie Französisch, spielt fertig das Piano und singt wie die Sontag.“

„Das ist viel,“ antwortete von Detmar. „Wenn man bedenkt, daß sie aus dem Bauernstande hervorgegangen.“ –

„Du weist noch nicht Alles!“ rief der Oberst, der mit großer Liebe von dem Mädchen sprach. „Sieh’ dorthin!“

Er zeigte auf ein verfallenes, mit schwarzem Stroh bedecktes Häuschen, das in einer Entfernung von vielleicht fünfzig Schritten an dem Abhange eines Hügels lag. Die beiden kleinen Fenster desselben waren durch zerbrochene Laden geschlossen, der Schornstein war zur Hälfte eingestürzt, und an den Lehmwänden empor wucherte das Unkraut.

„Meinst Du jene elende Hütte?“ fragte Eberhard.

„Ja!“

„Nun, was ist es damit?“

„Diese elende Hütte ist der Geburtsort Marianne’s.“

Eberhard sah seinen alten Freund verwundert an. Der Gesichtsausdruck des Obersten war plötzlich ein anderer geworden, mit ernsten, wehmüthigen Blicken sah er nach den Ruinen des Häuschens hinüber.

„Wir haben noch eine halbe Stunde bis zu dem Reviere, das wir heute durchstreichen wollen,“ sagte er, indem er gewaltsam seine Blicke von dem Punkte losriß. „Du bist mein ältester, mein bester Freund, Eberhard, und damit Du den Grund meiner besondern Vorliebe zu Marianne, die Dir vielleicht ein wenig seltsam erschienen sein mag, kennen lernst, und damit Du siehst, daß ich als alter Junggeselle dennoch eine Tochter besitze, muß ich Dir die Geschichte dieses verfallenen Häuschens erzählen, das auf mein Leben einen merkwürdigen Einfluß ausgeübt hat. In dieser Zeit,“ fügte er hinzu, „wo Franziska Alles aufbietet, sich in mein bisher so ruhiges Leben einzudrängen, fühle ich das Bedürfniß, mich der Vergangenheit recht deutlich zu erinnern und das Urtheil eines Freundes zu vernehmen. Darum höre mich an, Eberhard.“

„Ich kenne Dein Herz, Friedrich, und darum glaube ich Deine Handlungen richtig beurtheilen zu können.“

„Es sind diesen Herbst elf Jahre, daß ich, nur von meinem Kammerdiener begleitet, jenen Busch durchstrich, um ein Reh zu verfolgen, das uns schon mehr als einmal entgangen war. Du kennst den Eifer eines Jägers, wenn es gilt, ein schönes Stück Wild zu erlegen, aber Du kennst auch den Groll, der erwacht, wenn man sich am Ziele wähnt und getäuscht wird. War es doch, als ob dieses Reh sich ein Vergnügen daraus machte, mich zu necken. Vier, fünf Mal stand es in der besten Schußweite, und eben so oft setzte es raschelnd durch das Unterholz, wenn ich das Gewehr anlegte, obgleich ich mich mit der größten Vorsicht genähert hatte. Die Dämmerung war schon angebrochen, als ich nach zweistündigem Suchen endlich die Fährte wieder erwischte. Mein Begleiter hatte eine andere Richtung eingeschlagen, um mir das Wild entgegen zu treiben. Ich war allein. Jetzt denke Dir meine Freude, als ich plötzlich das Thier bei einer Quelle erblicke, die aus einem Felsen rinnt, bei der ich kürzlich erst ein Reh erlegt hatte. Deutlich sah ich es zwischen den Blättern stehen, den Kopf zu dem Wasser hinabgesenkt. Diesmal sollst du nicht wieder davonkommen, dachte ich, legte an, zielte einen Augenblick, und feuerte ab. Dem Knalle folgte ein Rascheln in den Gebüschen, und das Thier verschwand. Ich stürze nach, aber kaum hatte ich die Quelle erreicht, als ich neben mir ein dumpfes Stöhnen und den Ausruf höre: Großer Gott, sorge für mein Weib und mein Kind! Meine Jägerfreude verwandelte sich plötzlich in einen furchtbaren Schrecken, und indem ich die Zweige auseinanderbiege, sehe ich einen Mann in dem trockenen Laube liegen, der sich vor Schmerzen wie ein Wurm krümmte. Daß ihn mein Schuß getroffen, unterlag keinem Zweifel. Ich bin nicht feig, Eberhard, aber in diesem Augenblicke fehlte es mir dennoch an Muth, das Opfer meines Jagdeifers näher zu untersuchen, denn der Gedanke, einen Menschen getödtet zu haben, lähmte mir alle Glieder. Das Gewehr entsank meiner Hand, und ich sah bestürzt auf den armen Mann hinab, der vor Schmerzen laut jammerte und klagte.

„Ich bin kein Wilddieb!“ stöhnte er. „Warum haben Sie auf mich geschossen? Meine Frau liegt krank – ich wollte Quellwasser holen. Mein Gott, mein Gott, wer wird für sie sorgen – ich muß sterben!“

„Wer seid Ihr denn, mein armer Freund?“ fragte ich.

„„Georg Lorenz – wohne nicht weit von hier – am Saume des Busches.“

„Der Verwundete lag regungslos am Boden. Hier muß rasche Hülfe geschafft werden, dachte ich, und ohne mich lange zu besinnen, hob ich den Mann empor, um ihn nach dem nahen Häuschen zu tragen, das ich kannte. Noch hatte ich den Ausgang des Gehölzes nicht erreicht, als mein Kammerdiener, durch den Schuß angelockt, mir eilig entgegenkam. Schon von Weitem rief er mir zu, ob ich endlich das Thier erlegt habe, denn es sei nach dieser Ecke des Busches geflohen.

„Hilf mir diesen armen Menschen tragen, Gottfried!“ rief ich aus.

„„Was ist’s mit ihm?“

„Ich habe, von der Dämmerung verblendet, auf ihn geschossen.

„„Dem Wilddiebe ist recht geschehen!“ rief Gottfried, der in demselben Augenblicke zu mir herantrat, als ich den Verwundeten in das Gras niederlegte.

„„Georg Lorenz ist kein Wilddieb.“

„Bei Nennung dieses Namens zuckte Gottfried, ein guter Bursche, heftig zusammen. Trotz der Dämmerung konnte ich den erschütternden Eindruck gewahren, den meine Unglücksbotschaft auf den treuen Diener ausübte.

„„Georg Lorenz?“ wiederholte er mit bebender Stimme. Dann schwieg er, als ob er mir geheim halten wollte, daß ich einen braven Mann unglücklich gemacht habe. Nach einigen Augenblicken beugte er sich zu Lorenz hinab. Ich sah, wie er zurückbebte, aber dennoch seine Fassung zu bewahren suchte.

„„Treten Sie den Rückweg an!“ murmelte Gottfried. „Ich werde für den Verwundeten sorgen. Dort am Raine wartet der Wagen.“

„Die Regungslosigkeit des Opfers meiner Unvorsichtigkeit erfüllte mich mit einer gräßlichen Befürchtung. Ich hatte es von jeher vorgezogen, mir in allen Lagen des Lebens so viel als möglich Gewißheit zu verschaffen, und auch hier konnte ich es nicht über mich gewinnen, mit der Ungewißheit über das Schicksal des armen Lorenz heimzukehren. Rasch kniete ich auf den Boden, und ergriff die Hand des Unglücklichen. Sie war kalt und starr. Bestürzt sah ich meinen Kammerdiener an.

„„Der Bauer ist ohnmächtig geworden!“ rief er aus, um mich zu trösten.

„Ich eilte nach der Quelle zurück, um in meinem Hute Wasser zu holen – da fand ich den irdnen Krug, den Lorenz, wie er mir gesagt, für seine kranke Frau hatte füllen wollen. Der Anblick des Gefäßes trieb mir die Thränen in die Augen, und zum ersten Male in meinem Leben verwünschte ich die Jagd. Ich schöpfte Wasser, und stürzte zu dem Verwundeten zurück. Alles Bemühen blieb vergebens – Lorenz war tod. Eberhard, wie soll ich Dir meinen Zustand beschreiben! Da stand ich an der Leiche Dessen, den ich gemordet hatte! Ach, wie gern hätte ich mit meinem ganzen Vermögen das Leben des armen Landmanns [467] zurückgekauft. Die That war geschehen, und nichts in der Welt konnte sie rückgängig machen.

„„Der Mann hat eine kranke Frau,“ sagte Gottfried; „wir wollen ihn in das Nachbargehöft schaffen.“

„Mit Hülfe meinen Wagens brachten wir den Todten nun in das Gehöft, in dessen Thore Du vorhin den jungen Mann erblicktest. Der Vater desselben, ein wackerer Bauer, suchte mich über den Unfall zu trösten; aber dessen ungeachtet, und obgleich ich wußte, daß ich nicht vorsätzlich den schrecklichen Schuß gethan, kehrte ich in einer martervollen Verfassung nach meinem Schlosse zurück. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht ging ich am frühen Morgen zu Lorenz’ Hütte. Die klare Morgensonne beschien freundlich das ärmliche Gebäude, dessen niedere, schwarze Thür halb geöffnet war. Ein Pudel sprang daraus hervor, sah mich einen Augenblick an, lief dann zurück und kratzte an einer Thür, als ob er mich veranlassen wollte, sie zu öffnen. Leise trat ich in das kleine Stübchen. Welch ein Anblick bot sich mir dar! In dem einzigen, armseligen Bette sah ich ein mageres, leichenblasses Frauengesicht mit gebrochenen, weit geöffneten, Augen. Der rechte Arm dieser Frau hielt den Kopf eines kleinen Mädchens umschlungen, das auf einem Stuhle neben dem Bette saß, mit dem Oberkörper auf das Kissen gesunken und eingeschlafen war. Das blühende Kind lag süß schlummernd in dem Arme der todten Mutter. Ich schäme mich nicht zu bekennen, daß mir die Thränen in die Augen traten, und daß ich einige Minuten still weinte, während der treue Pudel mir die herabhängende Hand leckte.

„Das ist mein Kind! sagte ich zu mir. Gott selbst giebt mir ein Mittel an die Hand, mein sträfliches Versehen wieder auszugleichen.

„Während ich gedankenvoll an dem Bette des Todes und des aufblühenden Lebens stand, hörte ich draußen unter dem Fenster die Stimme eines Kindes rufen: „„Marianne, komm heraus, wir wollen Sultan an den Wagen spannen!“ Und gleich darauf sah ich hinter der trüben Scheibe des Fensters, das sich neben dem Bette befand, den braunen Lockenkopf eines rothwangigen Knaben. Lächelnd blickte er in das Zimmer. Als er mich gewahrte, verschwand er wieder. Ich trat hinaus vor die Thür. Da stand das Kind mit einem kleinen, selbstverfertigten Wagen hinter sich.

„Wie heißt Du? fragte ich.

„„Philipp!“ war die unbefangene Antwort. „Ich will mit Marianne spielen.“

„So wecke sie, sie schläft noch.

„Ich führte den Knaben in das Stübchen. Kaum waren wir eingetreten, als er ausrief: Frau Lorenz schläft auch noch! Nach meiner dazu ergangenen Aufforderung trat Philipp, der barfuß ging, an das Bett, und berührte Marianne’s Hand. Das Kind erwachte und sah mit großen Augen um sich. Der Anblick des freundlichen Spielgesellen erfüllte sie mit einer sichtlichen Freude. Leise, als ob sie die Mutter nicht im Schlafe stören wollte, entwand sie sich dem sie umschlingenden Arme derselben, und setzte ihre kleinen nackten Füße auf den Boden.

„„Was ist denn das?“ rief Philipp erschreckt. „Deine kranke Mutter hat ein schneeweißes Gesicht.“

„Marianne trat rasch zu dem Bett zurück.

„„Mutter,“ rief sie, und rüttelte die Hand derselben – „Mutter, bist Du noch kränker geworden?“

„Die arme Mutter blieb regungslos, sie hörte ja das Rufen des Kindes nicht mehr.

„„Ihre Hand ist kalt!“ schluchzte das Mädchen. „Wo nur der Vater bleibt?“ fragte sie ängstlich. „Mutter wollte trinken, und da ist er zur Quelle im Walde gegangen, weil das Wasser im Bache so schlecht ist!“

„Ein kalter Schauder durchrieselte meinen ganzen Körper. Ich hatte ja dem Kinde den Vater geraubt! Diese für mich so peinliche Scene ward durch Philipp’s Vater unterbrochen, der mit einem Arzte aus dem benachbarten Städtchen eintrat. Der Letztere erklärte, ein Lungenschlag habe die Leiden der armen Frau geendet. Nachdem ich zur Bestreitung der Begräbnißkosten meine Börse hinterlassen, führte ich die beiden Kinder hinweg auf mein Schloß. Philipp sollte einige Zeit bei Marianne bleiben. Denselben Tag noch ließ ich das Gericht kommen, erklärte den Thatbestand zu Protokolle, und übernahm die Verpflichtung, das verwaiste Kind zu erziehen. Eine Strafe ward weiter nicht über mich verhängt, da man mich kannte, und von einem vorsetzlichen Morde nicht die Rede sein konnte.

„Zwei Jahre blieb nun Marianne in meinem Hause, und der Anblick des fröhlich aufblühenden Kindes verscheuchte die trüben Gedanken, welche die Erinnerung an die Unglücksgeschichte nur zu häufig anregte. Philipp erschien fast täglich, um mit der muntern Marianne seine Spiele zu treiben, die jedoch mit dem Fortschreiten des Alters ernsterer Natur wurden. Beide liebten und betrachteten sich als Geschwister, zumal da Philipp’s Mutter Marianne’s Pathe war. Auch das Glück des Knaben lag mir am Herzen, und um es zu begründen, schenkte ich dem Vater, dessen einziger Erbe er war, einige Ackerstücke und Wiesen, die an sein Gütchen grenzten. So entstand nach und nach jener hübsche Meierhof, den Du gesehen hast, und ich kann wohl sagen, er ist mehr das Werk meiner Pflegetochter, als mein eigenes.

„Bis zu ihrem zwölften Jahre hatte Marianne gemeinschaftlich mit Philipp den Unterricht meines Pfarrers genossen, es war nun Zeit, sie für die Sphäre ausbilden zu lassen, der sie künftig als meine Schutzbefohlene angehören sollte. Ich brachte sie in ein Pensionat der Residenz. Das Mädchen machte bewundernswürdige Fortschritte, und schon nach drei Jahren war sie eine junge Dame geworden, die durch Geist, Liebenswürdigkeit und Schönheit großes Aufsehen erregte. Niemand ahnte ihre niedere Abkunft, man hielt sie allgemein für eine Verwandte des reichen Barons von Adersheim, und zeichnete sie aus, wo sie erschien. Ich liebte die Tochter des erschossenen Lorenz wie meine eigene, und es schmeichelte meiner väterlichen Eitelkeit nicht wenig, wenn ich von allen Seiten ihr Lob hörte. Dazu kam noch der nimmer ruhende Drang meines Herzens, das an dem Vater begangene Vergehen an der Tochter in der größten Ausdehnung gut zu machen. Um ihrer Erziehung die höchste Vollendung zu geben, brachte ich sie in eine Bildungsanstalt, die wegen der großen Kostspieligkeit nur den reichsten Leuten zugänglich war. Auch hier ward sie bald die erste Schülerin, und die erste Schönheit.

„Zu ihrem Unglücke traf sie in diesem Institute mit Franziska, der Tochter meines Bruders, zusammen. Letztere ist zwar nicht minder schön und geistreich, aber ihr stolzer und übermüthiger Charakter vermindert den Eindruck, den ihre Erscheinung im ersten Augenblicke ausübt. Marianne’s Siege machten sie neidisch, und sie verschmähte keine Gelegenheit, die gefährliche Rivalin zu kränken. Je geduldiger Marianne selbst die boshaftesten Angriffe ertrug, je erbitterter ward Franziska, und mehr als einmal hat das arme Kind den Vorwurf ihrer niedern Abkunft hören müssen. Ein Zufall setzte mich davon in Kenntniß, und ich nahm mein Kind zurück.

„Während Marianne sich zu einer aristokratischen Dame herangebildet, war aus Philipp ein tüchtiger Landwirth und ein braver junger Mann geworden. In den Ferien sahen sich die beiden jungen Leute öfter, und ich mußte Marianne’s Takt bewundern, mit dem sie den Jugendgespielen, der hinsichtlich der Bildung tief unter ihr stand, behandelte. Sie wußte den eingetretenen Abstand so zart zu verdecken, daß der junge Bauer zwar eine gewisse Hochachtung, aber immer noch jene Zuneigung empfand, mit der er an dem kleinen Mädchen in den zerlumpten Kleidern gehangen hatte. Als sie später für immer auf dem Schlosse blieb, kam er seltener, und ich sehe ihn jetzt nur, wenn ihn sein Vater in Geschäften sendet. Dann begrüßt er unbefangen seine Jugendgespielin, und entfernt sich mit demselben heitern Gesichte, mit dem er gekommen ist.“

„Wie mir scheint,“ sagte lächelnd Eberhard von Detmar, „so ist die künftige Erbin von Adersheim gefunden. Nach der Beschreibung, die Du mir von Franziska gemacht, wüßte ich keine würdigere als Marianne.“

„O gewiß, Freund, gewiß!“ rief der Oberst. „Ist es nicht meine Pflicht, Mariannen das Leben zu schaffen und zu erhalten, für das ich es habe erziehen lassen? Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, wenn ich eine vollendete aristokratische Dame dem niedern Stande wollte anheimfallen lassen. Marianne ist nicht an Arbeit gewöhnt, und es wäre nicht minder für mich als für sie eine Blamage, wenn sie einmal mit den Kenntnissen, durch die sie glänzt, ihr Brot verdienen müßte. Diesen Triumph gönne ich der neidischen Franziska nicht. Aber sie bleibt dessen ungeachtet immer die verarmte Tochter meines Bruders, und deshalb werde ich ihr helfen, sobald sie meiner Hülfe werth ist. Trotz der Beleidigungen, [468] die Marianne erlitten, spielt sie dennoch den versöhnenden Engel zwischen mir und Franziska, bei jeder Gelegenheit sucht sie das Treiben ihrer Feindin in ein mildes Licht zu stellen. Doch halt, hier beginnt das Revier! Marianne erwartet einen leckern Rehbraten, und wir dürfen diese Erwartung nicht täuschen.“

Der Wagen hielt, und die Freunde stiegen aus, um die reizende Waldung zu begehen, die sich an einem sanften Hügelabhange ausbreitete. Die geladenen Gewehre auf der Schulter, verschwanden sie in den Gebüschen.

[481]
II.

Eine Stunde später erschienen ein Herr und eine Dame zu Pferde auf der Landstraße, die von der Hauptstadt nach dem Schlosse Adersheim führt. Der Reiter war ein eleganter junger Mann mit bleichen Zügen und einem vollen schwarzen Barte, der das Gesicht förmlich einrahmte. Er trug einen geschmackvollen englischen Reitanzug und auf dem schwarz gelockten Haupte einen feinen weißen Kastorhut. Die Reiterin, eine schöne junge Dame, trug ein Reitkleid von schwarzem Sammet, dessen Schleppe fast den staubigen Boden berührte. Unter dem schwarzen Hute mit dem grünen wehenden Schleier sah man ein reizendes Gesicht, das von einer Fülle dunkeler Locken umspielt ward. Die Eleganz der Reiter bildete mit dem Aussehen ihrer Rosse einen auffallenden Contrast; die ziemlich magern Thiere trugen alle Zeichen, die den Miethsgaul charakterisiren.

„Walther,“ rief die Dame, indem sie den Trab ihres Pferdes hemmte, „ich versprach Ihnen auf dieser Tour eine Ueberraschung – merken Sie auf!“

„Ich merke auf, Franziska!“ antwortete Walther, das Pferd zu seiner Begleiterin wendend.

„Sehen Sie die romantischen Ruinen am Abhänge jenen Waldrandes?“ „Romantisch? Ruinen?“ lachte der Elegant. „Wahrhaftig, Franziska, Ihre Laune ist diesen Morgen köstlich! Seit wir auf den Marken Ihres Onkels sind, des merkwürdigsten Anachoreten von der Welt, erblicken Sie in jedem Strauche einen Urwald, in jedem Steine am Wege einen pittoresken Felsen, und in jeder Lehmbaracke eine Ruine. Wollen Sie die Entstehung jenes Strohdachs nicht bis in das Mittelalter zurückführen?“

„Wenn auch das nicht, mein Freund; aber sehen Sie sich die Trümmer deutlich an, sie werden für Sie, für den größten Frauenkenner der Residenz, von Interesse sein.“

„Sie werden boshaft, Franziska! Ich glaube, daß ich meinen Schönheitssinn durch die Verehrung, die ich Ihnen erzeige, deutlich genug bekundet habe.“

„Wer zweifelt an Ihrem Geschmacke, mein Freund? Ich will meine kleine Person nicht in Anschlag bringen, und nur an jene Marianne erinnern, die Sie einst als eine ideale Schönheit bezeichneten.“

„Eine seltsame Ideenverbindung! Franziska, ich bewundere Ihre kühne Phantasie. Was hat die wirklich reizende Marianne mit jenem Schutthaufen zu schaffen?“

„O, mehr als Sie vermuthen!“ rief Franziska, deren Neid durch das Wort „reizend“ erregt worden war. „Merken Sie auf – sie zeigte mit der Reitpeitsche nach der Hütte – jene Trümmer sind aus dem Stammschlosse Ihrer wirklich reizenden Marianne entstanden! Dort wohnten ihre Vorältern, und wo jetzt Disteln and Dornen wuchern, stand einst die Wiege des lieblichen Kindes, das jetzt als wirklich reizende Marianne gewissen Männern von Geburt die Köpfe verrückt. Halten Sie doch, halten Sie doch, Baron Walther von Linden, wir stehen auf einem klassischen Boden.“

Sie hielt ihr Pferd an, und sah mit einem bitter ironischen Lächeln dem jungen Baron in das Gesicht.

„Nicht wahr,“ fragte sie, „diese Ueberraschung lohnt der Mühe, zwei Stunden auf dem Rücken eines aufgeputzten Miethspferdes zuzubringen? Wollen Sie nicht eine Skizze von dieser merkwürdigen Ruine entwerfen? Beeilen Sie sich, mein ästhetischer Freund, denn nicht alle Besitzer von dem Gebiete Adersheim könnten die Pietät haben, diesen Düngerhaufen so nahe am Wege liegen zu lassen. Pfui, welch ein unerträglicher Geruch verpestet die Luft! Ich gäbe einen Louisd’or für eine Prise Tabak.“

„Sie träumen wohl schon, die Besitzerin von Adersheim zu sein?“rief Walther spottend. „Dann freilich ist es um diese arme Hütte geschehen, die Ihr Onkel, wie mir scheint, nur deshalb verschont, um Ihnen, seiner unbestreitbaren Erbin, den herrlichen Triumph Ihrer Vernichtung zu gönnen!“

Franziska preßte die Lippen zusammen and senkte die Augen, als ob sie einen heftigen Schmerz verbergen wollte. Dann sagte sie mit bebender Stimme und einer kalten, höhnenden Galanterie: „Sie thun mir Unrecht, lieber Herr; die Dame, die der reiche, uneigennützige Baron von Walther heimzuführen gedenkt, braucht wahrlich nicht auf eine Erbschaft zu hoffen. Ein Krösus heirathet nur aus Liebe und bezahlt gern die Schulden seiner fashionablen Gattin.“

Nach diesen Worten brach Franziska in ein fast kreischendes Gelächter aus, schlug wie rasend mit der Reitpeitsche den Kopf ihres Pferdes und sprengte die Chaussee hinab, daß sich eine dichte Staubwolke erhob.

Walther sah ihr einen Augenblick nach, wandte ruhig sein Pferd und ritt den Weg zurück, den er gekommen war.

„Für diese Malice hat sie eine derbe Züchtigung verdient!“ murmelte er vor sich hin.

Nach fünf Minuten war er in der Biegung des Waldweges verschwunden.

Franziska setzte rasch trabend so lange den Weg fort, bis das Pferd aus eigenem Antriebe Schritt ging und endlich erschöpft [482] stehen blieb. Diese Freiheit, die sich fast alle Miethrosse erlauben und ein eigenthümlicher Charakterzug derselben ist, benutzte Franziska jetzt, weit entfernt, nach ihrer Gewohnheit zornig darüber zu werden, sich nach ihrem Begleiter umzusehen. Sein Verschwinden überraschte sie.

„Es wäre doch arg,“ flüsterte sie, „wenn er mich hier allein ließe. Vielleicht kommt er nach.“

Das arme Roß mußte nun den Unmuth der geschickten Reiterin ertragen. Durch anhaltende Schläge brachte sie es endlich wieder in Bewegung. Mehr als einmal sah sie sich um – Walther wollte aber nicht kommen. Franziska liebte den Baron, wenn sich auch bei der Eigenthümlichkeit ihres Charakters diese Liebe auf eine eigenthümliche Art äußerte, wenn auch der leicht aufbrausende Zorn sie zu Beleidigungen hinriß. Der Spiegel hatte ihr gesagt, daß sie schön war; der Stammbaum hatte sie belehrt, daß sie einem der edelsten und ältesten Geschlechter des Königreichs angehörte; mit der Erziehung, die sie genossen, hatte sie alle jene Vorurtheile eingesogen, die stets mit dem Verstande im Kampfe liegen und nur dazu erfunden zu sein scheinen, um den aristokratischen Stolz zu nähren – es war also kein Wunder, wenn bei den vorhandenen Anlagen zu einer vollkommenen Dame nach der Doctrin jener Epoche Franziska’s Gemüth in der Ausbildung zurückgeblieben war. Der Ruin des väterlichen Vermögens hatte nur dazu beigetragen, ihren Stolz bis zur Maßlosigkeit zu steigern, und da sie gegenwärtig keine andern Mittel besaß, eine Rolle zu spielen, so trug sie ihren Stolz auf Schönheit, Adel und Geistesreichthum so offen zur Schau, daß sie selbst bei ihren Standesgenossen nicht gern gelitten ward.

Die Aeußerung Walther’s, bezüglich der Erbschaft, hatte ihre empfindlichste Seite getroffen; der Stolz untersagte ihr, sich dem reichen Onkel zu nähern, und das Drückende ihrer Lage, das sich täglich mehrte, trieb sie dazu an. Sie wandte die größte Sorgfalt an, beides geheim zu halten. Walther hatte jetzt auf eine höhnende Weise zu erkennen gegeben, daß er ihre Absicht ahnte, obgleich sie nur einen Spazierritt in die romantische Gegend vorgeschützt hatte.

Dem Hasse auf die unschuldige Marianne gesellte sich auch nun die Eifersucht bei. Franziska war die erbittertste Feindin der Pflegetochter des Obersten. Es hatte nicht allein den Anschein, als ob die Bauerndirne, wie sie sie nannte, ihr die reiche Erbschaft streitig machen, sondern auch den Geliebten rauben wollte. Als Franziska die Thürme des Schlosses erblickte, bemächtigte sich ihrer ein Gefühl, das zu bekämpfen sie weder den Willen noch die Kraft hatte.

„Wenn es mir gelänge, den Alten zu gewinnen!“ dachte sie. „Ich bin die einzige Verwandte, die einzige rechtmäßige Erbin, und außer mir führt kein Mensch in der Welt mehr den Namen Adersheim. Ich habe zu viel Chancen für mich, als daß ich nicht jeden Versuch wagen sollte. Reüssire ich, so räche ich mich an Walther und an ihr, die ohne Zweifel schon im Stillen ihren Triumph feiert. Bewirke ich durch meine Stellung nichts, so werde ich List anwenden. Ich will zu Schmeicheleien, und selbst zu Demuth meine Zuflucht nehmen. Dieser Zustand muß ein Ende haben!“

Franziska ritt über die Brücke in den Schloßhof, und hielt vor dem Herrenhause an. In demselben Augenblicke erschien ein alter Mann auf der Freitreppe vor dem imposanten, alterthümlichen Gebäude. Als er die Reiterin erblickte, eilte er die Stufen hinab.

„Gnädiges Fräulein!“ rief er. „Willkommen auf Adersheim!“

Wie eine Amazone sprang das Fräulein von dem Pferde, noch ehe der Herbeieilende ihr seine Dienste leisten konnte.

„Du bist’s, alter Gottfried! Gieb Auftrag, daß man für mein Pferd sorge.“

Gottfried rief einen Reitknecht, und übergab ihm das Pferd. Dann eilte er voran, und führte den Besuch in einen eleganten Saal des Erdgeschosses, der von dem Reichthume des Besitzers ein unzweideutiges Zeugniß ablegte. Die neidischen Blicke Franziska’s schweiften über die kostbaren Möbel hin, die höchst geschmackvoll gewählt und aufgestellt waren. Dann warf sie sich in einen Sopha.

„Wo ist mein Onkel?“

„Auf der Jagd, gnädiges Fräulein. Diesen Morgen acht Uhr schon ist er mit einem Freunde in den Mühlenbusch gefahren.“

„Wird er zu Tische zurückkehren?“

„Ich zweifele daran, gnädigen Fräulein – der Herr Oberst wollte das ganze Revier abjagen, weil sich vor einigen Tagen Rehe dort gezeigt haben.“

„Ist der Oberst, mein Onkel, wirklich auf der Jagd?“ fragte Franziska mit einem stechenden Blicke, und der aufbrausende Zorn verhinderte sie, vorsichtig zu sein.

Der alte Kammerdiener lächelte, indem er antwortete:

„Wenn es mir die Achtung vor dem gnädigen Fräulein, der Nichte meines guten Herrn, nicht verböte, eine Unwahrheit zu sagen, so würde mich meine Anhänglichkeit an Ihren seligen Vater gewiß davon abhalten. Glauben Sie mir, ich habe oft darüber geseufzt, daß die beiden Brüder so lange in Feindschaft gelebt. War ich nicht früher in Ihrem Hause, ehe ich hierher kam? Habe ich Sie nicht oft auf meinen Armen getragen, als Ihre kleinen Füße Sie noch nicht recht tragen wollten? Wie oft haben Sie mit meinem großen Schnurrbarte gespielt, der mir fast bis auf die Brust herabhing. So etwas vergißt man nicht so leicht. Und ich sollte Ihnen eine Unwahrheit sagen? Ich freue mich, daß Sie uns wieder besuchen, daß ich Sie endlich einmal wieder bedienen kann.“

„Deine Hand, Gottfried!“

Der alte Kammerdiener reichte sie ihr in sichtlicher Rührung.

„Fräulein Franziska,“ rief er aus, „Sie sollten bei uns wohnen! Der Herr Oberst wird glücklich sein, die einzige Verwandte seines Namens stets um sich zu sehen. Sie verzeihen Ihrem alten Diener diese Offenherzigkeit – –“

„Meinst Du?“ fragte Franziska, die ihren Stolz verletzt fühlte, denn es war nicht schwer zu errathen, daß der Kammerdiener um das zwischen ihr und dem Onkel bestehende Verhältniß wußte.

„O, dessen bin ich gewiß! Er hat diese Ansicht sehr oft gegen Fräulein Marianne ausgesprochen.“

„Und Fräulein Marianne hat sie gebilligt?“ fragte sie höhnend.

„Ja, ja, das hat sie, denn sie ist ein seelengutes Mädchen. Sie hat noch mehr gethan,“ fügte Gottfried leiser hinzu, der stets redselig wurde, wenn er die guten Eigenschaften Marianne’s anpreisen konnte.

„Nun, was hat sie denn gethan?“

„Sie wissen, der Onkel ist immer noch ein wenig böse darüber, daß Sie sich fern halten, und wenn er in seiner aufbrausenden Heftigkeit darüber gesprochen, so hat Fräulein Marianne stets ein gutes Wort für Sie eingelegt.“

„Hat sie?“ fuhr Franziska bitter auf. „Nicht übel, die Person spielt noch die Großmüthige!“

Der greise Kammerdiener trat verlegen einen Schritt zurück.

„Mein Gott,“ stammelte er, „ich habe Sie durch meine Offenheit doch nicht beleidigt?“

Franziska erinnerte sich ihres Vorsatzes, mit List zu Werke gehen zu wollen; sie bekämpfte ihre Aufregung, und antwortete so mild, als es ihr möglich war.

„Von Beleidigung, mein alter Freund, kann hier nicht die Rede sein. Und willst Du Dich mir gefällig zeigen, so erzähle mir alles, was man über mich hier spricht. Du kannst meiner Dankbarkeit und Verschwiegenheit gewiß sein.“

Die erzwungene Freundlichkeit, die sich deutlich in Franziska’s Gesichte aussprach, machte den Greis schwanken. Er wußte nicht, was er beginnen sollte. Das Oeffnen der Thür endete seine peinliche Verlegenheit – Marianne trat ein, eine reizend schöne Jungfrau von neunzehn Jahren. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Thibetkleid, das sich eng und züchtig den zarten, schwellenden Körperformen anschloß. Eine schwarze elegante Taffetschürze hob die Feinheit der elastischen Taille hervor. Ihr glänzendes kastanienbraunes Haar war über der schönen, sanft gewölbten Stirn einfach gescheitelt, und schlang sich auf dem Hinterkopfe zu einem vollen Flechtenkranze. Das liebliche Madonnengesicht mit den großen, seelenvollen Augen, den schön geschweiften Brauen, der edel gebogenen Nase und dem fein geformten rosigen Munde überzog eine leichte Röthe, als sie die Dame im Sopha erblickte. Sie hatte diesen Besuch nicht erwartet, obgleich sie ihn nicht fürchtete. Trotz ihrer Ueberraschung grüßte sie mit einer Grazie, die Franziska mit Neid und Verwunderung erfüllte. Das Fräulein dankte durch ein nachlässiges Kopfnicken; dann hafteten die Blicke ihrer feurigen, lebhaften Augen mit einer unbeschreiblichen Impertinenz auf der Eingetretenen. Man hätte glauben mögen, Franziska sei [483] die stolze Gebieterin des Schlosses, und Marianne eine Dienerin, die vor ihrem Richterstuhle zu erscheinen hat.

„Der Herr Oberst ist abwesend,“ sagte Marianne mit leise bewegter Stimme – „ich erlaube mir, Fräulein Franziska auf Adersheim willkommen zu heißen.“

Der Zufall schien diesen Morgen alle Umstände vereinigt zu haben, um Franziska in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Hatten die Worte des Kammerdieners ihre Aufregung schon vermehrt, so brachte sie Marianne’s in der That zauberhafte Erscheinung und ihr freundlicher Gruß auf den höchsten Gipfel. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, ihrer verhaßtesten Feindin ein freundliches Wort zu entgegnen.

„Die Abwesenheit meines Onkels, des allzugutherzigen Barons von Adersheim, kommt Ihnen in diesem Augenblicke wohl recht zu statten?“ fragte sie mit erregter Stimme.

Marianne kannte ihre Feindin, sie hatte sich vorgenommen, ihr die größte Ruhe entgegenzusetzen.

„Mein gütiger Pflegevater hat mir aufgetragen, in seiner Abwesenheit die Honneurs zu machen,“ antwortete sie ausweichend. „Ich glaube in seinem Sinne zu handeln, wenn ich Sie einlade, seine Rückkehr von der Jagd abzuwarten.“

„Sie glauben es!“ rief Franziska spöttisch lachend. „Ich nehme die Einladung an, um mich zu überzeugen, daß Sie sich nicht getäuscht haben.“

Mit einer wahren Engelsgeduld wandte sich Marianne zu dem Kammerdiener: „Ich bitte, lieber Freund, geben Sie Auftrag, daß für das gnädige Fräulein eins der Fremdenzimmer sofort in Bereitschaft gesetzt werde.“

Der Greis verließ eilig den Saal.

„Ein Fremdenzimmer!“ rief Franziska laut lachend. „Wahrhaftig, Demoiselle Marianne, Sie verstehen es, auf eine sehr bezeichnende, und dennoch zarte Weise mir die Stellung anzugeben, die Sie Jahre lang vorbereitet haben. Empfangen Sie für diese edle Freimüthigkeit meinen innigsten Dank. Nehmen Sie Platz, mein Kind, und unterhalten Sie mich! Die Fremde ist nicht ermüdet, sie ist vollkommen kräftig, zu antworten.“

Sie rollte einen Sessel herbei und lud mit der Hand zum Sitzen ein.

Marianne zuckte ein wenig zusammen, aber verlor ihre Fassung nicht.

„Mein Fräulein,“ gab sie ruhig zur Antwort, „ich kenne meine Stellung hier im Hause zu gut, um einen Verstoß gegen die Gastfreundschaft zu begehen, die ich einer Verwandten meines Wohlthäters schuldig bin. Sollten Sie indeß Gründe haben, meine Abwesenheit zu wünschen, so entferne ich mich –“

„O nein, solche Rechte leite ich aus meiner Verwandtschaft nicht her. Ich bin nicht anmaßend genug, Ihnen den Weg zu vertreten, den Sie sich zu der Stellung einer Tochter vom Hause so geschickt zu bahnen gewußt haben.“

„Ich bin eine Waise!“ sagte Marianne mit Würde.

„Welch ein Contrast zwischen diesem rührend demüthigen Bekenntnisse und Ihrem Einflusse auf den schwachen Bruder meines Vaters! In der That, Demoiselle, Sie drängen mich dazu, Ihnen die Erklärung zu geben, daß Sie unter der Maske der Treuherzigkeit eine bewunderungswürdige Schlauheit verbergen. Ich kenne Sie aus dem Pensionate her. O, Sie haben in den Augen der Welt viel vor mir voraus, denn ich weiß meine Gefühle nicht in den Mantel der Bescheidenheit zu hüllen, der das Mitleid rege macht. Wenn ich bisher geduldig zusah, wie Sie sich bequem in dem Schooße meiner Familie einnisteten, so haben Sie das meinem Stolze zu danken, der es verschmähete, Ihnen die Larve von dem Gesichte zu reißen, aber jetzt darf ich nicht länger schweigen, denn die Feindschaft des Bruders gegen den verstorbenen Bruder zu nähren, ist ein Frevel, der in seinem ganzen Umfange an das Licht gezogen werden muß. Ich stehe hier als die Retterin der Ehre meines todten Vaters. Wahrlich, es bedarf einer sehr geschäftigen Hand, um in dem weichen Herzen meines Onkels das Feuer der Feindschaft zu schüren, daß es bis über das Grab hinauslodert. Nicht wahr, was den Vater trifft, trifft auch die Tochter? Und diese Tochter verdient den Haß, den man hier gegen sie hegt, denn sie ist ein stolzes, boshaftes Wesen, eine Lästerzunge, eine Verschwenderin und eine Spielerin, die man rücksichtslos ihrem Schicksale überlassen muß. Aber die bescheidene, ordentliche und thätige Waise, die mit niedergeschlagenen Blicken in tiefer Demuth umherschleicht, die dem zweiten Vater die Pantoffeln bringt und bei jeder Gelegenheit die Hand küßt, die bei der Annäherung eines Mannes tief zu erröthen versteht, diese Waise verdient zur Adoptivtochter eines Barons erhoben zu werden, und wenn dies nicht möglich ist, dem Greise eine platonische Liebe zu erheucheln, damit in kurzer Zeit die lachende Wittwe dem Manne die Hand reichen kann, mit dem sie den saubern Plan der Erbschleicherei ausgebrütet hat. Sie erbleichen, Demoiselle; Sie zittern wie ein Blatt, das der Sturm geschüttelt – nicht wahr, ich habe den rechten Fleck getroffen? Bin ich nicht gut unterrichtet? Doch wundern Sie sich nicht darüber, ich verschmähe die Spionage, ich bin nur das Echo des Gerüchts, das in diesem Augenblicke die Aristokratie der Residenz mit Entrüstung erfüllt. Und damit Sie meine Offenheit sehen, erkläre ich Ihnen, daß die Fremde gekommen ist, dem armen Obersten von Adersheim den Abgrund zu zeigen, zu dessen Rande ihn Gleißnerei und Scheinheiligkeit hingezogen haben. Noch heute werde ich meinem Onkel die Augen öffnen und ihn vor dem letzten, gefährlichen Schritte warnen! Das wollte ich Ihnen sagen und wenn Sie mir jetzt erlauben, ziehe ich mich auf das Fremdenzimmer zurück.“

Mit flammendem Gesichte und vor Aufregung glühenden Blicken erhob sich Franziska. Ihre linke Hand trug die schwere Schleppe des Kleides, die rechte hielt die Reitpeitsche. In einer drohenden Stellung stand sie der armen Marianne gegenüber, die, in dem Bewußtsein ihrer Unschuld, sich eines schmerzlichen Lächelns nicht erwehren konnte. Die Anschuldigungen waren zu boshaft und nichtig, als daß sich des guten Kindes mehr als ein schmerzliches Erstaunen bemächtigen konnte. Die stolze Franziska, die in ihrer Verblendung zu solchen kleinlichen Verleumdungen ihre Zuflucht nahm, erfüllte sie vielmehr mit Bedauern.

„Sie scheinen eine Rechtfertigung zu erwarten, mein Fräulein?“ fragte sie mit der ihr eigenen Ruhe und Milde.

„Erwarten? Ich bin neugierig, was Ihr Scharfsinn zur Rechtfertigung anführen wird.“

„Nicht meinetwegen, sondern nur Ihretwegen bitte ich um einige Minuten Gehör, denn ich halte es für Pflicht, nach Kräften dahin zu wirken, daß der unglückselige Zwiespalt zwischen Onkel und Nichte ausgeglichen werde.“

„Himmel, diese Anmaßung!“ rief Franziska außer sich. „Wenn ich Sie recht verstehe, Demoiselle, so sind Sie der bescheidenen Meinung, daß meine Eröffnungen über Ihre liebenswürdige Person den Obersten noch mehr gegen mich aufbringen?“

„Ich zweifle nicht daran.“

„Sie scheinen Ihrer Sache sehr gewiß zu sein.“

„Weil ich weiß, was Ihr Onkel von Ihnen erwartet.“

„Bleiben Sie bei Ihrer Person, meine Beste!“

„Ich würde nicht von mir sprechen können, ohne der Dienste zu erwähnen, die ich Ihnen, trotz Ihrer Abneigung gegen mich, geleistet habe.“

„Diese Großmuth! Ersparen Sie sich die Mühe, mich zu entwaffnen!“

„Und doch kann ich es in Ihrem Interesse nur wünschen, daß es mir gelänge. Jede Anklage meiner Person würde auch meinen Wohlthäter treffen, aber mehr noch auf Sie selbst zurückfallen.“

„O, Demoiselle, Sie sind schlau wie ein Fuchs!“ rief Franziska höhnend. „Diese Taktik beweist, daß Sie auf einen feigen Feind gerechnet haben, und daß Ihnen selbst der Muth fehlt, sich in einen offenen Kampf einzulassen.“

„Ich weiß nicht, mein gnädigen Fräulein, ob mehr Muth dazu gehört, dem anziehenden Feinde im Vertrauen auf seine Versöhnlichkeit und Milde eine Brücke zu bauen, als dazu, ihm hindernd in den Weg zu treten und Vortheile zu benützen, die das Ehrgefühl verschmäht. Ein für mich glücklicher Zufall wies mir die Stelle an, die eigentlich, ich fühle es, Ihnen gebührte; traurige Mißverständnisse verhinderten es, daß Sie sich dem Herzen des Onkels nähern konnten. Die entstandene Kluft ist nicht so groß als Sie glauben, mein liebes Fräulein, und es bedarf nur des Muthes und des Vertrauens von Ihrer Seite, die Brücke zu betreten, die Ihnen die Hand der dankbaren Waise errichtet hat. Es war ein zu kühner Gedanke, mich Ihnen als Freundin nahen zu wollen, obgleich mein Wohlthäter ihn in mir nährte und die Realisirung desselben wünschte – als Freundin können und wollen [484] Sie mich nicht betrachten, weil mir gewisse Eigenschaften dazu fehlen, trotzdem hofft Ihr Onkel, daß ich ihm die Nichte zuführe. Mein Bemühen ist in so weit mit Erfolg gekrönt, als es mir gelungen ist, der in friedfertiger Gesinnung nahenden Nichte die Arme des Onkels zu öffnen – wie er die verblendete Dame empfangen wird, wage ich nicht zu beurtheilen, da ein solches Urtheil den Kreis überschreitet, den mir mein Wohlthäter angewiesen hat.“

„Darf ich nun den Sinn dieser schönen Rede in wenig Worte fassen?“ fragte Franziska mit einer unbeschreiblichen Bitterkeit. „Warum sagen Sie nicht lieber rund heraus: mein Fräulein, Sie sehen, ich habe mich hier einmal eingenistet, verdrängen können Sie mich nicht, aber ich will trotzdem großmüthig sein, und schwesterlich mit Ihnen die große Erbschaft theilen, die von Gottes und Rechts wegen Ihnen gebührte. Also machen Sie keine Umstände, dann haben wir nicht nöthig uns zu streiten! – Ja, Demoiselle, das ist Ihre Absicht, denn ich durchschaue Sie bis auf den Grund Ihrer Seele. Wie der Onkel die verblendete Dame empfängt, weiß ich; was er aber mit der Schlange machen wird, die er so großmüthig an seinem Busen erzogen, will ich deshalb nicht beurtheilen, weil es unter meiner Würde ist, über eine Bettlerin zu Gericht zu sitzen.“

Marianne bebte zusammen, und Thränen traten ihr in die Augen.

„Ich verzeihe Ihnen diese Beleidigung,“ stammelte sie – „möge sie Ihnen auch Gott und der verzeihen, der ein Recht hat, ein armes Mädchen vor Beleidigungen zu schützen!“

Bebend am ganzen Körper stützte sich Marianne auf den Sessel.

„Wollen Sie noch immer schwesterlich mit mir theilen? Nur eine Adersheim darf auf diesem Schlosse wohnen; die Bäuerin gehört in die Hütte am Walde, woher sie gekommen ist. Es müßte ja keine Gerechtigkeit in der Welt mehr geben, wenn Adel und Geburt von der Großmuth einer Bäuerin abhangen sollte. Der Kampf ist eröffnet, meine Beste, und ich werde ihn fortführen, ohne Ihre Brücke zu betreten.“

Franziska verließ rauschend den Saal, und schlug heftig die Thür hinter sich zu.

Marianne sank weinend in den Sessel.

„Ich hoffe sie dennoch zu bekehren!“ flüsterte sie vor sich hin. „Mag sie ihrem Kopfe folgen – ich bleibe meinem Herzen getreu!“

[493]
III.

Franziska war auf die hohe Freitreppe vor dem Hause getreten und beobachtete durch das offene Thor die Straße, die sich in gerader Linie bis zu dem Walde hinzog. Sie hoffte, daß Walther ihr folgen würde, und dies hätte vielleicht viel zur Milderung ihrer Aufregung beigetragen. Aber kein Reiter ließ sich erblicken, und die Eifersucht mit allen ihren Schrecken erwachte in der Brust Franziska’s. Sie mußte sich eingestehen, daß Marianne wirklich ein reizendes Wesen sei, völlig geeignet die Neigung eines jungen Mannes dergestalt zu wecken, daß er darüber gewisse andere Rücksichten vergaß.

„Er will mit mir brechen,“ dachte sie, „und dazu hat er die Gelegenheit benützt, die an und für sich nur der Gegenstand einer oberflächlichen Disputation zu sein verdiente, wie sie schon hundertmal unter uns stattgefunden hat. O, ich errathe, was ihn dazu antreibt! Müßte ich nicht mit Blindheit geschlagen sein, wenn ich die Lobpreisungen Marianne’s nicht richtig deuten sollte? Sie ist schön und die muthmaßliche Erbin des Obersten – mir bleibt nichts als eine kleine Rente, die kaum hinreicht, die Kosten der Toilette einer Dame vom Stande zu bestreiten. Wie unwürdig ist Walther’s Benehmen! Ich verlasse das Schloß nicht eher, bis ich den Obersten gesprochen und die Einleitung zu meiner Rache getroffen habe. Ich vernichte meine Feindin durch alle nur ersinnlichen Mittel, dann mag sie Walther in der Bauerhütte aufsuchen. Ich kenne den empfindlichsten Fleck meines Onkels – noch heute will ich ihn treffen. Und falle ich, so soll jenes Geschöpf mit mir fallen, das einen so unheilvollen Einfluß auf mein Leben ausübt.“

Franziska ward durch einen schwarzen Punkt, der sich am Walde auf dem weißen Streifen der Straße zeigte, in ihrem Nachsinnen unterbrochen. Mit ungetheilter Aufmerksamkeit beobachtete sie die Entwickelung des Punktes, denn es mußte entweder Walther oder der zurückkehrende Oberst sein. Beide Fälle waren für sie von großer Wichtigkeit.

In diesem Augenblicke trat der Kammerdiener heran.

„Ihr Zimmer ist bereit, gnädiges Fräulein!“ meldete der Greis.

„Gut, mein Freund; ich werde dessen wohl nicht bedürfen,“ antwortete Franziska, ohne ihre Blicke von der Straße abzuwenden.

Gottfried schwieg einige Augenblicke, indem er verwundert die stolze Dame betrachtete. Dann wagte er die Frage: „Sie wollen uns doch nicht schon wieder verlassen, gnädiges Fräulein?“

„Was kommt dort auf der Straße?“ fragte sie.

Der Greis legte die flache Hand über die Augen und sah nach der bezeichneten Richtung.

„Das ist ein Wagen!“ murmelte er.

„Sollte der Oberst zurückkommen?“

„Unmöglich – es ist noch nicht Mittag, und das Revier liegt weit. Aber ich wüßte doch nicht, wer uns sonst noch besuchen sollte – –“

Es verflossen wiederum einige Minuten. Die beiden Personen setzten ihre Beobachtungen fort.

„Ich erkenne deutlich einen Wagen,“ sagte Franziska, die lieber einen Reiter gesehen hätte.

„Und ich erkenne,“ sagte der Kammerdiener, „daß es das Gespann meines Herrn ist. Mein Gott, wie der Kutscher jagt, als ob der Wagen in Trümmern zerfliegen sollte.“

Keuchend flog jetzt der Lieblingsjagdhund des Obersten durch das Thor. Das schöne schlanke Thier schnob mit schaumtriefendem Maule die Treppe hinauf, sprang an dem Kammerdiener empor, heulte einen Augenblick in dumpfen Tönen und flog sausend wieder zum Hofthore hinaus, dem Wagen entgegen, der sich nun deutlich erkennen ließ.

„Mein Gott, was ist denn das?“ murmelte der erstaunte Greis. „So habe ich das Thier nie gesehen. Und warum kommt der Wagen so früh zurück? Wenn nur kein Unglück geschehen ist,“ fügte er leiser hinzu, denn er erinnerte sich unwillkürlich des verhängnißvollen Tages, an dem durch seines Herrn Versehen Marianne’s Vater das Leben verlor.

Während der Greis vor banger Erwartung bebte, klopfte Franziska’s Herz ängstlich dem Augenblick des ersten Wiedersehns entgegen. Sie fühlte, daß sie sich eine schwere Aufgabe gestellt hatte. Von der Unterredung mit dem Obersten hing ihre ganze Zukunft ab. Sie kannte zwar den biedern Charakter des Onkels, aber auch seine strenge Unparteilichkeit. Nach der Unterredung mit Marianne, wozu sie sich in ihrer leidenschaftlichen Aufregung hatte hinreißen lassen, durfte sie nicht feig zurücktreten, ohne der Lächerlichkeit anheim zu fallen. Ihr blieb nichts, als durch kecke Verläumdung die Feindin zu stürzen.

Der Wagen war indeß so nahe gekommen, daß man das Rollen desselben vernehmen konnte.

„Großer Gott, Was ist das, was ist das?“ rief der greise Kammerdiener, indem er in großer Bestürzung die Treppe hinabeilte. „Es sitzt ja nur eine Person in dem Wagen!“

[494] Franziska starrte nach dem Thore, unter dessen hoher Wölbung das Gerassel des Wagens jetzt laut ertönte. Gottfried, von einigen Knechten umringt, stand in dem Hofe.

„Schickt nach einem Arzte!“ rief der Kutscher, in dessen Gesicht sich Angst und Schrecken malte.

In dem offenen Jagdwagen saß Eberhard von Detmar. An seiner Brust lag das mit einem blutigen Tuche umwundene Haupt des Obersten, das er vorsichtig mit beiden Armen umschlungen hielt. An der Spitze der Dienerschaft flog Marianne herbei. Mit einem lauten Schreckensschrei gewahrte sie die Gruppe im Wagen. Eberhard winkte, daß man sich ruhig verhalten möge, dann ließ er sanft den regungslosen Freund in die Arme der Diener gleiten, die ihn vorsichtig in den Saal trugen und auf die Polster des Sopha’s legten. Marianne sank laut schluchzend zu Boden und bedeckte die herabhängende Hand ihres Wohlthäters und Vaters mit Thränen und Küssen. Der Kammerdiener eilte mit Wasser herbei und durchnäßte das Tuch, das den durch eine volle Ladung zerschossenen Kopf einhüllte.

„Wie ist das zugegangen?“ fragte er schluchzend, als Eberhard mit dem Gerichts-Actuar des Schlosses eintrat.

„Bei dem hastigen Aussteigen aus dem Wagen hat sich sein eigenes Gewehr entladen.“ „Ich bitte, gnädiger Herr, bestätigen Sie diese Angabe!“ sagte der Actuar.

Der Verwundete machte eine zustimmende Bewegung mit der Hand.

„Ertheilen Sie mir Ihre Befehle!“ fuhr der Actuar fort, der sich an einen Tisch gesetzt hatte und zu schreiben begann.

Unterstützt von Marianne’s Armen hob sich der Oberst mit krampfhafter Anstrengung empor. Ein dumpfes Röcheln vereitelte sein Bemühen zu reden – wimmernd sank er zurück. Noch einen Augenblick und der wackere Mann hatte aufgehört zu leben. Der Körper lag mit der Schwere des Todes in dem kostbaren Polster, was von dem aus der Kopfwunde hervorquellenden Blute geröthet ward.

„Mein Freund, mein armer Freund!“ rief Eberhard. „Er ist todt!“ fügte er erschüttert hinzu.

Ein lauter Schreckensschrei durchtönte den von der Dienerschaft angefüllten Saal. Dann hörte man nichts als das stille Weinen der Knechte und Mägde, die am Boden knieten und für das Seelenheil ihres geliebten Herrn ein Gebet zum Himmel sandten.

Marianne war in Ohnmacht gesunken. Als sie unter des alten Kammerdieners Beistande wieder zu sich kam, warf sie sich laut schluchzend über die geliebte Leiche. Man mußte sie gewaltsam entfernen und auf ihr Zimmer führen.

Franziska, die ein solches Ereigniß für unmöglich gehalten hatte, stand nachdenkend in einer Fenstervertiefung. Sie wußte nicht, welchem der aufkeimenden Gefühle sie sich hingeben sollte. Der erste Schreck hatte sie mit Bestürzung erfüllt, dann aber, als sie ihre Feindin unter allgemeiner Theilnahme aus dem Saale führen sah, erwachte die Furcht, daß ein vorhandenes Testament Mariannen zur Universalerbin erklärte. Auf diese Weise wäre sie besiegt, ohne daß ein Kampf stattgefunden hätte. Dieser Gedanke erregte in ihr eine Bitterkeit, daß sie sich theilnahmlos abwandte. Sie fühlte ein heftiges Brennen in dem Gesichte und ein Sausen vor den Ohren. Ihre Niederlage schien ihr so gewiß zu sein, daß sie sich entschloß, ohne Aufsehen den Rückweg anzutreten. Hier verließ sie die siegreiche Marianne und dort begegnete sie dem treulosen Walther, der sich nun ohne Zwang, wie sie wähnte, der reichen Erbin nähern würde. Die stolze Dame fühlte sich völlig niedergeschmettert.

„Wie aber,“ fragte sie sich plötzlich, „wenn kein Testament vorhanden wäre? Der Oberst hat sicher an ein so rasches Ende nicht gedacht. Dann bin ich, die einzige Adersheim, die Erbin, denn jene ist ein völlig fremdes Mädchen und hat keine Ansprüche. Dann bin ich hier Herrin, und Alles liegt zu meinen Füßen. Ich kann mich nicht entfernen, ohne über diesen Punkt Gewißheit zu erhalten.“

Von einer qualvollen Unruhe gefoltert, blieb sie in dem Saale. Der Arzt erschien, den der Wagen geholt hatte. Er untersuchte den Obersten, und constatirte seinen Tod. Der Schuß hatte das Gehirn verletzt. Man bedeckte nun die Leiche mit einem großen weißen Tuche und alle verließen den Saal, der geschlossen ward. Still gingen die Domestiken und Knechte ihren Beschäftigungen nach. Auf der sonst so lebendigen Besitzung herrschte eine tiefe Trauer. Während Eberhard von Detmar Marianne zu trösten suchte, folgte Franziska dem Actuar in die Gerichtsstube, die sich in einem Seitengebäude des Schlosses befand. Der unter Acten ergraute Rechtsmann empfing die Dame mit einem devoten Lächeln. Er kannte die Tochter des Bruders seines verstorbenen Gerichtsherrn und wußte um alle in der Familie obwaltenden Verhältnisse.

„Mein Herr,“ begann sie mit schwankender Stimme, „Sie werden es sicher nicht als Theilnahmlosigkeit an dem erschütternden Ereignisse deuten, wenn ich mir jetzt schon von dem Stande der Dinge in meiner Familie Kenntniß zu verschaffen suche. Sie kennen ohne Zweifel den unglückseligen Zwiespalt – –“

„Ganz recht, gnädiges Fräulein, ich kenne ihn!“ unterbrach sie der dienstwillige Actuar. „Nach meiner unmaßgeblichen Meinung erfüllen Sie selbst eine Pflicht. Sie sind nicht nur die nächste, sondern auch einzige Verwandte des Verstorbenen. Ihnen steht das Recht zu, Auskunft zu fordern.“

„Ist ein Testament vorhanden?“ fragte Franziska mit vor Angst erstickter Stimme.

„Nein!“

„Mein Herr! Mein Herr!“ stammelte sie, und ein freudiger Schreck durchbebte ihren ganzen Körper.

„Hier ist kein Testament gemacht und deponirt. Daß der Herr Oberst an einem andern Orte über sein Vermögen verfügt haben sollte, bezweifle ich, denn in allen Rechts- und Familiensachen war ich sein Rathgeber und Beistand. Ich glaube, Sie als die Erbin von Adersheim begrüßen zu können. Erlauben Sie, daß der alte Gerichtshalter der erste ist, der seiner neuen Herrin huldigend die Hand küßt.“

Und er zog die zarte Hand Franziska’s an seine weißen, schmalen Lippen.

Das war ein jäher Uebergang von der schmerzlichsten Demüthigung zur stolzesten Freude. Sie hätte den Mann in die Arme schließen mögen, dessen Ausspruch alle ihre Feinde vernichtete.

„Lieber Herr,“ sagte sie, „ich ersuche Sie, mir nicht nur Rathgeber und Rechtsbeistand, sondern auch ein Freund zu sein. Die Herrin von Adersheim wird Ihnen diesen ersten Dienst zu lohnen wissen, zählen Sie darauf. Doch verschweigen Sie so lange unsere heutige Unterredung, bis über die volle Rechtsmäßigkeit meiner Erbschaft kein Zweifel mehr obwaltet. Hier ist meine Adresse. Senden Sie mir über alle Vorgänge Nachricht. Am Begräbnißtage sehen Sie mich wieder.“

„Ich beeile mich, dem Obergerichte Anzeige zu machen. In wenig Wochen werden Sie Einzug halten können.“

Franziska besuchte noch einmal die Leiche des Onkels, das sie jetzt Anstandes wegen für nöthig hielt, dann verließ sie das Schloß, ohne von Eberhard von Detmar und Marianne Abschied zu nehmen. Sie brachte die erste Nachricht von dem plötzlichen Tode des Obersten nach der Residenz. Denselben Abend sah man sie schwarz gekleidet in einer Loge des Opernhauses. Es war nicht zu läugnen, daß ihr die tiefe Trauer reizend stand. Die zarte Farbe ihres Gesichts ward durch den eleganten schwarzen Florhut, zum schneeigen Weiß gehoben. Durch die Spitzen schimmerten die runden Schultern wie matter Alabaster. Aber Franziska trauerte nur durch die Kleidung, ihr Herz hätte vor Wonne und Siegesjubel zerspringen mögen. Sie hatte Mühe, ihren Zustand zu verbergen. Dies wäre ihr fast zur Unmöglichkeit geworden, als sie Walther von Linden in einer Loge der ihrigen gegenüber erblickte, wie er mit seinem glänzenden Lorgnon forschend zu ihr herüber sah. Es schien, als ob er sich von der Identität der trauernden Dame mit ihrer Person überzeugen wollte. In einem der Zwischenacte verließ er plötzlich seinen Platz.

„Er hat mich erkannt, er kommt!“ dachte sie mit einer unbeschreiblichen Wonne. „An ihm werde ich mein erstes Strafgericht üben.“

Sie hatte sich nicht getäuscht. Nach einigen Minuten öffnete die Schließerin die Thür der Loge und Walther trat ein. Sie dankte durch ein kaltes, stolzes Kopfnicken auf seinen Gruß.

„Mein Gott, Franziska,“ fragte er eifrig, „Sie sind in tiefer Trauer – was ist geschehen?“

„Treibt Sie die Theilnahme oder die Neugierde?“ fragte sie mit einer reizenden Impertinenz.

[495] „Wie können Sie glauben!“

„Nach der Scene von diesem Morgen bleibt mir nichts anders übrig. Ihre Condolation darf ich nicht annehmen, weil ich durch eine Gratulation danken müßte.“

„Sie sprechen in Räthseln, Franziska!“

„Für Sie? Für Sie?“

„Ich schwöre Ihnen, daß ich bestürzt bin –“

„So erholen Sie sich, Herr von Linden: Der Oberst von Adersheim ist diesen Morgen durch einen unvorsichtigen Schuß auf der Jagd um’s Leben gekommen – gehen Sie hin und beglückwünschen Sie seine Universalerbin, deren Reize nun wohl völlig makellos sein werden.“

„Der Oberst todt?“ rief Walther erstaunt.

„Verlassen Sie sich darauf, ich habe seine Leiche gesehen.“

„Und Sie sind so gleichgültig?“

„Ich bin mehr zu beklagen als der Verstorbene. Wenn Sie die Erbin von Adersheim heirathen wollen, müssen Sie sich an eine andere wenden.“

„Franziska,“ sagte Walther lächelnd, „Ihr Zorn steht Ihnen in der Trauerkleidung so reizend, daß es Ihnen wahrlich nicht an Anbetern fehlen wird, auch wenn Sie bei dem Tode des Onkels leer ausgegangen sind. Um Ihre Trauer durch Kränkung nicht zu erhöhen, entferne ich mich!“

Walther verneigte sich und verschwand aus der Loge.

„Das dachte ich mir!“ murmelte er. „Der Oberst war zu erbittert – Marianne ist Erbin, Franziska’s Zorn ist ein sicherer Beweis.“

„Ich sehe ihn dennoch zu meinen Füßen!“ dachte Franziska, indem sie sich in den Sitz zurückwarf, und theilnahmlos dem folgenden Acte der Oper zuhörte.


IV.

Der Begräbnißtag war gekommen. Auf dem Schlosse Adersheim war alles Schweigen und Trauer. In dem mit Blumen geschmückten Saale stand der Sarg auf schwarzer Bahre. Er war geöffnet, damit die Leute ihren geliebten Herrn noch einmal sehen konnten. Man hatte den todten Obersten mit der Armeeuniform bekleidet, und auf seiner Brust prangten die Bänder zweier Orden. Schärpe, Degen und Federhut lagen neben der Leiche auf einem Tische. Eberhard von Detmar hatte seinen Freund und Waffengenossen zur letzten Parade geschmückt. Domestiken, Knechte, Mägde und Landleute, alle schwarz gekleidet, standen in stillen Gruppen in dem Saale, und betrachteten mit feuchten Augen den verblichenen Herrn. Gottfried, der greise Kammerdiener, stand zu den Füßen der Leiche; er hatte seine Hände gefaltet, und weinte und betete still vor sich hin. Neben ihm stand der Gerichtshalter mit kaltem, ruhigem Gesichte. Der Saal bot einen rührenden Anblick dar. Nicht den ergreifenden, schrecklichen Tod, wie in den Hallen der Kirche; nicht den prunkenden, wie er durch die Straßen zieht – hier sah man den rührenden Tod, wie er sich in die friedlichen Räume des Hauses schleicht. Hier feierte das Herz ein Leichenbegängniß, und Thränen, die den Augen biederer, schlichter Leute entströmten, gaben den Beweis von der Aufrichtigkeit des Schmerzes.

In dem Fremdenzimmer befand sich Franziska; sie hatte das Fenster geöffnet und beobachtete den Schloßhof. Zwei Wagen fuhren durch das Thor ein. Wer beschreibt ihre Ueberraschung, als sie unter den Männern, die zum Begräbuiß des Obersten aus der Residenz gekommen waren, auch Walther von Linden erblickte. Das hatte sie nicht erwartet.

„Nicht die Achtung vor dem Todten, die Liebe zu Marianne führt ihn her!“ flüsterte sie, bebend vor Zorn und Eifersucht. „Er ist der einzige junge Mann unter den Leidtragenden, und es kann nicht fehlen, daß er auf die eitele Bäuerin einen günstigen Eindruck ausübt. Wie schlau er verfährt – gerade an diesem Tage unternimmt er seinen ersten Schritt, wenn er nicht ohne mein Wissen bereits ausgeführt ist. Er vermuthet nicht, daß die nach seiner Meinung leer ausgegangene Franziska auf Adersheim ist. Nur Geduld, Verräther, Du wirst den Irrthum bald einsehen, und den Verrath schmerzlich bereuen! Ich bin die Erbin!“ fügte sie mit dem Gefühle des Stolzes hinzu. „Alle, die mich jetzt kaum bemerken, werden in kurzer Zeit vor mir zittern!“

Sie schwor, eine furchtbare Rache zu üben.

Kaum waren die Männer aus der Stadt in den Saal getreten, als auch Marianne an der Hand des Predigers erschien. Das bleiche Aussehen und die verweinten Augen verriethen ihren tiefen Schmerz. Eberhard von Detmar und Philipp, der junge Landmann, folgte ihr. Marianne und Philipp traten heran, küßten noch einmal die starre Hand ihres Wohlthäters, und der Sarg ward geschlossen. Zwölf Landleute trugen die Bahre in den Hof, wo sich der Leichenzug ordnete.

Franziska zeigte sich an dem Fenster, das über der Freitreppe lag, auf der Marianne laut schluchzend stand. Von der nahen Dorfkirche herüber erklangen die Trauertöne der ländlichen Glocken, der Zug setzte sich in Bewegung. Als er jenseits des Thores in der Allee verschwand, die zu der bei der Kirche liegenden Familiengruft führte, brach die von Schmerz überwältigte Marianne zusammen. Franziska neigte sich aus dem Fenster – da sah sie, wie die Sinkende von Walther’s Armen empfangen und in das Haus zurückgetragen wurde. Sie erstarrte zur Bildsäule. Einige Minuten später verließ Walther den Hof, um sich dem langsam schreitenden Zuge anzuschließen.

„Diesen Dienst wird sie ihm danken, wenn sie kann!“ flüsterte die Lauscherin vor sich bin. „Der Edelmann vergißt seinen Stand, um sich die Gunst einer Bettlerin zu erwerben, weil sie plötzlich reich geworden zu sein scheint. Mich, die Dame von Rang, vernachlässigt er, beleidigt mich selbst, weil er annimmt, sie hat sich in ihren Erbschaftshoffnungen getäuscht. Eine größere Ironie konnte der Zufall nicht ausdrücken als in der Fügung aller dieser Verhältnisse. Und ich beherrsche sie alle! Ich, die Gemißhandelte!“

Eine halbe Stunde später deutete das Schweigen der Glocken an, daß die traurige Feierlichkeit auf dem Friedhofe vollendet sei. Die Leute kamen zurück, und zerstreuten sich still in die einzelnen Gebäude. Während Franziska mit dem ihr ergebenen Gerichtshalter ein eifriges Gespräch führte, trat Eberhard von Detmar in Marianne’s Zimmer. Sie erhob sich von dem Sessel, und reichte ihm still weinend beide Hände.

„O, ich begreife ganz Ihren Schmerz!“ rief der würdige Mann. „Ihnen ist ja der zärtlichste Vater gestorben.“ Sie warf sich an die Brust des Greisen.

„Und ich trage vielleicht die Schuld an seinem Tode!“ flüsterte sie.

„Sie, mein Kind? Unmöglich, ich war Zeuge des Unglücks. Nachdem wir vergebens einen Theil des Reviers durchsucht hatten, bestiegen wir den Wagen, um über ein Feld zu fahren. Da sahen wir ein Reh in den Busch fliehen. Mein Freund, ein eifriger Jäger, ließ halten, sprang aus dem Wagen, und in demselben Augenblicke entlud sich das Gewehr, das er gegen allen Gebrauch aufrecht in der Hand trug. Dies ist der einfache Hergang, den ich durch einen Eid bekräftigt habe. Wie kann Sie irgend ein Vorwurf treffen?“

„Sie kennen vielleicht die traurige Veranlassung nicht, die mich in das Haus meines Wohlthäters geführt.“

„Der gute Oberst hat mir Alles erzählt.“

„Dann müssen Sie auch wissen, daß er stets mit einer gewissen Furcht auf die Jagd ging. Ich kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für diese Beschäftigung, und mit Schmerz sah ich, daß er ihr aus Rücksicht für mich nicht folgte. Nur wenn ich ihm zuredete, griff er zur Büchse und ging in den Wald. Du bist mein Schutzgeist, rief er dann lächelnd aus; wenn Du mich gehen heißest, kann mir kein Unglück begegnen. Auch an jenem Tage drang ich mit freundlicher Gewalt in ihn; er fuhr mit Ihnen ab, und ist nicht wiedergekommen. Hätte ich geschwiegen, der arme Mann wäre sicher noch am Leben!“

„Mein liebes Kind, der Schmerz erfüllt Sie mit grundlosen Befürchtungen. Ich wiederhole Ihnen, daß nur die eigene Unvorsichtigkeit unsers geschiedenen Freundes die Schuld an dem Unglück trägt. Es ist geschehen, und kein Mensch in der Welt vermag es zu ändern. Bewahren Sie das Andenken an den Todten in Ihrem dankbaren Herzen, indem Sie so gut und edel zu werden sich bemühen, wie er war, und Sie erfüllen als seine Tochter Ihre Pflicht. Mehr kann Gott und die Welt nicht von Ihnen fordern. Doch nun erlauben Sie mir auf einen Punkt zu kommen, den ich heute noch nicht beregen sollte, heute, wo sich kaum die Gruft unsers Freundes geschlossen hat; aber der Drang der Umstände mag mich entschuldigen, denn ich muß diesen Abend abreisen.“

Eberhard zog Marianne zu sich auf den Sopha.

[496] „Die kurze Zeit meiner Anwesenheit auf Adersheim,“ begann er mild, „hat genügt, um mich einen Blick in die hier obwaltenden Verhältnisse werfen zu lassen. Nach den Mittheilungen meines Freundes finde ich sie erklärlich, selbst natürlich. Sie stehen jetzt wiederum allein wie in jener Zeit, als Ihnen der Tod in einer Nacht Vater und Mutter raubte. Für das älternlose Kind war bald ein Asyl gefunden; für die Jungfrau, die eine Stellung im Leben einzunehmen berechtigt ist, wird es ungleich schwerer sein.“

Marianne schlug ihre thränenfeuchten Augen in frommer Ergebung empor.

„Mein Herr,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „ich bin als eine arme Waise in das Haus meines Wohlthäters gekommen; wenn ich es arm wieder verlasse, so finde ich kein Unrecht darin. Ich fühle beim Scheiden keinen andern Schmerz als den, die Räume verlassen zu müssen, in denen ich unter der Obhut meines zweiten Vaters so glücklich war. Meine theuersten Erinnerungen knüpfen sich an Adersheim, und ist der erste Schmerz überwunden, so fürchte ich nicht, dem Ernste des Lebens zu erliegen. Aber ich gehe nicht so leer aus, wie man wohl glauben möchte – hat mich die Liebe des Herrn Oberst nicht mit Schätzen ausgerüstet, die mir Niemand rauben kann? Er hat mich zu dem heranbilden lassen, was ich bin, ich besitze nützliche Kenntnisse, die ich verwerthen kann. Hieße es nicht seine gute Absicht verkennen, wenn ich auf mehr Anspruch machen wollte? Würde ich nicht die größte Undankbarkeit an den Tag legen?“

„Sie verkennen in der That die Absicht meines Freundes!“ rief Eberhard, verwundert über die Zartheit Marianne’s.

„Wie?“

„Der Oberst hat nie daran gedacht, seine Sorge für Sie nur auf Ihre Ausbildung beschränken zu wollen.“

„Ich erinnere mich nicht, daß er je darüber gesprochen.“

„Zu Ihnen; aber er hat mir seine Absicht geäußert. Ihre Erziehung berechtigt Sie zu dem Leben der höhern Gesellschaft, und er hielt es für Pflicht, Ihnen die Mittel zu diesem Leben zu liefern. Der plötzliche Tod hinderte ihn, sie zu erfüllen. Er hat kein Testament hinterlassen. Das ganze große Vermögen fällt der Tochter seines Bruders anheim – Ihrer Feindin. Läßt sich einerseits in dem Verzögern, seinen letzten Willen festzusetzen, auch die Gutherzigkeit des Verstorbenen erkennen, die stets noch auf eine Besserung der verblendeten Verwandtin zählte, so muß man sich, bei seiner unbegrenzten Liebe zu Ihnen, über die Sorglosigkeit andererseits wundern, mit der er Ihr materielles Wohl unberücksichtigt gelassen hat. Besitzen Sie keine Schenkungsakte?“

Marianne schüttelte schweigend das schöne Haupt.

„Auch ist Ihnen keine förmliche Adoption bekannt?“

Dasselbe Zeichen.

„Dann, Marianne, sind sie der Willkür Franziska’s ausgesetzt. Sie ist die rechtmäßige Erbin, und hat über das Vermögen des Onkels zu verfügen. Das war aber nicht die Intention des Verstorbenen. Er schilderte mir Franziska als eine Verschwenderin und Spielerin. Während Sie vielleicht ein höchst bescheidenes Leben führen, das Sie bei Ihrer Bildung doppelt drückend fühlen müssen, vergeudet jene Dame in übermüthiger Siegeslust das Vermögen, das Ihnen der Verblichene zugedacht hat. O, ich habe es wohl bemerkt, daß ihm das Scheiden aus dieser Welt schwer wurde, weil er Ihr Glück nicht gesichert wußte. Marianne, wir müssen uns verbinden, die Absicht des Todten zu verwirklichen. Zwar weiß ich in diesem Augenblicke nicht, wie ich den ersten Angriff gegen unsere Feindin formiren soll; aber ich wache über Sie und schütze Sie. Der Gerichtshalter ist zum Curator der Erbschaftsmasse bestellt; vor der Hand bleibt also Alles wie es ist, und Sie werden in Ihren Verhältnissen bleiben, um zu beobachten und mir Bericht zu erstatten. Hier ist meine Adresse. Sobald ich kann, bin ich wieder hier.“

Gegen Abend reiste Eberhard von Detmar ab.

[505] Nach der Entfernung des wackern Mannes fühlte sich Marianne einsam und verlassen auf der Welt, ihr war, als ob mit dem einzigen Freunde des Verstorbenen ihre letzte Stütze entschwunden sei. Der Oberst hatte wie ein Einsiedler gelebt, außer einigen Geschäftsfreunden war Niemand in der Residenz, der sich eines vertrauten Umganges mit ihm rühmen konnte. So kam es, daß sein Tod nur von den ihm nahe stehenden Personen und den zu dem Schlosse gehörenden Landleuten betrauert ward. Der trockene Gerichtshalter versah wie immer seine Amtsgeschäfte, und fragte ihn Jemand, wer wohl die künftige Herrin sein werde, so zuckte er lächelnd mit den Achseln, ohne zu antworten. Seit dem Begräbnißtage sah man Franziska nicht mehr auf Adersheim. Marianne, obgleich tief gebeugt von Schmerz, leitete gewissenhaft die innern wirthschaftlichen Angelegenheiten. Aber sie fand keine Beruhigung in der Erfüllung ihrer Pflicht; das sonst so heimische Haus erschien ihr jetzt wie eine Zufluchtsstätte, die man ihr nur gezwungen bewilligt hatte, und eine Art Schaamgefühl trieb ihr das Blut in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie von der Großmuth Franziska’s abhängig geworden sei. In dem Betragen der Dienstleute glaubte sie bald eine scheue Ehrfurcht zu bemerken, bald ein Nachkommen ihrer Anordnungen aus Mitleid. Der alte Kammerdiener schlich traurig und gebückt durch die weiten Räume des Hauses, es schien, als ob der Tod seines Herrn ihm alle Lebenslust geraubt, als ob der schwere Schlag ihn bis zum Sterben erschüttert hätte. Es gab keinen Menschen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, und selbst Philipp, ihr Jugendgespiele, den nun keine Geschäfte mehr nach Adersheim führten, blieb aus.

Vier Tage waren seit dem Begräbnisse verflossen, als sie, von einem unerklärlichen Dränge getrieben, Hut und Mantel ergriff, und das Schloß verließ. Sie schlug den Fußweg über die Wiese ein, der zu der kleinen Meierei des alten Eckhard führte. Der Landmann war nicht nur ihr Pathe, er war auch weitläufig mit ihr verwandt. Der trübe Herbsttag hatte einen Nebelschleier über der Landschaft ausgebreitet, die Luft war still und kalt, und von den Bäumen sank geräuschlos das letzte braune Laub herab. Gedankenvoll betrat sie ein Wäldchen, das sie noch von dem Ziele ihrer Wanderung trennte. Da erklangen plötzlich Schritte in kurzer Entfernung, und nach einer Minute trat ihr Philipp in der Krümmung des Weges entgegen. Als er Mariannen erblickte, ward sein gebräuntes Gesicht purpurroth, wie bestürzt zog er seine verschossene Tuchmütze, und trat ehrerbietig mit entblößtem Haupte in das Gras, um der jungen Dame den schmalen Fußpfad frei zu machen.

Philipp war ein junger Mann von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Sein Gesicht war etwas mager und bleich, ohne gerade krankhaft auszusehen. Das Haupt bedeckten blonde, natürlich gekräuselte Haare. Die hohe Stirn und das scharfblickende dunkele Auge unter starken Brauen verriethen einen festen, entschlossenen Charakter. Sein Wuchs war schlank und kräftig, und alle seine Bewegungen verriethen eine männliche Energie, wenn sie auch nicht frei waren von den Unbeholfenheiten des Landmanns.

„Guten Tag, Philipp!“ flüsterte sie, indem sie stehen blieb, und ihm die Hand reichte.

Er wagte es kaum, mit seiner von der Arbeit abgehärteten Hand die zarten Handschuhe des jungen Mädchens zu berühren. Aber mit bewegter Stimme erwiederte er den Gruß.

„Wohin gehst Du, Philipp?“ fragte freundlich Marianne, die den Grund seiner Befangenheit errieth.

„Nach dem Kirchhofe. Ich will nach den Blumen auf dem Grabe des Herrn Oberst sehen. In der verflossenen Nacht haben wir den ersten Frost gehabt – sie werden wohl verwelkt sein.“

Diese Aufmerksamkeit, schlicht und einfach ausgesprochen, rührte Mariannen tief; sie mußte weinen. Als sie das weiße Batisttuch von dem Gesichte nahm, sah sie auch in Philipp’s Augen Thränen.

„Ich werde Dich begleiten,“ sagte sie leise.

„Du willst mit mir umkehren?“ fragte Philipp erstaunt, der kaum glauben mochte, daß er fähig sei, auch nur so viel Einfluß auf die vornehme Dame auszuüben, daß sie von dem einmal eingeschlagenen Wege abwich. Er betrachtete dies als eine große Herablassung.

Schweigend nickte sie mit dem Haupte. Sie trat den Rückweg an. Philipp folgte. Als der Pfad breiter wurde, ging sie neben ihrem Begleiter her.

„Ich wollte zu Euch gehen, Philipp, um zu fragen, warum keiner von Euch auf das Schloß kommt. Habt Ihr mich denn ganz vergessen?“

„Vergessen?“ fragte der junge Mann. „Ich wäre gern alle Tage gekommen, wenn ich nur gewußt hätte, daß ich nicht störe. Vater meint, ein Trauerhaus dürfe man nicht so oft besuchen.“

„Ach, Philipp, Deine Gegenwart hätte meinen Schmerz gelindert. Seit dem Tode meines Wohlthäters ist es in dem Schlosse ganz anders geworden, die Leute wissen nicht, wofür sie mich halten sollen, und mir fehlt der Muth, gegen irgend einen mein Herz auszuschütten. Ach,“ fügte sie seufzend hinzu, „wie hat sich Alles geändert! Man weiß, daß ich nichts weiter bin, als eine arme Waise. Solltest Du noch nicht gehört haben, daß Franziska von Adersheim die künftige Herrin des Schlosses ist?“

[506] „Ja; aber ich wollte es nicht glauben.“

„Es ist die Wahrheit.“

Der junge Mann vermochte nicht zu antworten; er kämpfte mit einer gewaltigen Bewegung. Nach einer Pause rief er: „Sie wird es nicht wagen, Dir Kummer zu bereiten! Wenn sie nur ein wenig Dankbarkeit gegen den Mann empfindet, der ihr ein so großes Vermögen hinterlassen hat, so muß sie seine Tochter – und Du bist die Tochter des Obersten – achten und ehren!“

„Darauf rechne ich nicht,“ antwortete sie in einem schmerzlich milden Tone. „Sobald die Erbschaftsangelegenheit geordnet ist, verlasse ich das Schloß. Der selige Oberst hat so viel Gutes an mir gethan, daß ich ferner nichts mehr erwarten kann.“

Philipp schwieg einen Augenblick. Hätte Marianne zur Seite gesehen, so würde sie bemerkt haben, daß sich des jungen Mannes eine große Bestürzung bemächtigt hatte. Sein großes Auge starrte zu Boden und seine Lippen zitterten.

„Du willst fort?“ fragte er dann leise und mit bewegter Stimme.

„Ich muß, Philipp, so schwer mir der Abschied von dem Orte meiner Kindheit auch wird.“

„Und wohin willst Du gehen?“ fragte er kaum hörbar.

„Ich vertraue auf Gott und gute Menschen. Die kurze Zeit, die mir noch hier zu bleiben vergönnt ist, werde ich größtentheils im Kreise Deiner Familie zubringen.“

Hier stockte das Gespräch. Philipp hatte nicht den Muth zu reden, und Marianne war von dem Gedanken an die Trennung so ergriffen, daß sie aller Fassung bedurfte, um ihre Thränen zurückzuhalten. Sie standen an dem Gitter des ländlichen Friedhofs, dessen Thor geöffnet war. Der Todtengräber war beschäftigt, ein Kindergrab zu graben. Als er Marianne erblickte, stellte er die Arbeit ein, und zog ehrerbietig seinen Hut.

Das Feld des Todes war mit kleinen Hügeln und weißen und schwarzen Kreuzen bedeckt. Man sah weder prunkenden Marmor noch vornehme Besucher, welche kokettirend zierliche Blumen auf die Gräber setzen; allein so viel ist gewiß, daß hier manche aufrichtige Thräne die einsamen Furchen benetzt. Die beiden jungen Leute gingen schweigend durch die zusammengesunkenen Hügelreihen, um deren einfache und verwitterte Holzmonumente sich der Brombeer rankte. Plötzlich blieb Marianne bei einem Doppelgrabe stehen, das sich von den Übrigen durch ein niederes Holzgitter auszeichnete. Zwei Kreuze ragten darüber empor. Auf dem einen standen mit noch kaum leserlichen Buchstaben die Namen „Georg Lorenz“, auf dem andern „Elisabeth Lorenz“.

„Meine Aeltern!“ flüsterte Marianne, in stilles Weinen ausbrechend.

Die Zeit der Jugend, so weit sie sich deren erinnern konnte, ging deutlich vor ihrer betrübten Seele auf. Sie sah Vater und Mutter in dem armseligen Häuschen am Walde, den kleinen Philipp, der lächelnd durch die niedere Thür eintrat, um seine Gespielin abzuholen, und endlich sich selbst in den ärmlichen Kleidern, die im Sommer kaum hinreichten, um die Blößen zu bedecken.

Mit einer innigen, unbeschreiblichen Wehmuth gedachte sie dieser traurigen, aber dennoch glücklichen Zeit. Vater und Mutter schlummerten im Grabe, und das Häuschen am Walde war verfallen – nur Philipp noch stand ihr zur Seite mit entblößtem Haupte und feuchten Blickes die Ruhestatt betrachtend. Der junge Mann erschien ihr wie ein heiliges Vermächtniß, selbst wie die einzige Stütze, an die sich das Herz anklammern konnte. Er trauerte mit ihr um die entflohenen Freuden der Kinderjahre, er empfand mit ihr das Drückende der Gegenwart – er allein. Das Gitter um die geliebten Gräber hatte er angefertigt, und die beiden Kreuze waren von seiner Hand geschnitzt und beschrieben. Noch nie hatte sie des schlichten Landmanns Bedeutung für ihr Herz so klar und tief empfunden, als in diesem Augenblicke, wo eine entscheidende Wendung ihres Geschickes bevorstand. Wie überwältigt von den anstürmenden Empfindungen und Gedanken reichte sie ihm die Hand.

„Laß uns weitergehen!“ flüsterte sie.

Sie gingen um die Dorfkirche mit ihrem viereckigen Thurme, spitzem Schieferdache und ihren winkeligen Strebepfeilern. Die Kirche von Adersheim gehört zu den klassischen Gotteshäusern jener Gegend, das heißt, sie ist im grauen Alterthume erbaut, in verschiedenen Kriegen vertheidigt und erobert worden, und enthält die Familiengruft der Herren von Adersheim, eines der ältesten edeln Geschlechter. Zu dieser Gruft gelangt man durch ein Eisengitter, das die untere Thurmhalle abschließt. Die Halle enthält einen großen Sarkophag von Stein, der so lange die Hülle des Letztverstorbenen birgt, bis ein neuer Todesfall die Räumung desselben erfordert. Am Begräbnißtage des Barons Friedrich von Adersheim, des Pflegevaters unserer Marianne, hatte man den Baron Anton, den Großvater Franziska’s, in dem unter der Kirche befindlichen Gewölbe beigesetzt. Der letzte der Herren von Adersheim lag jetzt in dem Sarkophage, es gab keinen mehr, der ihm seinen letzten Platz streitig machen konnte.

In diese Halle traten Philipp und Marianne. Wie erstaunten sie, als sie eine Fülle frischer Blumen ausgestreut fanden. Der Ort der Verwesung duftete lieblich wie ein Gewächshaus.

„Man ist mir schon zuvorgekommen,“ sagte Philipp traurig.

„Der gute Oberst,“ flüsterte Marianne gerührt, „besitzt auch außer uns noch Freunde, deren Hand liebend seine Ruhestätte schmückt. Ich möchte sie kennen lernen.“

In diesem Augenblicke trat der Todtengräber ein.

„Wer hat die Blumen gestreut?“ fragte ihn das junge Mädchen.

„Ein Herr, wahrscheinlich aus der Stadt,“ war die Antwort. „Ich mußte ihm das Gitter öffnen, und darum finden Sie es noch nicht wieder verschlossen.“

„Wann war er hier?“

„Vor kaum einer Viertelstunde.“

„Habt Ihr ihn früher schon im Dorfe gesehen?“

„Nein. Er kam mir vor wie ein Offizier von der Garde, denn er war noch jung, schlank gewachsen, und trug einen schwarzen Schnurr- und Backenbart. Diese Herren haben immer so etwas Eigenthümliches, das sich nicht verkennen läßt. Ich bin früher auch Soldat gewesen, und darum weiß ich das. Der alte Mann, der die Blumen trug, und sein Bedienter zu sein schien, nannte ihn Herr von Linden. Mehr weiß ich nicht von ihm.“

Marianne erinnerte sich Walther’s von Linden, der ihr während ihres Aufenthaltes in der Residenz, so oft sich die Gelegenheit dazu bot, die größten Aufmerksamkeiten bewiesen hatte; da sie wußte, daß er in keiner Beziehung zu dem Oberst gestanden, daß er vielmehr oft in Franziska’s Gesellschaft gesehen worden, und daß man sich erzählte, er mache ihr den Hof, so suchte sie die Erklärung dieser Demonstration in seinem zärtlichen Verhältnisse zu der reichen Erbin. Sie ahnte nicht, daß sie selbst ihrer Feindin Grund zur Eifersucht gegeben hatte.

„Die lachenden Erben,“ dachte sie, „nahen sich der Gruft des Erblassers, um scheinbar ihre Trauer an den Tag zu legen.“

Weiter gab sie dem Umstande keine Bedeutung. Sie verrichtete ein kurzes Gebet, und verließ mit Philipp, den der Bericht des Todtengräbers trüb gestimmt hatte, die Gruft.

„Man gestattet uns nicht,“ flüsterte Marianne ihm zu, „daß wir allein das Grab schmücken. Mögen sie immerhin,“ fügte sie unter Thränen hinzu – „wir bewahren das Andenken an den geliebten Todten in unserm Herzen, und diese Feier vermag Niemand zu beeinträchtigen.“

Unter schmerzlichem Schweigen verließen sie den Gottesacker. Ohne daß eine Verständigung erfolgt, schlugen sie den Weg nach Philipp’s Gehöft ein, daß sie nach einer Viertelstunde erreichten.

Die hochbejahrten Aeltern des jungen Mannes nahmen Mariannen mit einer rührenden Freude auf, denn sie betrachteten sie als die Vermittlerin ihres Wohlstandes. Gewaltsam wurde sie in das beste Zimmer geführt; dort mußte sie sich in dem mit Kattun überzogenen Lehnsessel niederlassen, den die alte Bäuerin nur Sonntags zu benutzen pflegte, wenn sie die Arbeitskleider abgelegt hatte. Marianne hatte seit länger als einem Jahre das Gütchen nicht besucht – wie verändert fand sie heute Alles. Das Stübchen war sauber und geschmackvoll eingerichtet, unter den einfachen Möbeln befand sich ein Sopha, und an den schneeweißen Wänden hingen Lithographien unter Glas und Rahmen. Mutter und Sohn hatten sich entfernt, um ein Vesperbrot für den seltenen Besuch zu besorgen.

„Dieses Zimmer hat unser Philipp eingerichtet,“ erzählte der alte Landmann in der Freude seines Herzens. „Er meinte, man müsse die Mutter auf ihre alten Tage pflegen, und wenn einmal ein Besuch von dem Schlosse käme, könne man ihn doch nicht in einer Gesindestube empfangen. Und er hatte Recht, denn der selige [507] Herr Oberst hat uns oft besucht. Wo Du sitzest, Marianne, hat er gar oft gesessen, seine Pfeife geraucht und geplaudert. Dann unterhielten wir uns von vergangenen Zeiten, und vorzüglich von dem Unglücke, das ihm mit Deinem armen Vater passirt ist. Ach, der gute Herr konnte es gar nicht vergessen, ich hatte immer große Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Den Philipp hatte er gern; das muß einmal ein tüchtiger Landwirth werden, sagte er. Und der Philipp hat sich das gemerkt. Alle neuen Bücher, welche die Gelehrten über Landwirthschaft geschrieben, hat er sich angeschafft. Wenn wir schlafen, sitzt er hier und studirt, und was er in den Büchern gelesen, das macht er auf dem Felde. Unser ganzer Hof ist nach dem neuen Schnitte eingerichtet, und wahrlich, es kommt viel Gutes dabei heraus. Unsere Aecker, Wiesen und Viehzucht sind die besten in der ganzen Gegend. Wie oft kommen die Nachbarn, um Philipp zu fragen, wie er dies oder das angefangen hat. Aber sieh nur einmal, wie viel Bücher er hat. Es steckt ein schönes Geld darin.“

Bei diesen Worten schob der Greis einen grünen Vorhang zurück, und Marianne sah eine ziemlich zahlreiche Bibliothek. Sie stand auf und las die auf dem Rücken verzeichneten Titel. Da fand sie landwirthschaftliche Schriften, naturhistorische und geographische Werke, deutsche, französische und englische Grammatiken und Wörterbücher, selbst Schiller’s und Goethe’s Werke in prachtvollen Einbänden. Marianne drückte laut ihre Verwunderung aus.

„Siehst Du die zwölf schönen Bücher mit den Goldbuchstaben?“ fragte lächelnd der Greis.

Marianne las den Namen Schiller.

„Nun?“ fragte sie.

„Diese Bücher hat ihm der Herr Oberst vor einem Jahre zu Weihnachten geschenkt. Sie müssen wohl sehr schön sein und dem Philipp gefallen, denn so oft er Zeit hat, liest er darin.“

Philipp trat ein; er trug einen Korb mit auserlesenen Aepfeln. Als er Mariannen vor der Bibliothek erblickte, ward er verlegen.

Dem jungen Mädchen entging dies nicht.

„Philipp,“ sagte sie, „Du hast mir verschwiegen, daß Du eine so ausgewählte Büchersammlung besitzest. Ich hätte gern das Meinige dazu beigetragen –“

„O, ich habe noch viel zu thun, ehe ich mit diesen Büchern fertig werde. Mir bleibt zum Studiren nicht viel Zeit, wenn ich die Oekonomie nicht vernachlässigen will. Was ich bis jetzt gethan, ist der Rede nicht werth. Vielleicht komme ich im nächsten Winter ein wenig weiter.“

Jetzt erschien auch die Mutter, und man setzte sich zu Tische. Auf alle Fragen, die Marianne an Philipp über seine Studien richtete, gab er eine ausweichende Antwort, es schien, als ob er sich seiner Bestrebungen schämte und sie geheim halten wollte. Bei dem trüben Himmel brach der Abend früh an, und Marianne bereitete sich zur Rückkehr vor.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Philipp schüchtern.

„Wenn Du mir die Gefälligkeit erzeigen willst!“ antwortete sie in einem höflichen Tone.

Diesmal erschien der junge Mann in einem bessern Rocke und mit dem Hute in der Hand. Marianne nahm von den beiden alten Leuten einen innigen Abschied und versprach, das nächste Mal früher zu kommen, damit man länger plaudern könne.

Ach, Marianne,“ sagte Vater Eckhard, indem er ihr die Hand drückte, „ich wollte, Du könntest immer bei uns bleiben.“

„Das wird nicht gut gehen!“ fügte das Mütterchen hinzu.

„Warum?“

„Wer einmal an das Leben im Schlosse gewöhnt ist –“

„Darüber sprechen wir später!“ fiel Marianne rasch ein. „Nun lebt wohl, bis auf Wiedersehen.“

Die beiden jungen Leute verließen die Meierei. Während sie über den reinlichen Hof gingen, sahen ihnen Vater und Mutter nach.

„Ein hübsches Mädchen!“ murmelte Eckhard. „Es kommt mir ordentlich schwer an, sie Du zu nennen. Hätte ich sie nicht oft in ihres Vaters Häuschen gesehen und hier im Hofe, wo sie mit unserm Sohne spielte, ich würde kaum glauben, daß sie Lorenz’s Tochter wäre. Es freut mich, daß sie auf unsern Philipp noch so viel hält.“

„Das ist wahr,“ meinte Mutter Eckhard. „Aber auch der Philipp hat sie gern. Hast Du gesehen, wie er sich geputzt hatte, um sie nach dem Schlosse zu begleiten?“

„Höre, Alter,“ flüsterte das Mütterchen mit lächelndem Gesichte, „ich habe längst daran gedacht, und heute ist mir es wiedereingefallen, als ich die beiden jungen Leute vor mir stehen sah – –“

„Was?“ fragte der greise Landmann gespannt.

„Daß sie ein Paar werden könnten!“

„Frau, bist Du toll?“ rief Eckhard in einem Tone, der verrieth, daß er zwar die Ansicht ebenfalls hegte, sie aber nicht auszusprechen wagte.

„Warum denn, lieber Mann?“

„Philipp ist kein Mann für Marianne, und Marianne ist keine Frau für Philipp. Sie ist in der Stadt und er auf dem Lande erzogen. Uebrigens, Frau, hüte Dich, eine Sylbe darüber zu äußern, daß es unser Philipp hört – er ist kein gewöhnlicher Bauer, das Mädchen gefällt ihm – mir scheint, er könnte sich leicht etwas in den Kopf setzen, und das wäre ein Unglück.“

„Für wen ein Unglück?“ fragte die Mutter, die auf ihren Sohn stolz war.

„Für Beide – auch für uns! Mag nun Marianne eine reiche Erbin werden oder wieder ein armes Mädchen, sie passen einmal nicht zusammen. O, ich hätte es für mein Leben gern; aber es geht nicht, es geht nicht, und damit Punktum!“

Vater Eckhard setzte hastig seine grüne Sammetmütze mit Otterpelz auf das greise Haupt, und ging in den Hof hinaus.

„Mag der alte Murrkopf denken, was er will,“ flüsterte das Mütterchen – „für unsern Philipp ist kein Mädchen zu gut. Na, wir wollen sehen, wie es wird – es ist noch nicht aller Tage Abend.“

Sie ging ihren häuslichen Beschäftigungen nach.

Philipp und Marianne waren indessen bei dem Schlosse angekommen. Ein dichter Nebel vermehrte die Dunkelheit des Abends, so daß man kaum das alte Thor unterscheiden konnte.

„Nun will ich zurückkehren,“ sagte Philipp. „Gute Nacht!“

Sie zog die Hand unter dem seidenen Mantel hervor, und reichte sie ihm.

„Willst Du nicht einen Augenblick mit mir in das Schloß gehen?“ fragte sie.

Der junge Mann zuckte bei der Berührung der kleinen weichen Hand zusammen.

„Nein, Marianne; es giebt Abends noch so Manches im Hause zu thun –“

„Dann darf ich Dich nicht abhalten, lieber Philipp. Nimm meinen herzlichen Dank für die Begleitung.“

„Wann kommst Du wieder zu uns?“

„Sobald ich kann. Und dann begleitest Du mich einmal zu unserm Häuschen am Walde. Ach, ich werde Dir noch oft lästig, werden müssen, denn außer Dir und Deinen guten Aeltern – –“

„Marianne,“ rief er rasch, „wende Dich an keinen Andern, als an mich – vergiß nicht, daß ich Dein Bruder bin! Willst Du mir das versprechen?“

„Wenn Du mein Versprechen annehmen willst.“

Statt der Antwort drückte er ihr innig die Hand. Dann verschwand er rasch in der Dunkelheit des Abends.

„Ach, mir fehlt noch viel!“ flüsterte er betrübt vor sich hin. „Ich fühle, daß ich noch sehr linkisch und unwissend bin!“

Er kam niedergeschlagen nach Hause; mit Mühe suchte er es seinen Aeltern zu verbergen. Aber dem Vater Eckhard entging die Gemüthsstimmung des Sohnes nicht, er schüttelte das greise Haupt und ermahnte noch einmal seine Frau, über den bewußten Punkt kein Wort zu verlieren.

Als Marianne, nachdem sie die letzten wirthschaftlichen Anordnungen getroffen, allein in ihrem Zimmer saß, gedachte sie der Vorgänge des Tages. Mit Schrecken erinnerte sie sich Walther’s von Linden und seiner Aufmerksamkeiten, die er ihr in der Stadt erwiesen, so oft er Gelegenheit dazu gefunden. Er hatte sie an dem Begräbnißtage, als sie vor Schmerz einer Ohnmacht nahe gewesen, in das Zimmer gebracht, und heute hatte er die Gruft des Obersten mit Blumen bestreut. „Was bedeutet das?“ fragte sie sich. „Warum diese auffallende Annäherung?“ – Doch bald traten die lieben Jugenderinnerungen wieder in den Vordergrund, der Stutzer war ihr zu gleichgültig, als daß sie sich länger mit ihm beschäftigen sollte. Sie dachte an Philipp und seine Aeltern, und als sie einschlief, träumte ihr nicht von den glänzenden Sälen der Residenz, sondern von dem ärmlichen Häuschen am Walde, wo sie mit Philipp kindliche Spiele trieb.

[508]
V.

Die Regulirung der Erbschaftsangelegenheit ging nicht so rasch von Statten, wie Franziska geglaubt hatte. Es fanden sich indeß Geldmänner, die ihr Summen, natürlich mit bedeutenden Zinsen, vorschossen. Ehe ein Monat verflossen, lebte sie wieder auf demselben großen Fuße, wie früher. Sie hatte eine große, prachtvolle Wohnung gemiethet, hielt Pferde und Wagen, und gab ungeachtet der Trauerzeit glänzende Gesellschaften. In ihren Sälen versammelte sich die schöne Welt der Residenz und fröhnte den aristokratischen Vergnügungen des Winters.

Marianne theilte ihre Zeit zwischen häuslichen Geschäften und den Besuchen bei Philipp’s Aeltern. Der junge Mann empfing sie wie der Bruder die Schwester. So offen und frei er sich auch sonst zeigte, so rückhaltend war er mit seinen Studien; es schien selbst, als ob er sich ihrer schämte. Den Landmann, der die Bewirthschaftung der Aecker und Wiesen verstand, trug er gern zur Schau; alle übrigen Kenntnisse suchte er mit Sorgfalt zu verbergen. So verfloß die Zeit, und der kleine Meierhof mit seinen gutherzigen, schlichten Bewohnern ward Marianne’s liebster Aufenthalt. Für Philipp, den sie nun näher kennen lernte, empfand sie nicht mehr die reine schwesterliche Zuneigung, sie konnte sich eines Gefühls nicht erwehren, das der Hochachtung ähnlich war.

Der Gedanke, daß sie sich bald von den guten Leuten trennen müsse, war nächst der Erinnerung an ihren verstorbenen Wohlthäter der einzige Schmerz. Den Verlust des Vermögens bedauerte sie nicht, da sie sich nie als die Erbin des Obersten betrachtet hatte. Aus diesem Grunde schrieb sie auch nur einen Brief an den Herrn von Detmar, worin sie ihm aus Artigkeit oberflächliche Mittheilungen von dem Stande der Dinge machte, aber mit keinem Worte ihrer Zukunft erwähnte. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, durch irgend ein absichtliches Verfahren der rechtmäßigen Erbin, für die sie Franziska hielt, Nachtheil zuzufügen. Sie beschloß, für sich selbst zu sorgen.

Um diese Zeit trat eines Abends der Kammerdiener Gottfried in ihr Zimmer. Der alte Mann befand sich in großer Aufregung.

„Ach, Fräulein Marianne, haben Sie denn nichts gehört?“ fragte er hastig.

„Was?“

„So eben ist ein Wagen in den Hof gefahren.

„Ein Wagen – wen brachte er?“

„Fräulein Franziska.“

Marianne fuhr erschreckt empor. Ihr ahnte, daß etwas vorgehen würde.

„Sie?“ flüsterte sie bestürzt.

„Verzeihen Sie, daß ich so erschreckt eintrete – aber nach dem Gespräche, das an jenem Unglückstage zwischen Ihnen und dem stolzen Fräulein stattfand –“

„Vermuthest Du, daß mir die Erbin nichts Gutes bringt?“

„Ach, ich glaube, es ist Grund genug dazu vorhanden.“

„Mein alter Freund, ich bin auf Alles gefaßt. Hier ist meines Bleibens nicht. Mehr, als mich aus ihrem Eigenthume jagen, kann meine Feindin nicht thun.“

„Aber wohin wollen Sie sich wenden?“ fragte der Greis unter Thränen.

Diese Frage fiel den armen Mädchen schwer auf das Herz.

„Wohin?“ flüsterte sie mit einem Blicke zum Himmel. „Der gute Gott hat mich damals nicht verlassen, als ich ein hülfloses Kind in der Welt stand – er wird mir auch jetzt einen Weg zeigen. Wo befindet sich Franziska?“

„Als ich den Wagen ankommen hörte, eilte ich in den Hof.

Das Fräulein war schon ausgestiegen und befahl mir, den Gerichtshalter zu holen. Ich that es. Jetzt befindet sie sich mit ihm in dem Saale; sie haben, wie es scheint, wichtige Dinge zu verhandeln. Ich benützte die Zeit, um Sie davon in Kenntniß zu setzen. Fräulein Franziska ist sehr aufgeregt und der Gerichtshalter ist so freundlich und höflich, daß er ihr das Kleid geküßt hat.“

Marianne hatte einen Augenblick nachgesonnen. Dann, als ob sie einen entscheidenden Entschluß gefaßt, erhob sie das Haupt, und sagte in einem entscheidenden Tone: „Man soll nicht sagen, daß ich meiner Pflicht gefehlt – bis zu dem Augenblick, wo man mich davon entbindet, werde ich sie erfüllen. Nimm das Licht, Gottfried, und leuchte mir in den Saal voran, ich will das Fräulein von Adersheim empfangen.“

Der Kammerdiener ergriff die Kerze, und ging voran. Beide stiegen die breite Treppe hinab, und traten in den Saal des Erdgeschosses. Franziska und der Gerichtshalter saßen an einem Tische, auf dem mehrere Aktenstücke und Papiere lagen.

Bei dem Erscheinen Marianne’s erhob sich Franziska. Der Anblick des einfachen, aber reizenden Mädchens, das mit ruhigen, würdevollen Mienen eingetreten, brachte eine fürchterliche Aufregung in der leidenschaftlichen Franziska hervor. Ihr Gesicht ward bleich und die großen Augen rollten in dem schönen Kopfe.

„Wer hat Sie rufen lassen, Demoisell?“ fragte sie mit bebender Stimme.

Hatte Marianne auch einen kalten, herzlosen Empfang erwartet, auf einen Empfang, der sie so tief herabsetzte, war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie vermochte vor Bestürzung nicht zu antworten.

Der greise Kammerdiener wollte sich entfernen.

„Halt, bleibe Er! Die Domestikenwirthschaft hat nun ein Ende!“ rief Franziska.

Der alte Mann verneigte sich und trat zur Thür zurück.

„Ihr habt bis jetzt die Herren im Hause gespielt,“ fuhr sie fort – „jetzt bin ich die Herrin! Von diesem Augenblicke an habt Ihr nur zu gehorchen.“

„Gehorchen?“ fragte Marianne mit einem schmerzlichen Lächeln.

„Sie verkennen Ihre Stellung, mein Fräulein. Giebt Ihnen auch die Geburt das Recht, über das Vermögen Ihres Onkels nach Willkür zu verfügen; auf den Dienst derer, die ihn liebten, haben Sie keine Ansprüche. Ich bin nicht gekommen, um nach Ihren Befehlen zu fragen, sondern um unaufgefordert mein Amt niederzulegen.“

„O, wie schlau!“ rief sie spöttisch. „Sie legen ein Amt nieder, von dem Sie wissen, daß man es Ihnen nicht lassen wird. Rechenschaft fordere ich nicht, denn man soll nicht sagen, daß ich geizig bin. Verstanden, Demoiselle? Rechenschaft fordere ich nicht!“ wiederholte sie betonend. „Fordern Sie vielmehr Ihren Lohn, ich bin bereit, mit Ihnen abzurechnen. Wenn ein Domestik abzieht, hat er das Recht, seinen Lohn zu fordern.“

Bei dieser tiefen Demüthigung erwachte Marianne’s Stolz.

„Ja,“ antwortete sie mit fester Stimme, „ich war die Magd meines Wohlthäters, ich diente ihm aus Liebe, und jeder seiner Wünsche war erfüllt, noch ehe er ihn aussprach. Als Lohn dafür empfing ich seine Vaterliebe, denn er hielt mich wie seine Tochter. Jetzt, mein Fräulein, ist dieser Dienst zu Ende, ein Dienst, den Sie eigentlich hätten verrichten sollen, wenn Sie die Fähigkeiten dazu gehabt hätten. Doch, warum rechte ich mit Ihnen, die sie mich nicht verstehen wollen?“

„Machen Sie es kurz!“ rief Franziska, indem sie ungeduldig mit dem Fuße auf die Erde stampfte. „Was fordern Sie von mir?“

„Nichts, als daß Sie mich ungekränkt ziehen lassen.“

„Gut, noch eine Nacht dulde ich Sie unter meinem Dache!“

„Dulden, noch eine Nacht?“ wiederholte Marianne schmerzlich.

„Morgen findet sich wohl Jemand, der Sie in seine Dienste nimmt!“ rief Franziska mit einem höhnischen Lachen und indem sie sich verachtend abwandte. „Gehen Sie nur in die Residenz, dort finden Sie Freunde!“

Marianne begriff den Sinn dieser Worte nicht, da sie Franziska’s Eifersucht nicht kannte. Sie warf noch einen schmerzlichen Blick nach dem Portrait des Obersten, das in dem Saale hing, dann ging sie festen Schritts der Thüre zu.

„Bettelstolz!“ rief Franziska ihr nach, deren Aufregung keine Grenzen kannte.

Auf der beleuchteten Hausflur verließ die arme Marianne die Kraft – sie sank, einer Ohnmacht nahe, auf einen Stuhl.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Hausflur und Philipp trat ein. Als er das bleiche, regungslose Mädchen erblickte, stürzte er mit dem Ausrufe auf sie zu:

„Mein Gott, Marianne, was ist geschehen?“

Und stürmisch ergriff er ihre beiden Hände. Sie schlug die thränenschweren Augen auf.

„Philipp!“ flüsterte sie erschreckt. „Was willst Du? Was willst Du?“

„Draußen erzählt man sich, daß Franziska angekommen ist – sie hat Dich gekränkt, beleidigt –“

„Nein, nein!“ antwortete sie, indem sie schmerzlich das schöne [509] Haupt schüttelte; „sie kann mich nicht beleidigen. Aber führe mich weg von hier, Philipp – begleite mich zur Stadt!“

„Zur Stadt? Denkst Du denn nicht an uns?“ fragte er weinend. „Laß die kalten Menschen und folge mir in unser Haus, wo Du mit offenen Armen empfangen wirst. Marianne, um Gotteswillen zögere keinen Augenblick!“

„Du hast Recht! Du hast Recht!“ rief sie nach einer Pause, in der sie über die erlittene Schmach nachgedacht hatte. „Meine Feindin soll den Triumph nicht haben, mich auch nur einen Augenblick in Verlegenheit zu sehen. Ich darf diese Nacht nicht mehr unter ihrem Dache zubringen. Begleite mich, Philipp, Deinem Schutze will ich mich anvertranen!“

„Und sei gewiß, daß er Dir kräftig zu Theil werden soll!“ rief der junge Mann mit Stolz und Muth.

Er faßte Marianne bei der Hand und führte sie auf ihr Zimmer.

Eine Viertelstunde war verflossen, als Franziska mit dem Gerichtshalter aus dem Saale trat. Der alte Gottfried leuchtete voran. In demselben Augenblicke kamen Marianne und Philipp die Treppe herab. Sie trug ein kleines weißes Bündel in der Hand; er war mit einer Reisetasche und einigen Kartons bepackt. Marianne zog rasch ihren grünen Schleier über das Gesicht, als sie die neue Herrin von Adersheim erblickte, und verließ das Haus.

„Wer war der Bauer?“ fragte Franziska den Gerichtshalter.

„Philipp Eckhard!“ war die demüthig ertheilte Antwort. „Ich behalte mir vor, dem gnädigen Fräulein noch nähere Auskunft über das Besitzthum dieses Mannes zu geben, das unmittelbar an Ihre Güter grenzt. Es ist meine Pflicht,“ fügte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln hinzu, „dafür zu sorgen, daß meiner Herrin alles zufalle, was ihr von Rechtswegen gebührt.“

„Für heute genug!“ sagte die junge Dame verdrießlich. „Morgenfrüh erwarte ich Sie auf meinem Zimmer.“

Philipp und Marianne standen bald an dem Thore der Meierei. Der alte Eckhard öffnete. Erstaunt betrachtete er die Begleiterin seines Sohnes, die er in der Dunkelheit des Abends nicht sofort erkannte.

„Hier bringe ich sie,“ sagte Philipp, als sich die Hofpforte geschlossen hatte. „Reiche ihr doch die Hand, Vater – erkennst Du sie denn nicht? Es ist ja unsere Marianne. Sie wohnt nicht mehr auf dem Schlosse, sie wird nun bei uns bleiben.“

„Wollt Ihr mich aufnehmen, nur für kurze Zeit, Vater Eckhard?“ fragte sie schluchzend. „Man hat mich aus dem Schlosse vertrieben.“

„Marianne!“ rief der greise Landmann. „Du bist ja so gut wie mein Kind – willkommen, willkommen!“

Er nahm ihr das Bündel ab und führte sie bei der Hand in das Stübchen, wo Mutter Eckhard, die am Fenster gelauscht hatte, sie mit einem lauten Freudenschrei empfing.

„Aber hier können wir nicht bleiben – komm in das gute Zimmer, mein Kind!“ rief sie, indem sie eilig die Lampe ergriff. „Du lieber Gott, wer hätte denn das denken können!“

Philipp war längst in dem guten Zimmer. Als die alten Leute mit Mariannen, die trotz ihres Protestirens folgen mußte, eintraten, hatte er sein Gepäck bereits abgelegt. Er zündete den Rest einer Wachskerze an, die vorige Weihnachten gebrannt hatte, und räumte einige Bücher vom Tisch, damit der Gast seine Studien nicht gewahren sollte.

„Du bleibst nun bei uns?“ fragte das Mütterchen, indem es dem jungen Mädchen Hut und Mantel abnahm.

Marianne warf sich ihr gerührt an die Brust.

„Ihr waret die Freundin meiner guten Mutter, Ihr kennt mich und alle meine Verhältnisse – behaltet mich bei Euch, bis ich ein anderes Unterkommen gefunden habe.“

„Verliere kein Wort weiter über diese Sache,“ sagte ernst Philipp’s Vater. „Du würdest mich gekränkt haben, wenn Du an meiner Thür vorübergegangen wärst. Bei Leuten, die es gut meinen, klopft man zuerst an. Und außerdem bist Du uns keine Fremde –“

„Ein Glück, daß ich zufällig in das Schloß kam!“ rief Philipp. „Sie wollte diesen Abend noch zur Stadt gehen.“

„Hast Du denn kein Vertrauen zu uns?“ fragte grollend das Mütterchen.

Vater Eckhard wiegte den Kopf und murmelte still vor sich hin:

„Sie denkt ganz richtig, und darum ist sie mir noch einmal so lieb und werth. Willkommen, Marianne,“ sagte er laut in einem treuherzigen Tone. „Ich begrüße Dich als meine Tochter, als Philipp’s Schwester. Mit Gottes Hülfe werde ich für Deine Zukunft sorgen so viel als in meinen Kräften steht, und wenn es Dir recht ist.“

Marianne erzählte nun, was sich in dem Schlosse zugetragen hatte. Alle kannten zwar den Charakter des stolzen Fräuleins von Adersheim, aber keiner wußte sich den Grund ihrer heftigen Erbitterung gegen Marianne zu erklären. Philipp glaubte ihn zu kennen.

„Sie ist tausendmal schöner, als die adelige Dame!“ dachte er. „Sie will nicht, daß die arme Waise mehr geachtet and geliebt werde, als sie selbst.“

Es war spät, als der Hausvater ermahnte, zur Ruhe zu gehen. Marianne mußte in dem Zimmer bleiben und in dem Bette schlafen, das in der angrenzenden Kammer stand. Am nächsten Morgen war Philipp zuerst wach im Hause. Als die übrigen Bewohner erschienen, hatte er bereits die erste Arbeit des Tages vollbracht und die Kleider angelegt, die er beim Ausgehen zu tragen pflegte. Vater Eckhard schüttelte den Kopf, als er seinen Sohn so erblickte.

„Das thut nicht gut!“ murmelte er vor sich hin. „Ich habe längst meinen Argwohn gehabt – jetzt bestätigt er sich. Der arme Junge liebt das Mädchen und darum giebt er sich so viel Mühe, den Bauer abzulegen. Er sitzt Tag und Nacht bei den Büchern, um ihr an Bildung so viel wie möglich gleich zu kommen. Das kann eine unglückselige Geschichte werden.“

Er ging in die Milchkammer, wo seine alte Gattin beschäftigt war, für Marianne die beste Sahne zum Kaffee abzuschöpfen. Nachdem er die Thür hinter sich geschlossen hatte, fragte die Bäuerin mit einem seligen Lächeln: „Hast Du sie schon gesehen, Eckhard?“

„Wen?“

„Nun, unsere Marianne. Sie schläft wohl noch? Ach, sie ist doch ein prächtiges Mädchen. Hast Du bemerkt, wie sie unsern Philipp immer ansah?“

„O ja, Mutter, ich habe auch bemerkt, mit welchen Blicken Philipp sie ansah.“

„Ich weiß es längst, daß er sie gern hat!“

„Eben deshalb kann Marianne nicht lange in unserm Hause bleiben.“

Der guten Frau entsank der Holzlöffel, sie sah ihren Mann mit großen, erstaunten Augen an.

„Eckhard, Du willst Mariannen nicht dulden?“ fragte sie endlich. „Bedenke, wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir die schönen Ackerstücke nicht erhalten, die unsern Wohlstand begründet haben.“

„Das weiß ich Alles, Frau, und werde es auch nie vergessen. Wir sind dem guten Mädchen Dank schuldig, und den werde ich dadurch beweisen, daß ich sie von Philipp trenne. Wenn Du nicht mit Blindheit geschlagen bist, so mußt Du sehen, daß die feine Dame, wozu sie der selige Herr Oberst erzogen hat, einen Bauer nicht heirathen kann. Hut, Schleier und seidene Kleider und Mantel passen nicht zu Kuh und Pferdeställen. Marianne ist ein kluges Mädchen, sie wird längst Philipp’s Neigung bemerkt haben und darum wollte sie auch lieber nach der Stadt als in unser Haus. Sie bewegen wollen, hier zu bleiben, würde sie für nichts anderes halten, als für die Absicht, ihr unsern Sohn aufzudrängen. Ich bin ein Feind von allen Kuppeleien und darum werde ich offen und ehrlich zu Werke gehen. Bis jetzt hängt Philipp noch in alter Jugendfreundschaft an dem Mädchen – wir müssen sehr auf unserer Hut sein, wenn sie ihm nicht ganz den Kopf verdrehen soll. Sieh’ nur, wie verändert er seit gestern Abend ist. Also, Mutter, wenn Du Dein Kind lieb hast, so vereitle meinen Plan nicht durch voreiliges Geschwätz. Ich weiß, Du meinst es gut; aber diesmal mußt Du mir folgen, der ich weiter sehe, als Du. Sei freundlich gegen Marianne und pflege sie – aber sei vorsichtig in Deinen Reden, das wollte ich Dir sagen.“

Vater Eckhard verließ die Milchkammer und ging seinen Geschäften nach.

„Ist das ein Mann!“ flüsterte das Mütterchen vor sich hin. „Was er alles in der guten Marianne sieht, es ist erstaunlich! Wenn sie käme and sich unserm Philipp gleich an den Hals würfe, [510] so wäre es ihm recht. Das kann Niemand von einem jungen Mädchen verlangen. Eine Heirathsgeschichte muß immer erst zurecht gemacht werden, und das versteht keiner besser, als wir Frauen. Ehe etwas geschieht, müssen wir einmal die Fühlhörner ein wenig ausstrecken.“

Sie trug das Frühstück in das Zimmer. Marianne hatte bereits ihre Toilette vollendet und einen Brief, den sie in dem Augenblicke schloß, als die alte Bäuerin eintrat. Mit einem unbeschreiblichen Wohlgefallen betrachtete das Mütterchen das junge Mädchen, das ihr schmerzlich lächelnd entgegentrat und die Hand reichte.

„Gefällt Dir dieses Zimmer, das unser Philipp eingerichtet hat?“ fragte sie. „Es ist freilich nicht so großartig wie die Zimmer des Schlosses – –“

„Aber freundlich und bequem,“ ergänzte Marianne; „es läßt nichts zu wünschen übrig.“

„O, das freut mich von Herzen! Ich hatte schon Sorge, daß Dir irgend etwas fehlen würde –“

„Mein gutes Mütterchen, wie bedauere ich, daß ich Euch so viel Sorgen bereiten muß! Gestatten Sie mir nur einige Tage, und ich ziehe wieder ab, um ferner die gewohnte Ruhe Eures Hauses nicht zu stören.“

„Was das nun wieder ist!“ rief in einem fast ärgerlichen Tone[WS 1] Mutter Eckhard. „Wir sind Deine Freunde und Verwandte und deshalb dürfen wir nicht zugeben, daß Du unter fremde Menschen gehst. Das wäre mir eine schöne Geschichte! Was würden die Leute über Eckhard’s sagen, wenn sie hörten, die älternlose Marianne sei nach der Stadt oder sonst wohin gegangen, nachdem sie sich einige Tage bei ihnen aufgehalten? Entweder würden sie sagen, Marianne sei zu stolz, um bei den schlichten Bauersleuten zu wohnen, oder Eckhard’s wären undankbare Menschen, die der armen Waise ihre Thür verschlossen hätten. Das geht nicht, Du mußt bei uns bleiben. Hätte Dich der selige Herr Oberst in jener unglücklichen Zeit nicht auf das Schloß genommen, so wäre es unsere Pflicht gewesen, für Dich zu sorgen und Du wärst nicht erst gestern, sondern schon vor Jahren zu uns gekommen. Aber warum weinst Du, Marianne? Ich will Dich nicht kränken, ich will Dir nur beweisen, daß Du bei uns bleiben mußt und daß wir die Verpflichtung haben, für Dich wie für unser eigenes Kind zu sorgen.“

Marianne trocknete ihre Thränen; dann flüsterte sie mit einem Seufzer: „Ich weine über mein Schicksal, das mich abhält, Ihre gut gemeinten Vorschläge anzunehmen; aber halten Sie mich darum nicht für undankbar oder wohl gar für stolz – ach, wollte Gott, ich könnte für immer in diesem friedlichen Hause und unter seinen guten Bewohnern bleiben!“

„Aber was hält Dich davon ab?“ fragte die alte Bäuerin verwundert. „Es kommt ja nur auf Deinen Entschluß an.“

In diesem Augenblicke trat Vater Eckhard ein. Ein Blick auf seine Frau genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß er sich in seinem Argwohn nicht getäuscht hatte. Ein zweiter Blick auf die befangene und dennoch erregte Marianne, gab ihm völlige Gewißheit.

„Sie hat entweder schon geschwatzt, oder sie will schwatzen!“ dachte er, seinen aufkeimenden Groll gewaltsam unterdrückend.

„Grüß Dich Gott, Marianne!“ rief er laut und herzlich aus, indem er seine pelzverbrämte Sammetmütze auf einen Stuhl warf. „Ich würde mich früher schon erkundigt haben, wie Du nach dem gestrigen stürmischen Tage geschlafen hast, wenn ich nicht gefürchtet hätte –“

„Jetzt trinke Deinen Kaffee, mein Kind!“ unterbrach ihn Mutter Eckhard, die seine Absicht errieth und fürchtete, er würde jetzt schon sich offen gegen das Mädchen aussprechen. „Die Sahne ist so lecker, wie Du sie kaum auf dem Schlosse gehabt haben wirst,“ fügte sie redselig hinzu. „Unser Philipp hat erst im verflossenen Frühjahr ein Paar holsteinische Kühe angeschafft, die ihres Gleichen suchen.“

„Es ist gut, Mutter!“ sagte der ungeduldige Landmann, der den Brief auf dem Tische bemerkt hatte. „Nicht von gleichgültigen, sondern von wichtigen Dingen wollen wir reden. Marianne, jetzt sage mir ohne Hehl, worin ich Dir nützlich sein kann.“

Die alte Bäuerin warf einen Blick des Unmuths auf ihren Mann.

„Das dachte ich mir!“ flüsterte sie vor sich hin. „Er fällt wieder mit der Thüre in’s Haus, wie er es bei jeder Gelegenheit zu thun pflegt. Mit dem alten Rappelkopfe ist doch nichts anzufangen.“

„Ich habe eine Bitte an Sie zu richten, Vater Eckhard,“ sagte Marianne.

„So sprich sie aus, mein Kind, und ich erfülle sie.“

„Hier ist ein Brief – wie befördere ich ihn nach der Stadt?“

Vater Eckhard las die Adresse. Der Brief war an die Vorsteherin einer Erziehungsanstalt für junge Mädchen gerichtet, derselben, von der er wußte, daß Marianne dort ihre Bildung erhalten hatte. Er ahnte ihre Absicht.

„Ist der Brief von Wichtigkeit?“ fragte er.

„Ja.“

„Dann übernehme ich selbst die Besorgung. Diesen Mittag werde ich aus der Stadt zurückgekehrt sein.“ Er öffnete das Fenster und rief einem Knechte zu: „Jakob, sattele auf der Stelle den Fuchs, ich will zur Stadt reiten!“ – dann steckte er den Brief zu sich und verließ das Zimmer. Seine Frau folgte ihm, um die Reisekleider aus dem Schranke zu holen. Als sie vor ihm stand und ihm das Halstuch zurechtband, konnte sie sich nicht enthalten, ihrem Grolle Luft zu machen.

„Was wird das arme Mädchen von uns denken!“ sagte sie halblaut. „Anstatt sie zurückzuhalten, beeilen wir uns – –“

„Schweig, Mutter!“ sagte Eckhard ernst. „Gott im Himmel weiß, daß ich das Mädchen schätze und achte und daß ich bereit bin, Alles für sie zu thun – aber eben so wenig sie für unsern Philipp paßt, eben so wenig wird sie ihn zum Manne nehmen. Der arme Junge grämt sich ab, und wir haben uns die bittersten Vorwürfe zu machen, daß wir seine Neigung nicht im Keime erstickt haben.“

„Aber, Mann, bedenke, wenn wir Mariannen vor zwölf Jahren zu uns genommen hätten, wie es damals Deine Absicht war – –“

„Ach, dann ständen die Sachen anders! Dann wäre sie ein schlichtes Landmädchen geworden, wie es für unsern Philipp paßt, und ich hätte nichts dagegen einzuwenden. Sieh, Mutter, ich will es Dir nur bekennen, über diesen Punkt habe ich oft mit dem seligen Oberst gesprochen, der unsern Philipp eben so gern hatte wie Mariannen. Eckhard, sagte er noch kurz vor seinem Tode, als ich zufällig mit ihm auf der großen Wiese zusammentraf, die unser Philipp durch künstlich angelegte Röhren bewässert, daß sie wie ein Garten aussieht – Eckhard, sagte er, nehmt mir Euern Jungen in Acht, das ist ein Prachtkerl! – Wie meinen Sie das, Herr Oberst? fragte ich, obgleich ich längst wußte, wo er hinaus wollte. – Seht, Freund, fuhr er in seiner herablassenden Weise fort, ich hatte die Absicht, meine Marianne mit Philipp einmal zu verheirathen – –“

„Na, da hast Du es ja!“ rief eifrig das Mütterchen.

„Sapperment, laß mich ausreden!“ rief Eckhard mit dem Fuße stampfend.

Aber das erfreute Mütterchen hielt die Spitzen des schwarzseidenen Halstuchs fest, daß dem erregten Eckhard fast die Kehle zusammengeschnürt ward und dabei rief sie: „Das lasse ich mir nicht nehmen, der Herr Oberst war ein guter und ein kluger Mann, der recht gut wußte, was den Kindern frommt.“

„Ja, das wußte er!“ rief Eckhard mit seiner kräftigen Baßstimme. „Und deshalb sagte er auch, die Marianne ist ein so vornehmes und kluges Frauenzimmer geworden, daß sie einen Edelmann heirathen muß, wenn sie glücklich sein soll. Das wollte ich eigentlich nicht, aber es ist nun einmal so, und ich werde Mühe haben, einen passenden Mann für sie zu finden.“

„Das begreife ein Anderer!“ flüsterte erstaunt die Mutter Philipp’s. „Was Ihr aus dem Mädchen macht! Nun soll es selbst kaum einen Edelmann geben, der für sie gut genug ist. Mir scheint, der Herr Oberst war in das Mädchen vernarrt –“

„Mag sein, er war aber auch sehr verständig dabei. Es giebt genug Männer, sagte er, die sich zu benehmen wissen und eine große Rolle spielen, Männer, die jedes andere gebildete Mädchen glücklich machen würden; aber Marianne weiß mehr wie fast alle Männer, die man zu den reichen und gebildeten zählt, und außerdem will sie verstanden sein. Marianne macht entweder einen Mann sehr glücklich oder sehr unglücklich, sagte er; sie kommt [511] mir vor wie ein Edelstein, der nur für den Kenner Werth hat. Denkt daran, Eckhard, und sorgt dafür, daß sich Philipp nicht in die schöne Larve verliebt. Marianne achtet ihn wie einen theuern Bruder, aber heirathen kann sie ihn nie. Wollte man sie dazu zwingen, so würde man eine Grausamkeit gegen Beide begehen. So, Mutter, sprachen wir noch lange, und als ich nach Hause kam und unsern Sohn mit den Pferden in den Stall ziehen sah, gesund und fröhlich, da fühlte ich, daß der Oberst Recht hatte und daß ich Alles aufbieten müßte, um den Seelenfrieden des wackern Jungen zu erhalten.“

Vater Eckhard zog nun seinen blauen Sonntagsrock an, nahm den Hut von einem Nagel an der Wand, ergriff einen Kantschu, der an demselben Nagel hing, und ging in ernster Stimmung aus dem Zimmer, ohne von seiner alten Lebensgefährtin Abschied zu nehmen. Das Mütterchen stand nachdenkend am Fenster und sah durch die hellen Scheiben in den Hof hinaus, wo Marianne’s Bote zu Pferde stieg. Gleich darauf kündigten Hufschläge an, daß er durch das Thor in das Freie ritt. Das Mütterchen verließ kopfschüttelnd das Zimmer, sie konnte das Alles nicht begreifen, was sie so eben gehört hatte. Nach ihrer Ansicht mußten sich nothwendig zwei junge Leute heirathen, die sich so lange einander gut gewesen waren.

Noch denselben Morgen kam ein Bote von dem Schlosse und brachte sämmtliche Sachen, die Marianne in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte. Am Mittag kehrte Vater Eckhard zurück.


VI.

Franziska sah sich am Ziele ihrer Wünsche, sie war die Herrin der reichsten Besitzung in der Provinz. Nachdem sie dem Gerichtshalter, der ihr volles Vertrauen besaß, die Leitung auch der außergerichtlichen Angelegenheiten übertragen, ging sie nach der Residenz zurück, um dort den Winter zu verleben. Der Triumph über Marianne, die man stets als die Pflegetochter des Barons von Adersheim mit ihr zusammengestellt hatte, erfüllte sie mit einer Art verzweiflungsvoller Freude, denn es gab immer noch eine Stimme in ihrem Innern, die ihr sagte, daß sie gegen das junge Mädchen zu weit gegangen sei. Um sich zu beruhigen, fragte sie sich:

„Was würde sie, die unbestreitbar meine ärgste Feindin ist, gegen mich unternommen haben, wenn sie die Siegerin gewesen wäre? Während ich der allgemeinen Lächerlichkeit anheimgefallen wäre und mit Noth und Entbehrung gekämpft hätte, würde sie, die reiche Erbin, die Bewerbungen Walther’s angenommen haben, der, weil er arm ist, nach Vermögen heirathen muß. Ich mußte sie ganz vernichten, um ganz mein Ziel zu erreichen. Aber was beginne ich, wenn er sich mir wieder nähert?“

Diese Frage wagte sie nicht sich zu beantworten. Der Stolz forderte sie auf, den treulosen Mann zu verschmähen, aber die heftigste Leidenschaft trieb sie an, auch die leiseste seiner Annäherungen zu einem neuen Anknüpfungspunkte zu benutzen. Ihr Kopf lag mit dem Herzen in einem Streite, der ihr selbst unter den eingetretenen glücklichen Verhältnissen das Leben zu einer Pein machte. Der Gedanke, wie glücklich sie jetzt sein könne, wenn Walther sich nicht von ihr abgewendet hätte, erfüllte sie mit einem unbeschreiblichen Grolle. Sie besaß alles, was das Leben freudenvoll machen konnte, aber das Herz, das leidenschaftlich liebte, fand keine Befriedigung. Die ganze Schwere ihres Hasses fiel auf die arme Marianne, und es gab Augenblicke, in denen sie mehr vor Zorn als vor Kummer weinte. Die Eifersucht trug das Ihrige dazu bei, den peinlichen Zustand der armen reichen Dame zu erhöhen. Daß Walther seit der für sie glücklichen Wendung der Dinge noch nicht wieder erschienen war, hielt sie für einen Beweis seiner aufrichtigen Liebe zu der Tochter des Bauers. Ihr zärtliches Verhältniß zu dem schönen jungen Manne war kein Geheimniß gewesen, auch wußte sie, daß Walther’s Aufmerksamkeiten sie nicht selten zum Gegenstande des Neides gemacht hatten – welch ein Triumph mußte es nun der Welt sein, wenn sie selbst als die Besitzerin eines großen Vermögens verschmäht würde.

Ihre erste Sorge in der Residenz war die, über Walther’s Leben Erkundigungen einzuziehen. Hierzu bedurfte sie einer vertrauten Person. Wen konnte sie dazu wählen? Nach einer schlaflos verbrachten Nacht, in der Stolz und Liebe einen heftigen Kampf gekämpft, hatte sie die Ansicht gewonnen, daß sie sich einer von ihr völlig abhängigen Person anvertrauen müsse. Sie erinnerte sich der Freude und Anhänglichkeit des alten Kammerdieners, die er bei ihrem Erscheinen auf Adersheim so unverhohlen geäußert – und die Wahl fiel auf ihn. Gottfried war mit ihr zur Stadt gekommen, um bei der Einrichtung des neuen Hauswesens behülflich zu sein. Sie ließ ihn rufen. Als der Greis in das prachtvolle Boudoir trat, streckte sie ihm, mit großer Herablassung lächelnd, die kleine weiße Hand entgegen.

„Gottfried,“ begann sie, „Ihr werdet in der Stadt bleiben müssen.“

Der Alte sah sie verwundert an. Die ungewöhnliche Freundlichkeit sowohl als dieser unerwartete Befehl fielen ihm auf.

„Sollte ich draußen zu entbehren sein?“ fragte er.

„Wenn auch das nicht, mein alter Freund,“ gab sie mild zur Antwort, „so ist es mir dennoch angenehm, wenn Ihr in meiner Nähe seid. Ich weiß nicht, woher es kommt – aber die Erinnerung an meine Jugend erwacht so heftig, daß ich den Wunsch nicht unterdrücken kann, alte befreundete Personen stets um mich zu sehen. Mit dem Antritte meines Besitzes finden sich auch so manche Sorgen ein, die ich gern mit bewährten Freunden theile. Und nicht wahr, ich darf Euch dazu rechnen?“

„O gewiß, mein gnädiges Fräulein,“ rief bewegt der Greis, „das können Sie! Es giebt wohl keinen Menschen in der Welt, der mehr an Ihrer Familie hängt, als ich. Bin ich doch unter den Augen der Barone von Adersheim grau geworden. Wäre ich nicht Ihr Diener, so möchte ich Ihr Vater sein.“

Der Greis küßte die Hand des jungen Mädchens.

„So bleibt Ihr also in der Stadt, Gottfried. Der Diener meines guten Onkels soll von jetzt an befehlen – Ich ernenne Euch zu meinem Intendanten. Ihr werdet die Aufsicht über Haus und Dienerschaft führen. Verlebt Euere alten Tage in Ruhe und Gemächlichkeit, denn ich betrachte Euch wie ein Vermächtniß, das man heilig halten muß.“

„Du lieber Gott, Was sollte ich fünfundsechzigjähriger Mann auch beginnen, wenn das liebe Fräulein sich meiner nicht annähme? Aber wahrlich, das habe ich erwartet,“ fügte er freudig bewegt hinzu, „denn schon das kleine Fränzchen, als ich es noch spielend auf meinen Armen trug, war ein lebhaftes, muthwilliges Kind und hat mich gar oft, wenn es bös wurde, dergestalt in dem Schnurrbarte gezwickt, daß mir die Thränen aus den Augen liefen – aber nie habe ich mich darüber beklagt, weil ich wußte, daß es schon in der nächsten Viertelstunde wiederkam, mir mit den kleinen zarten Händchen den Bart streichelte und mich den alten guten Gottfried nannte. Dann war Alles vergessen und wir waren wieder die besten Freunde.“

Franziska sah den Kammerdiener mit strengen Blicken an.

„Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte sie in einem völlig veränderten Tone.

Der alte Mann nahm seinen ganzen Muth zusammen, um zu antworten.

„Daß das gnädige Fräulein ein gutes, weiches Herz hat und daß es Niemandem lange böse sein kann, auch wenn etwas vorgefallen ist – –“

„Das man eigentlich nie wieder vergessen sollte!“ fügte sie rasch und in einem scharfen Tone hinzu. „Ich verstehe Euch, Alter! Ihr wollt einer Person das Wort reden, die mich tödtlich beleidigt hat. Ich soll vergessen, daß Marianne, Euer Lieblingskind, mir so lange die Gunst meines Onkels gestohlen und daß heute das Vermögen der Familie Adersheim sich in ihren Händen befände, wenn sie den Lauf der Dinge hätte bestimmen können. Jene Marianne ist eine Schlange, obgleich sie äußerlich einer sanften, unschuldigen Taube gleicht. Daß ich sie vergesse, ist Alles, was ich für sie thun kann – hört Ihr, Alter, Alles, aus Rücksicht für das Andenken des Verstorbenen, der an ihr mit väterlicher Liebe hing.“

„Gnädiges Fräulein, Sie haben das arme Mädchen in einem um so schlimmern Verdachte, als er völlig ungegründet ist. Entweder kennen Sie Mariannen nicht, oder man hat sie bei Ihnen schmählich verläumdet. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß ich Ihrem seligen Onkel mehr ein Freund, als ein Diener war – in dieser Stellung erfuhr ich so Manches und bei meinem grauen Haupte schwöre ich es, daß Marianne nie – –“

„Genug!“ rief Franziska, deren Wangen die Purpurröthe des Zorns überflammte. „Wenn Ihr nicht wollt,“ fuhr sie hinfort, [512] „daß ich Euch in dem Verdachte halte, Ihr hängt mehr an jener Person als an mir, so beregt nie wieder diesen Gegenstand.“

„O mein Gott!“ rief der Greis mit Thränen in den Augen, „ich habe Sie als Kind geliebt, und verehre Sie heute als meine gute Herrin. Die Zukunft wird es zeigen, daß ich Ihrer Güte und Ihres Vertrauens vollkommen würdig bin. Wenn ich mir erlaubte, Ihre theilnehmende Aufmerksamkeit auf Marianne zu lenken, so glaubte ich eine Pflicht zu erfüllen – Sie wollen es nicht, und ich werde gehorsam schweigen.“

„Eine Pflicht?“ fragte Franziska, indem sie ihren Gang durch das Zimmer unterbrach und mit stolzen Mienen vor dem greisen Diener stehen blieb. „Will man mich bevormunden? Wer hat Euch dergleichen Andeutungen zur Pflicht gemacht?“

„Meine Liebe zu Ihrer Familie, gnädiges Fräulein! Ich habe alle Wechselfälle derselben erlebt, denn Sie müssen wissen, daß ich schon Ihrem Herrn Großvater diente, und daß ich von ihm zu Ihrem Herrn Vater überging, der sich damals verheiratete und ein großes Haus in der Residenz machte, während Ihr Onkel, der älteste Adersheim, seine Carrière in der Armee verfolgte. Das Rittergut da draußen war verpachtet. Sie wollen wissen, warum ich Pflichten gegen Sie zu erfüllen habe? Ich will es Ihnen sagen, damit Sie mich nicht für einen Menschen halten, der anmaßend die Grenzen seines Wirkungskreises überschreitet. Es sind nun zwölf Jahre, gnädiges Fraulein, daß ich auch einmal vor Ihrem Vater stand, wie ich heute vor Ihnen stehe. Ihre Mutter ward von Gram und Sorgen darnieder gedrückt, und mehr als einmal hatte sie mir ihr Herz ausgeschüttet. Da nahm ich mir das Recht des alten, treuen Dieners, und warnte meinen Herrn vor gewissen Leuten, die nicht seine Freunde, sondern seine Blutsauger waren. Er aber ward zornig, nannte mich einen frechen Menschen und jagte mich, zum Leidwesen seiner guten Gattin, aus dem Hause. Der Herr Oberst, sein Bruder, hatte damals das Schloß bezogen, und nahm mich in sein Haus. Mit Bedauern hörte ich, wie die Sachen in der Stadt sich immermehr verschlimmerten, und daß endlich Ihre gute Mutter starb. Gleich nach ihrem Tode sandte mich mein Herr in Geschäften nach der Residenz. Da begegnete mir Ihr Vater auf der Straße. Als er mich erblickte, kam er auf mich zu und reichte mir, zu meinem Erstaunen, die Hand. Gottfried, sagte er, indem er auf den Flor an seinem Hute deutete, ich habe einen schweren Verlust erlitten. Du hast sie gekannt – sie ist todt! Vielleicht lebte sie noch, wenn ich auf Deine Worte gehört hätte. Vergieb mir – ich bin schwer gestraft! Indem er sich die Augen trocknete, ging er weiter. Als ich mich einigermaßen von meinem Erstaunen erholt hatte, war er verschwunden. Sehen Sie, mein liebes Fräulein, wenn ich daran denke, so glaube ich die Pflicht zu haben, meine Herrschaft vor Schritten zu warnen, die sie später bereuen könnte.“

Franziska bekämpfte ihre Bewegung; sie konnte dem Diener ihre Achtung nicht versagen, der sich dennoch auf den Standpunkt eines Rathers erhob, obgleich er für eine ähnliche Hingebung bereits einmal gebüßt hatte. Sie fühlte, daß sie sich diesem Manne anvertrauen konnte. Schon stand sie im Begriffe, ihm den Hauptbeweggrund ihrer Abneigung gegen Marianne mitzutheilen, als eine Magd eintrat.

„Herr Walther von Linden!“

Ein jäher Blitz aus heitrer Luft hätte keine größere Wirkung hervorbringen können, als die Nennung dieses Namens. Sie erbleichte und erröthete in einem Augenblicke. Walther hatte durch seine Ankunft ihrem Stolze und ihrem Herzen genügt.

„Ich ziehe mich zurück,“ sagte der alte Kammerdiener, der die plötzliche Veränderung seiner Herrin mit Erstaunen bemerkte.

„Gottfried,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „führt den Herrn von Linden in den Empfangssaal und bittet ihn, mich zu erwarten.“

Der Greis entfernte sich, um den Befehl auszuführen. Franziska setzte eine Glocke in Bewegung. Die Kammerfrau erschien.

[521] „Susanne, mir scheint, daß mein Kopfputz nicht ganz in Ordnung ist – die Locken sind zu nachlässig geformt.“

Sie warf sich in einen Sessel, und die erstaunte Kammerfrau, die an dem Haarputze durchaus keine Unordnung sah, ließ noch einmal das glänzende, volle Haar durch ihre Finger gleiten. Dann mußte sie eine goldene Nadel darin befestigen. Franziska erhob sich und warf einen Blick in den Spiegel.

„Wie steht mir dieses dunkle Kleid, Susanne?“ fragte sie.

„Es ist zwar einfach, gnädiges Fräulein, aber eben deshalb steht es Ihnen vortrefflich.“

„Gut, so gieb mir einen leichten Shawl.“

Franziska war reizend. Die von der innern Aufregung erzeugte Röthe der Wangen hob die Schönheit ihres Gesichts. Das große blaue Auge schwamm in einem matten Glanze. Der leichte Shawl von dunkelblauer Seide lag nachlässig auf den vollen, runden Schultern, ohne die feine, elastische Taille zu verdecken. Den zarten Fuß schlossen schwarze Atlasstiefelchen mit kleinen Absätzen ein, so daß ihre leichten Schritte fest und keck erklangen. Indem sie den kostbaren Fächer ergriff und den letzten Blick in den Spiegel warf, fragte sie sich unwillkürlich: „Ob er wohl wirklich jener Marianne den Vorzug geben kann? Ob ihn mein Vermögen oder meine Person anzieht?“

Sie erschrak selbst vor dem Eindrucke, den Walther’s Kommen auf ihr ganzen Wesen ausgeübt hatte; aber zu stolz, den wahren Grund ihrer großen Erregtheit anzuerkennen, beschloß sie, um jeden Preis Gleichgültigkeit zu zeigen, um die erlittene Zurücksetzung zu rächen. Wie andre lebende Wesen, so trägt auch die Liebe den Instinkt der Erhaltung in sich selbst. Nicht aus Eitelkeit wünschte Franziska jetzt, daß ihre Toilette nach dem Geschmacke Walther’s sei, sondern um ihn völlig zu besiegen und für immer an sich zu fesseln. Sie fühlte, daß der entscheidendste Augenblick für ihr Leben bevorstand. Sie entließ die Kammerfrau und öffnete sich selbst die Thür des Boudoirs.


VII.

Walther, einfach, aber höchst elegant gekleidet, ging in dem Saale auf und ab, als Franziska eintrat. Nachdem er sich verbeugt, trat er zu ihr und drückte ceremoniell einen Kuß auf ihre Hand. Franziska hatte einen andern Empfang erwartet; aber obgleich Walther nur kalte Artigkeit zeigte, so glaubte sie dennoch ein leises Zittern seiner Hand bemerkt zu haben. Diese Wahrnahme stellte sogleich ihr Betragen fest, und sie setzte voraus, daß Walther zu viel auf ihre Liebe zu ihm bauete, als sich ohne Weiteres reuig zu ihren Füßen niederzuwerfen, und um Verzeihung zu flehen. Mit stolzer Eleganz deutete sie auf einen Sessel, nachdem sie selbst sich niedergelassen. Schweigend erwartete sie von Walther die Einleitung des Gesprächs. Es ist dies eine weibliche Schlauheit, die auch den einfachsten Frauen eigen zu sein pflegt, wenn es sich um die Ergründung eines Herzensgeheimnisses handelt. Und wer hat nicht überhaupt die scheinbare Fassung der Frauen in dem Augenblicke bewundert, wo sie für die geheimen Schätze ihrer Liebe zittern? Wer hat nicht schon Gelegenheit gehabt, ihre Leichtigkeit, ihre Ruhe und Geistesfreiheit in den größten Verlegenheiten des Lebens zu beobachten? Franziska war in diesem Augenblicke stark genug, ihre Leidenschaftlichkeit zu bekämpfen und mit ruhigem Scharfsinne die Logik bei der kritischen Frage anzuwenden, die stets ein Herzensgeheimniß des Mannes eröffnet, der schwach genug ist, ein Weib seiner Ausforschung unterwerfen zu wollen. Und in dieser Absicht war Walther wirklich gekommen, nicht ahnend, daß er sich auf ein gefährliches Unternehmen eingelassen hatte. Sein zärtliches Verhältniß zu Franziska war bisher der Art gewesen, daß er kaum Ansprüche, viel weniger denn Rechte daraus herleiten konnte. Daß er sich von dem armen Fräulein geliebt wußte, war seine ganze Erkenntniß, und ob sich diese Liebe geändert oder nicht, war sein Forschen, von dessen günstigem Resultate die Realisirung eines Planes abhing.

„Ehe ich Ihnen den eigentlichen Zweck meines Besuchs mittheile,“ begann er, „erlauben Sie mir, der Herrin von Adersheim meinen Glückwunsch abzustatten.“

Franziska neigte mit stolzer Nachlässigkeit das lockenumwallte Haupt. Mit einem feinen ironischen Lächeln, wobei sich der ganze Schmelz ihrer Perlenzähne zeigte, antwortete sie: „Die Herrin von Adersheim nimmt diesen Glückwunsch an, mein Herr, obgleich er etwas spät kommt, denn die unvermuthete Erbschaftsgeschichte ist schon so alt, daß man nicht mehr darüber spricht. Und gönnen Sie mir wirklich ein Glück, das ich vielleicht in den Augen gewisser Leute kaum verdiene, so empfangen Sie meinen Dank.“

„Unter Bedingungen soll ich Ihren Dank empfangen!“ sagte Walther ruhig. „Dies läßt mich annehmen, daß Sie in meine Aufrichtigkeit Zweifel setzen. In diesem Falle beklage ich Ihre Unkenntniß mit meinem Charakter, der in jenen Zeiten, wo ein bloßes Zusammensein uns glücklich machte, nicht selten offen und klar vor Ihnen gelegen hat. Außerdem müssen Sie in dem Umstande, daß ich spät komme, meine Uneigennützigkeit erblicken.“

„Das klingt paradox, Herr von Linden.“

„Wie?“

[522] „Die arme Franziska verließen Sie gegen Sitte und Anstand, im freien Felde; sie hoffte vergebens, daß ihr Kavalier sie wieder aufsuchen würde – heute bin ich die Herrin von Adersheim!“ fügte sie mit einer schlecht verhehlten Impertinenz hinzu.

„Daran zweifelt man nicht mehr,“ sagte Walther, ohne seine Ruhe zu verlieren. „Mein Besuch gilt nicht der reichen Dame, sondern derselben Franziska, die sich nicht ohne Grund über ein Versehen beklagt, das wir Beide begangen haben. Auf diesen Punkt werde ich später zurückkommen, und mich zu rechtfertigen suchen. Können Sie annehmen, Franziska, daß dieser kleine Streit zwischen uns nicht stattgefunden hat?“ fragte der junge Mann in einem Tone, der fast innig klang.

Ein Wonneschauer durchbebte Franziska.

„Er kehrt zurück!“ dachte sie. „Ich will die Sehne des Bogens nicht zu sehr anspannen. Sie wünschen es,“ sagte sie laut, und indem sie ihren Fächer mit einer unbeschreiblichen Grazie in Bewegung setzte – „was haben Sie der armen Franziska zu sagen?“

Aus Walther’s Augen blitzte ein Freudenstrahl, welcher der beobachtenden Franziska nicht entging. Hätte sie der ihr eigene Takt nicht abgehalten, sie würde der ersten Regung des Herzens gefolgt sein und ihm die Hand zur Versöhnung geboten haben. Mit großer Mühe erhielt sie ihre Fassung aufrecht.

„Das durfte ich erwarten!“ rief Walther. „Sie sehen, ich kenne Sie besser, als Sie mich kennen. Und nun wende ich mich getrost mit der Bitte an Franziska, bei der Herrin von Adersheim eine Fürsprecherin sein zu wollen.“

„Was fordern Sie?“ fragte sie verwundert.

„Franziska, Sie haben eine Schwester – vergessen Sie die Tochter des Onkels nicht, der Sie mit Glücksgütern überschüttet hat. Sie erfüllen eine Pflicht der Dankbarkeit gegen den Verstorbenen - -“

„Mein Herr! Mein Herr!“ hauchte sie mit erstickter Stimme, und indem sie sich rasch erhob. „Sie, Sie wagen es, mich daran zu erinnern? Das ist viel – mehr als ich ertragen kann!“ fügte sie bebend hinzu.

Sie mußte sich an der Lehne des Sessels halten, denn der Boden schwankte unter ihren Füßen. Ihr Himmel war zerstört, ihre Hoffnungen waren vernichtet. Walther, der Mann, den sie leidenschaftlich liebte, verwendete sich bei ihr für das Mädchen, auf das sie allen Grund hatte, eifersüchtig zu sein. Und das mußte er nach dem Vorgefallenen ahnen. In seiner Forderung lag eine doppelte Demonstration: sie erklärte unumwunden seine Neigung, und folglich auch den Bruch mit der ersten Geliebten. Trotz der furchtbaren Erschütterung flüsterte ihr die Stimme der Eifersucht die niederschmetternden Worte zu: „seine Liebe muß wahr und uneigennützig sein, denn sie bleibt bei dem armen Mädchen.“ Franziska’s Zustand läßt sich nicht beschreiben. Alle Furien, die zur Qual einer Menschenbrust erschaffen sind, schwangen ihre brennenden Geißeln. Doch nur einige Augenblicke bebte sie unter den Qualen des Herzens, dann erwachte der Stolz mit überwiegender Gewalt, und der aufbrausende Kopf übertönte das Gemüth.

Walther hatte diese Wirkung seiner Worte nicht erwartet. Bestürzt stammelte er einige Worte der Beruhigung.

„Sie haben viel auf die arme Franziska gebaut,“ sagte sie mit einem bitter schmerzlichen Lächeln; „aber mehr noch auf das Ansehen, dessen Sie bei ihr zu genießen wähnen. Mein Herr, in beiden Punkten haben Sie sich arg getäuscht – die arme Franziska existirt für Sie nicht mehr, und die reiche Erbin besitzt Urtheil genug, um ohne Empfehlung Würdigen ihre Wohlthaten zufließen zu lassen. Was die Pflicht der Dankbarkeit gegen den Verstorbenen betrifft, so erlauben Sie mir, sie in meinem Sinne zu üben. Demoiselle Marianne wird sicher meine spendende Hand nicht vermissen, wenn sie sich des Schutzes ihres wärmsten Verehrers zu erfreuen hat.“

Sie sah auf den in gebeugter Stellung stehenden Baron herab; noch nie war er ihr so schön erschienen, als in diesem Augenblicke, wo sie ihn verloren hatte. Aber sie fühlte nicht ganz den Verlust, da die Heftigkeit des Charakters und der gereizte Stolz die Regungen des Herzens beherrschten. Sie schämte sich, ihre Reizbarkeit so wenig verborgen gehalten zu haben, und deshalb nahm sie, wenn auch mit fast übermenschlicher Anstrengung, zu jener kalten Eleganz ihre Zuflucht, in deren Schimmer sie herzlos erscheinen mußte.

„Franziska,“ rief Walther, „ich beklage Ihre unglückselige Verblendung! Sie sehen Dinge, die nur das Vorurtheil geboren hat. Wenn ich mich dieser Sendung unterzog, so geschah es in Ihrem Interesse.“

„Herr Baron, ersparen Sie sich jede Rechtfertigung, denn ich habe weder den Willen noch das Recht, sie zu fordern. Meine Entrüstung galt nur dem Manne, der sich einst öffentlich als Freund an meiner Seite zeigte. Ich will zugeben, daß ich einen Theil der Schuld trage, die das von der Welt so mannigfach gedeutete Verhältniß zerstörte; aber dessen durfte ich mich wohl versichert halten, daß der Baron von Linden die Delikatesse gegen eine Dame seines Ranges nicht verletzte. Wahrlich,“ fügte sie fast unwillkürlich hinzu, „es muß ein gewaltiges Motiv vorhanden sein, das Sie[WS 2] zu einer solchen Mission bewegen konnte.“

„Es ist vorhanden, Franziska, und ich nehme keinen Anstand, es Ihnen offen mitzutheilen. Die Pflegetochter Ihres Onkels –“

„Verzeihung,“ unterbrach sie ihn mit kalter Artigkeit, „Verzeihung, Herr Baron, ich bin nicht disponirt, die Verhandlungen über das angeregte Thema fortzusetzen. Die Sorge für die reizende Marianne überlasse ich Ihnen allein, Sie kommen dann nicht in die Verlegenheit, die ohne Zweifel grenzenlose Dankbarkeit der armen, liebenswürdigen Waise mit einer andern Person theilen zu müssen.“

Wie verletzt trat Walther einen Schritt zurück.

„Franziska,“ sagte er bewegt, „ich verlasse Sie mit schwerem Herzen. Ihnen gegenüber habe ich meine Pflicht erfüllt –“

„Dieses Zeugniß kann ich Ihnen geben!“ entgegnete sie mit einer tiefen, ceremoniellen Verneigung, wobei ihre Blicke fest auf dem jungen Manne hafteten.

In Walther’s Zügen malte sich eine tiefe Rührung. Mit dem Anstande eines Kavaliers grüßte er, und verließ den Saal.

Auf dem Korridor ging Gottfried langsam auf und nieder. Als der Greis den Baron erblickte, trat er ihm hastig entgegen.

„Nun, gnädiger Herr, was haben Sie bewirkt?“ fragte er leise.

„Nichts, mein alter Freund!“

„Das ist traurig!“ sagte seufzend der Kammerdiener.

„Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf.“

„Ach, wollte Gott, daß Sie sich nicht täuschten!“

„Wie Sie mir bei meinem Eintritte in den Saal sagten, sollen Sie in der Stadt bleiben?“

„Ja, gnädiger Herr.“

„Gut; so tragen Sie Sorge, daß Franziska bei diesem Entschlusse bleibt. Ihre Gegenwart ist hier sehr nothwendig. Sie kennen meine Wohnung?“

„Ja.“

„Diesen Nachmittag fünf Uhr erwarte ich Sie. Suchen Sie sich unter irgend einem Vorwande zu entfernen; aber Franziska darf das Ziel Ihres Ganges nicht ahnen.“

„Ich werde thun, was in meinen Kräften steht.“

Die beiden Männer trennten sich. Walther stieg in einen vor der Thür haltenden Fiaker – Gottfried trat in das Vorzimmer, um auf den Ruf seiner Herrin zu warten.

Nach Walther’s Entfernung war Franziska auf einen Sessel gesunken; sie ließ ihren lange verhaltenen Thränen freien Lauf. In den ersten Augenblicken des Schmerzes machte die Liebe ihre Rechte geltend, und sie weinte über den Verlust, den das Herz erlitten. Sie fühlte, daß ihr Walther Alles war. Regungslos zu Boden starrend, dachte sie über ihre Lage nach. Als der erste Schmerz an Heftigkeit verloren hatte, erwachte der Stolz, unterstützt von der Reizbarkeit, die einen Hauptzug ihres Charakters bildete. Rasch trocknete sie ihr glühendes Gesicht, denn sie schämte sich der vergossenen Thränen.

„Mein Gott, wer bin ich denn?“ flüsterte sie mit bebenden Lippen. „Ich bin Franziska von Adersheim, die Erbin eines großen Vermögens und eines alten Namens. Er verschmäht mich einer Bettlerin wegen, die sein Herz mit Mitleiden umstrickt hat – wahrlich, es wäre unter meinen Verhältnissen eine doppelte Schmach, wollte ich der Welt zeigen, daß mich eine solche Erbärmlichkeit nur berühren kann. Walther verdient nicht, daß ich ferner noch an ihn denke, er ist meiner Neigung nie würdig gewesen. Aber daß ich ihr, ihr unterliegen muß –?“

Sie ging in raschen Schritten durch den Saal. Dann zog sie eine Glocke. Gottfried trat ein.

„Alter, wo befindet sich jene Marianne –?“

[523] „Soviel ich weiß, befindet sie sich auf dem Meierhofe des alten Eckhard, ihres Verwandten,“ stammelte der Greis. „Wohin auch sollte sie sich anders wenden?“

„Meinen Wagen, ich will sogleich nach Adersheim fahren.

„Werde ich Sie begleiten?“

„Nein!“

Der Kammerdiener entfernte sich. Nach einer Viertelstunde bestieg Franziska einen glänzenden Wagen, der sie rasch nach Adersheim brachte. Eine Stunde später befand sie sich bei dem Gerichtshalter.


VIII.

Marianne befand sich noch immer in dem Hause des alten Eckhard. Statt eines Rückschreibens von der Vorsteherin des Pensionats war der junge Baron Walther von Linden gekommen und hatte eine lange Unterredung mit ihr gehabt. Der Eindruck, den dieser Besuch auf den armen Philipp ausübte, läßt sich nicht beschreiben. Der junge Landmann, der in reiner, uneigennütziger Liebe seiner Jugendgespielin zugethan war, zog den Schluß, sie stehe schon lange mit dem schönen, eleganten Baron in einem zärtlichen Verhältnisse, und aus diesem Grunde verharre sie auch darauf, ein Unterkommen in der Stadt zu suchen. Bis zum Tode niedergeschmettert, durchschlich er den ganzen Tag die Felder, denn er wollte aus Liebe zu Mariannen und seinen alten Aeltern den Zustand seines Herzens so geheim als möglich halten.

„Mag sie so glücklich werden, als sie es zu sein verdient,“ dachte er; „sie soll nie erfahren, was ich für sie empfinde, damit ihr Leben durch keine schmerzliche Erinnerung getrübt werde. Es ist ja ganz klar, sie kann mich nicht anders als den Bruder lieben.“

In der Abenddämmerung kam er nach Hause zurück. Langsam und leise schlich er unter dem erleuchteten Fenster des Zimmers vorüber, das Marianne bewohnte. Ein freudiger Schreck durchbebte seinen ganzer Körper, als er die Gestalt des jungen Mädchens durch die hellen Scheiben bemerkte; sie sprach freundlich mit seiner Mutter.

„Sie ist noch nicht abgereist!“ flüsterte er. „Vielleicht bleibt sie dennoch bei uns. Aber wie heiter sie ist?“ fügte er nach einigen Augenblicken traurig hinzu. „So habe ich sie nach dem Tode des Obersten noch nicht gesehen. Sollte der Baron Nachrichten gebracht haben, die ihren Wünschen entsprechen?“

Auf der Hausflur traf er seinen Vater, dem er wie gewöhnlich Bericht von dem Zustande der Felder abstattete. Der Greis hörte schweigend zu, und nur mit Mühe vermochte er die Besorgniß zu unterdrücken, die er um den Sohn hegte. Mit klopfendem Herzen betrat Philipp das Zimmer, nachdem die Mutter zum Abendessen gerufen hatte. Kaum hatte man sich zu Tische gesetzt, als der Gerichtsbote von dem Schlosse angemeldet ward. Marianne bebte zusammen; eine Ahnung sagte ihr, daß Franziska einen Streich gegen die Familie ausführen würde, die sich ihrer so großmüthig angenommen hatte.

„Er soll eintreten!“ sagte Vater Eckhard in seiner gewöhnlichen Ruhe. „Ihr seid’s, Kaspar!“ rief er dem alten, bärtigen Gerichtsdiener entgegen, der auf der Schwelle erschien. „Was bringt Ihr noch so spät?“

„Ich habe Ihnen eine Vorladung des Gerichts zu übergeben.“

„Eine Vorladung – hat man mich verklagt?“

„Weiß nicht!“ antwortete der Diener, indem er dem Landmann einen großen versiegelten Brief überreichte. Dann grüßte er und entfernte sich wieder.

Alle Blicke waren auf Vater Eckhard gerichtet, der das Schreiben öffnete.

„Lies Du vor,“ wandte er sich an Philipp, der ihm zur Seite saß; „meine Augen taugen nicht mehr zum Lesen bei Lichte!“

Philipp überflog mit hastigen Blicken das Schreiben. Seine Hände zitterten und sein Gesicht ward bleich.

„Gerechter Gott!“ flüsterte er bestürzt vor sich hin. „Das hätte ich nicht gedacht!“

„Was ist’s?“ fragte Marianne, die sich bebend erhoben hatte.

„Nichts, nichts – es geht nur den Vater und mich an – wir werden später darüber sprechen. Beunruhige Dich nicht, Marianne.“

„Philipp, das ist ein Unglücksschreiben!“ sagte sie mit fester Stimme. „Es ist gegen Euch, gegen meine Wohlthäter gerichtet; aber es soll mich treffen. Du darfst mir den Inhalt nicht verschweigen.

„Sage gerade heraus, was es ist!“ rief Vater Eckhard.

„Wir sind Alle bei der Sache betheiligt – Marianne darf wissen, was das Gericht von uns will.“

Marianne nahm aus Philipp’s Hand das Papier; nachdem sie es durchlesen, sagte sie mit Thränen in den Augen:

„Mehr als Euch, Ihr guten Leute, geht es mich an, und es wäre nicht gut gewesen, wenn ich es später erfahren hätte. Die Erbin von Adersheim fordert alle Grundstücke zurück, die der selige Oberst Euch zur Benutzung gegeben hat, wenn Ihr an einem bestimmten Termine nicht beweisen könnt, daß sie durch Kauf oder Schenkung Euer Eigenthum geworden sind.“

Die beiden alten Leute falteten die Hände und sahen sich, starr vor Schrecken, an. Philipp war zur Seite getreten, um seine schmerzliche Bewegung zu verbergen. Marianne allein schien ihre Fassung bewahrt zu haben. Nachdem sie das Papier noch einmal gelesen, sagte sie:

„Vater Eckhard, ehe diese unglückselige Angelegenheit geordnet ist, darf ich Euch nicht verlassen. Ich trage zwar die Schuld daran, daß Euch die neue Besitzerin von Adersheim haßt; aber glaubt mir, auch keine andere kann Euch das erhalten, was mit vollem Rechte Euer Eigenthum ist. Vater Eckhard, erlaßt mir jede weitere Erklärung und haltet Euch versichert, daß Euer und Philipp’s Glück noch nicht gefährdet ist. Franziska ist in einem unheilvollen Wahne befangen, der sie jetzt völlig beherrscht und zu unüberlegten Schritten verleitet – man wird sie aufklären und sie wird die Willensmeinung des Verstorbenen ehren. Philipp,“ rief sie mit bewegter Stimme, „ich hoffe, daß Du mir beistehen wirst.“

Diese Worte trugen nur wenig zur Beruhigung der bestürzten Familie bei. Das Abendessen war bald vorüber und man trennte sich in einer peinlichen Stimmung. Der Greis verließ heimlich das Haus und ging nach der Wohnung des Pfarrers, die er nach einer Viertelstunde erreichte. Marianne hatte mit Philipp noch eine Unterredung, von der wir nichts weiter berichten, da sich ihre weitern Folgen bald zeigen werden, als daß der junge Mann nach Beendigung derselben mit freudestrahlendem Gesichte seine Kammer betrat und kaum noch der Vorladung des Gerichtshalters gedachte. Die Worte des jungen Mädchens hatten ganz andere Gedanken, sie hatten zu viel Hoffnungen angeregt, als daß er noch Befürchtungen hegen konnte. Um zehn Uhr kehrte auch Vater Eckhard von dem Pfarrer zurück. Als er Mariannen eine gute Nacht wünschte, fügte er hinzu: „Gott wird ja wohl Alles zum Besten lenken.“

In Franziska’s Gemüth sah es ganz anders aus; sie war unzufrieden mit sich und der ganzen Welt. Obgleich sie sich vorgenommen, nachdem sie ihre Rache völlig befriedigt, sich um das ihr verhaßte Liebespaar nicht mehr zu kümmern, sollte sie dennoch dem alten Gottfried Auftrag geben, über Walther’s Leben Erkundigungen einzuziehen. Eines Tages erschien der Greis.

„Der Baron von Linden ist vorgestern auf Eckhard’s Meierei gewesen,“ berichtete er. „Der Lohnbediente, der ihn begleitet, hat es mir gesagt. Mittags ist er dort angekommen und erst Abends ist er wieder abgereist. Das hätte ich von der stillen Marianne nicht gedacht!“ fügte der Greis kopfschüttelnd hinzu.

„Was?“ fragte Franziska auffahrend.

„Man erzählt sich, daß sie mit dem Baron eine heimliche Liebschaft unterhält. Es ist wahr, sie ist leidlich gebildet, aber sie sollte nicht über ihren Stand hinausgehen, sie sollte immer bedenken, wer sie ist.“

Aus dieser Mittheilung des alten Kammerdieners glaubte Franziska schließen zu dürfen, daß sie in ihm eine ganz ergebene Person besäße. „Er redet nicht mehr zu ihren Gunsten,“ dachte sie; „während er sonst jede ihrer Handlungen zu bemänteln suchte, theilt er mir jetzt Alles unumwunden mit, was sie in meinen Augen herabsetzen muß. Die Sache macht mir Spaß!“ rief sie mit einem Lächeln, das ihr die bitterste Eifersucht erpreßt. „Wäre sie nicht das Pflegekind meines verstorbenen Onkels, ich würde ihr das Glück gönnen, die Gattin eines leichtsinnigen, bettelarmen Edelmanns zu werden. Bringe mir ferner Nachrichten über das Fortschreiten dieses merkwürdigen Verhältnisses.“

Seit dieser Nachricht war Franziska’s Leben ein höchst martervolles geworden. Sie begriff, daß Walther für sie verloren war, denn sie durfte bei seinen bekannten romantischen Gesinnungen nicht zweifeln, [524] daß er die reizende Marianne, trotz ihrer Armuth, heirathen würde. Seine Liebe zu dem verlassenen Mädchen flößte ihr eine Art Ehrfurcht ein. Dieselbe Wirkung setzte sie bei andern voraus, die ihr früheres Verhältniß zu dem jungen, liebenswürdigen Baron kannten. Welch einen Eklat mußte die Verlobung hervorbringen! Es gab nur noch wenig Augenblicke, in denen der Kopf seine Rechte geltend machte, denn die Leidenschaft des Herzens beherrschte das ganze Wesen Franziska’s. Der Reichthum allein konnte sie nicht glücklich machen. Um sich zu betäuben, stürzte sie sich in den Strudel der Freuden der großen Welt.

So empfing sie eines Tages eine Einladung zu einem Maskenballe, den der Gesandte eines auswärtigen Hofes gab. Mit großer Sehnsucht erwartete sie den Abend, von dem sie sich eine heilsame Zerstreuung versprach. In dem kostbaren Kostüme einer Griechin, eine feine schwarze Halbmaske vor dem schönen Gesichte, betrat sie den Saal, der bereits mit einer zahlreichen Maskengesellschaft angefüllt war. Sie durfte voraussetzen, daß die Eingeladenen nur den höhern Ständen angehörten, zumal da sich auch einige Prinzen des königlichen Hofes unter ihnen befanden. Daran, daß sie Walther in dieser kostspieligen Sphäre treffen würde, dachte sie nicht. Mit großer Genugthuung machte sie die Bemerkung, daß ihr Erscheinen allgemeines Aufsehen erregte. Dies konnte nur ihr vollendet schöner Wuchs und das wahrlich kostbare Kostüm hervorbringen, denn wen die Maske barg, wußte Niemand, da sie die Wahl derselben sehr geheim gehalten hatte. Sobald sie eingetreten, machte sich ein Grieche bemerkbar, der ihr auf Tritt und Schritt folgte. Die Musik begann und der elegante Verfolger forderte sie zum Tanze auf. Beide schwebten durch den Saal. Die übrigen Tänzer traten zurück, um das schöne, leicht schwebende Paar zu bewundern. Ward Franziska durch diese Ovation auch mit Stolz erfüllt, so dachte sie dennoch mit einem wehmüthigen Schmerze:

„Könnte ich mit Walther diesen Triumph theilen!“

Dann wieder regte sich in ihr der Wunsch, er möge anwesend sein, sie erkennen und sie beneiden. Der Glanz des Festes übte die gehoffte Wirkung nicht aus. Wie aus Ueberdruß ließ sie sich die Aufmerksamkeiten ihres Tänzers gefallen, der sich nach dem Rechte der Masken auch manche scherzhafte Freiheit erlaubte, um sie zu unterhalten. Man trat in eins der Seitenzimmer und hier ging die bisher stumme Unterhaltung in leise geflüsterte Worte über. Der Ballgast, dessen ganzes Gesicht von einer undurchdringlichen Maske bedeckt war, ließ sich an der Seite seiner Griechin auf einem Polster nieder.

„Kennen Sie mich denn?“ fragte Franziska, die sich über die Beharrlichkeit ihres Begleiters wunderte.

Die Maske nickte und drückte zärtlich ihre Hand.

„So nennen Sie mir meinen Namen.“

Der Grieche zog ein kleines Notizbuch hervor und schrieb auf ein Blatt desselben mit ziemlich undeutlichen Buchstaben die Worte: „Franziska von Adersheim.“

„Und wer sind Sie, mein Herr?“ fragte sie erstaunt weiter.

Er neigte sich an ihr Ohr und flüsterte ganz leise: „Ein Mann, dem Sie die heißeste Liebe eingeflößt haben!“ Und zugleich berührten seine Lippen, welche von der feinen Wachsmaske nicht bedeckt wurden, ihren schlanken Hals.

„Mein Herr,“ gab sie spöttisch zur Antwort, „Scherze dieser Art können mich nicht unterhalten.“

Der Grieche hob betheuernd drei Finger empor, wobei seine dunkeln Augen aus der Maske hervorglühten. Dann ergriff er stürmisch ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen.

„Sie irren,“ flüsterte sie erschreckt, „ich bin nicht Franziska von Adersheim!“

„Aber ich liebe Sie!“ flüsterte die Maske mit tonloser Stimme zurück.

Franziska starrte den Griechen an. Wäre er weniger leidenschaftlich gewesen, so würde sie eine Aehnlichkeit mit Walther zu erkennen geglaubt haben. In diesem Augenblicke traten zwei weibliche Masken ein. Die eine derselben stellte eine Schäferin, die andere eine Chinesin dar. Erschöpft von dem Tanze warfen sie sich auf die Polster. Ihre Aufmerksamkeit war auf das schöne Griechenpaar gerichtet, das ihnen gegenüber saß. Franziska’s Begleiter erhob sich, küßte ihr mit Galanterie die Hand und verschwand aus dem Gemache. Nun erschien ein alter Herr in einem schwarzen Domino; er trug eine schwarze Brille, die sein ehrwürdiges Gesicht unkenntlich machte. Sein weißes Haupt war unbedeckt, er trug das Baret in der Hand. Ein Diener mit Erfrischungen folgte ihm.

„Hier sind die Damen, mein Freund, präsentiren Sie!“

Die Marken ergriffen die Gläser, dann entfernte sich der Diener wieder, um gleich darauf auch für Franziska ein Glas Limonade zu bringen. Der Domino hatte sich neben den beiden Damen niedergelassen, die Franziska bis jetzt vergebens zu erkennen gesucht hatte. Unbefangen begannen sie ein Gespräch.

„Ich behaupte,“ sagte die Schäferin, „daß die Tänzerin des Prinzen keine andere als das Fräulein von Adersheim war. Sie tanzt schön, es ist wahr – aber nur sie vermag sich mit einer solchen Koketterie zu bewegen.“

„Die Türkin?“ rief spöttisch lachend die Chinesin. „Wetten wir, daß sie die Tochter vom Hause war. Um zwölf Uhr demaskirt man sich, dann werden wir sehen wer Recht hat. Ich zweifle überhaupt daran, daß die Adersheim hier ist. Wie man sagt, leidet sie an einem Gallenfieber.“

Den Händen der armen Franziska wäre fast das Glas entfallen. Sie erkannte in der Chinesin, die diese hämischen Worte gesprochen, ihre erbittertste Feindin, die alte Gräfin von Z. Um sich nicht zu verrathen, schlürfte sie hastig ihre Limonade. Wie gern hätte sie sich entfernt; aber durfte sie es wagen, ohne Aufsehen zu erregen? Sie beschloß, unter dem Schutze ihrer Maske auszuharren.

„Ich habe es immer gesagt,“ fuhr die geschwätzige Gräfin, eine echte Lästerzunge fort, „daß die übermüthige Adersheim, trotz ihrer großen Erbschaft ihr Ziel nicht erreicht. Der Baron von Linden hat sich seit einiger Zeit zurückgezogen und der Bruch ist nun vollständig. Das macht dem jungen Manne Ehre.“

„Wie man sagt, ist das Fräulein schön,“ fügte der alte Herr im Domino hinzu.

„Sie ist schön, das muß ihr der Neid lassen; aber sie ist nicht liebenswürdig. Wehe dem armen Manne, der sie zur Frau erhält und dreimal Wehe ihm, wenn er ohne Vermögen ist. Dies mag der Baron von Linden wohl eingesehen haben. Was nützen Schönheit und Reichthum, wenn die Herzensgüte fehlt? Der Baron ist ein schöner, liebenswürdiger Mann, der ohne Zweifel eine Frau bekommt, die ihn glücklich macht, wenn er auch kein Vermögen besitzt.“

„Immerhin!“ rief die Schäferin, „sie feiert heute einen neuen Triumph, denn der Prinz hat den ganzen Abend mit ihr getanzt, sie ist seine Dame gewesen. Wetten wir, daß wir sie bei der Demaskirung an seiner Seite erblicken.“

„Zwanzig Louisd’or, meine Beste! Sie werden Franziska von Adersheim eben so wenig an der Seite des Prinzen, als je wieder an dem Arme des Barons erblicken.“

„Die Wette gilt! Um zwölf Uhr wird es sich zeigen. Jetzt ist es halb zwölf –“

Nun traten noch einige Masken ein und Franziska hatte Gelegenheit, sich ohne Aufsehen zu entfernen. Thränen einer schmerzlichen Wuth perlten unter ihrer Maske hervor. Wie gern würde sie ihren ganzen Reichthum hingegeben haben, wenn es ihr möglich gewesen wäre, bei der Demaskirung an Walther’s Seite zu erscheinen. Alles, was sie am Meisten gefürchtet, war nun eingetroffen, sie war der Lächerlichkeit, dem Spotte anheimgefallen. Und dabei ward sie von einer grenzenlosen Leidenschaft zu dem Manne verzehrt, die ihr eine so schreckliche Niederlage bereitet hatte. In einer unbeschreiblichen Verfassung hatte sie ein entferntes Nebenzimmer erreicht, in dem sich keine Gäste befanden. Ihr fehlte der Muth, durch den Saal zu gehen, um den Ausgang zu gewinnen, denn sie glaubte, man müsse sie erkennen. Da kam plötzlich der Grieche wieder, er schien ihr gefolgt zu sein. Nachdem er sich verneigt, bat er flüsternd um einen Tanz. Mißtrauisch sah sie ihn einen Augenblick an, sie hielt ihn für einen Genossen der Gräfin Z. und seine freiwillige Liebeserklärung für einen Hohn. Sie war zu niedergeschmettert, als daß sich irgend eine Art von Aufregung in ihr Bahn brechen konnte.

„Mein Herr,“ flüsterte sie, „wenn ich Ihre Aufmerksamkeiten annehmen soll, so eröffnen Sie sich mir. Aus Ihrer Annäherung darf ich wohl schließen, daß ich Sie nicht zum ersten Male sehen werde, wenn Sie die Maske abnehmen.“

„O, Sie kennen mich, mein Fräulein,“ flüsterte der Grieche zurück. „Und damit Sie sehen, wie wenig ich Ihr Mißtrauen verdiene, überlasse ich es Ihnen, mir die Maske abzunehmen.

[525] Es setzt dies allerdings ein Vertrauen voraus – aber wenn Sie schon längst das Herz gehabt hätten, die eingebildete Maske zu zerstören, die das verblendete Auge der Leidenschaft bisher gesehen, Sie würden eine für uns Beide peinliche Maskerade vermieden haben.“

„Himmel, wer sind Sie?“ fragte sie zitternd.

„Franziska, hat Ihr Herz keine Antwort auf diese Frage? Wagen Sie es getrost, auf seine Einflüsterungen zu hören –“

„So kann nur ein Mann zu mir sprechen –“

„Und räumen Sie ihm das Recht dazu ein? Antworten Sie mit dem Herzen, Franziska –!“

Sie riß die Maske vom Gesicht und warf sie zu Boden. Thränen rollten über ihre Wangen.

„Ich verstehe Sie, Franziska!“ rief der Grieche. „Nun soll auch meine Maske fallen!“

Er riß die schwarze Larve ab und Walther stand vor der schluchzenden Franziska. Er küßte ihr mit Inbrunst beide Hände, dann rief er aus: „Und mit freier Stirne wiederhole ich die Betheuerung, die ich vorhin ausgesprochen!“

„Walther, Sie haben mich besser gekannt, als ich selbst. Mein Herz hat einen schweren Kampf gekämpft – Sie führen es zum Siege! Walther, ist mit der Maske jede Scheidewand gesunken?“

„O, mein Gott, es hat nie eine gegeben!“

In diesem Augenblicke gab eine Trompete das Zeichen zum Demaskiren. Franziska erbebte vor Wonne bei dem Gedanken an ihren Sieg. Zum ersten Male warf sie sich an des Geliebten Brust. Dieser küßte sie, dann führte er sie in den Saal. Der Domino mit den beiden Damen trat ihnen entgegen. Es war der Herr von Detmar, der Freund des verstorbenen Oberst; die Chinesin war die Gräfin von Z., und die Schäferin war – Marianne.

„Mein Onkel, der Herr von Detmar!“ sagte Walther. „Und hier, meine Braut!“ fügte er hinzu, Franziska vorstellend. Dann ergriff er Marianne’s Hand und flüsterte: „die beiden Freundinnen mögen berathen, wann[WS 3] unsere Verlobung proklamirt werden soll.“

Marianne verneigte sich und Thränen traten ihr in die Augen, als sie flüsterte: „Erlauben Sie mir, gnädiges Fräulein, daß ich die erste bin, die Ihnen den herzlichsten Glückwunsch abstattet.“

„Und es ist hohe Zeit,“ rief Herr von Detmar, „denn morgen reist sie mit mir nach Westphalen.“

Franziska fühlte keinen Groll mehr gegen Marianne, sie war in diesem Augenblicke so glücklich, daß sie versöhnt der verkannten Feindin die Hand reichte und mit großer Empfindung sagte:

„Ich werde es für Unversöhnlichkeit von Ihrer Seite halten, wenn Sie die Einladung zu dem Feste meines Herzens ablehnen. Sie müssen mir erlauben, daß ich die Wette bezahle, die Sie gewonnen haben.“

„Franziska,“ rief lachend die Gräfin, „ich habe in der Voraussetzung gewettet, daß ich verliere – Herr von Detmar ist mein Zeuge.“

„Gewiß, Fräulein,“ sagte der alte Herr; „mein Neffe wußte, was er Ihrem Herzen zutrauen durfte.“

[526] An dem Arme Walther’s durchschritt Franziska den Saal, die übrigen Personen folgten. Eine Stunde später brachte Walther seine Braut und Marianne nach der prachtvollen Wohnung der Erstern. Franziska war nicht minder excentrisch in ihrer Liebe, als in ihrem Hasse – sie wollte sich nicht mehr von der neu erworbenen Freundin trennen.

Mit dem Beginne des Frühjahrs sah man Maurer und Zimmerleute beschäftigt, ein stattliches Wohnhaus neben der Meierei des alten Eckhard aufführen. Philipp, in städtischen Kleidern, leitete den Bau. Noch ehe der Sommer entschwunden, war die Arbeit vollendet und Franziska erschien bei dem alten Landmann, um ihm ein Document zu überreichen.

„Hier ist die Akte,“ sagte sie, „wonach alle umliegenden Grundstücke Euer unbestreitbares Eigenthum sind. Ich sanctionire die Schenkung meines verstorbenen Onkels – aber unter einer Bedingung.“

Der Greis sah das stolze Fräulein fragend an.

„Daß Ihr nichts dagegen einzuwenden habt, wenn Marianne Euern Philipp heirathet!“ fügte sie lächelnd hinzu.

„In Gottes Namen!“ rief der Greis. „Und meine Alte wird den Bund gewiß segnen. Aber auch ich stelle die Bedingung, daß Marianne selbst - -“

In diesem Augenblicke erschienen die beiden jungen Leute Arm in Arm.

„Wollt Ihr mir Philipp geben?“ rief Marianne. „Mutter Eckhard hat schon eingewilligt.“

„O, das dachte ich mir!“ rief der Greis unter Freudenthränen. „Also hat sie doch noch die Heirath zurecht gemacht.“

„Für diesmal, Vater, war es Fräulein Franziska,“ sagte Philipp. „Sie will, daß unsere Hochzeit mit der ihrigen zugleich gefeiert werde.“

„Dazu gebe der Himmel seinen Segen!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tonne
  2. Vorlage: sie
  3. Vorlage: wenn