Land und Leute/Nr. 41. In der Wasserpolakei
„Niech będzie pochwalony Jesus Christus!“ („Gelobt sei Jesus Christus!“) – so begrüßte uns der Kutscher, der am Bahnhofe unser harrte, so begrüßten uns die Landleute, die schwer beladen zum Markte zogen. „Na wieki, Amen!” („In Ewigkeit, Amen!“) erwiderten wir, schwangen uns auf das mit zwei der kleinen, aber ausdauernden Pferde bespannte Gefährt und rasselten die schnurgerade Chaussee entlang dem Städtchen Polnisch-Wartenberg zu, dessen weißglänzende Thürme, dessen rothe Dächer recht einladend im Sonnenglanze eines letzten Septembertages herüber winkten.
Jahrmarkt war’s und ein Leben und Treiben in dem Städtchen, von dem man sich nur eine schwache Vorstellung [318] machen kann. War doch selbst die Luft in den Straßen eine andere, als draußen vor den Thoren – leicht erklärlich, wenn man die Menge betrunkener Bauern ganze Heerden Rind- und Schwarzviehes vorbeitreiben sah. Ein polnischer Markt – unbeschreiblich in seiner Eigenart, anziehend für uns, die wir von Westen kamen. Slavische Elemente allüberall – die ehrlichen deutschen Gesichtszüge sind verdrängt von verschmitzten, dummdreisten oder unterwürfigen Physiognomien der slavischen Race, deren charakteristische Eigenart, die breiten Kinnladen und Backenknochen, die schmalen, zusammengekniffenen, fast geschlitzten Augen, der spärliche Bartwuchs und das lange strähnige Haar, sich fast bei jeder dieser uns umgebenden, manchmal höchst fragwürdigen Gestalten wiederfinden. Wie die luftige, freie Bewegung zulassende deutsche Jacke einem bis an die Knöchel reichenden dunklen Rocke oder dem bekannten Schafpelz gewichen ist, und der Hut einer breitdeckligen Tuchkappe und schwarzen Schaffellmütze den Vorrang abgetreten hat, so ist auch die Sprache eine für uns fremde geworden. Wir befinden uns auf der deutsch-polnischen Sprachgrenze, einem Landstrich, wo zwei geschiedene Sprachen einander berühren, und wie immer in solchen Grenzdistricten, hat das Volk beide zu einem Mischmasch verarbeitet, der dem Nationalpolen wie dem Deutschen unverständlich und unter dem Namen „Wasserpolnisch“ weithin berüchtigt worden ist.
Slavisch ist der größere Theil dieses Jargons, slavisch auch der Kern der Bevölkerung. Von uralt deutschen Stämmen, die früher hier zogen, zeugt nichts mehr, als selten dem Boden enthobene Urnenscherben. Erst nach der Mongolenüberfluthung kamen auf’s Neue durch die schlesischen Herzöge deutsche Elemente in’s Land, um den arg verwüsteten Boden einigermaßen wieder zu bevölkern; diese Herzöge führten deutsches Recht und deutsche Sitte ein, neigten sich mit der Zeit immer mehr deutschem Einflusse zu und heiratheten sogar meist deutsche Fürstentöchter.
Auf die östlichsten Striche Schlesiens beschränkt, stehen heute die einstigen Beherrscher des Landes in einem nahezu abhängigen Verhältnisse zu den Deutschen. Haben sie als Dienstleute nicht ihr Brod auf deutschen Gütern gefunden, so ziehen sie als Tagelöhner und Knechte von Ort zu Ort oder fristen mit Hausirhandel und Schmuggel ein kümmerliches Leben. Der Deutsche vermag wegen ihres unruhigen, vagirenden Charakters nur einen sehr geringen Einfluß auf ihre geistige Bildung zu üben, und dadurch sehen wir eben das slavische Element noch so fest in ihnen gewurzelt, sie selbst der Cultur noch so wenig gewonnen.
Armuth, bittere Armuth spricht aus den Zügen dieser Menschen, aber diese Armuth ist eine selbstverschuldete. Nirgends wohl sind die Wirthshäuser mehr gefüllt, als in Polnisch-Schlesien; Männer und Weiber trinken um die Wette; in unglaublichen Quantitäten wird hier der Branntwein vertilgt, und besonders abstoßend ist das Bild an Sonn- und Feiertagen, wo nach angehörter Messe die Gläubigen schwer betrunken nach Hause taumeln, in der einen Hand das Gebetbuch, in der andern die Flasche. Außer dieser maßlosen Trunksucht ist es Faulheit in der Bewirthschaftung und ein gewisser fatalistischer Stumpfsinn, was den polnischen Bauer zu Grunde richtet. Bildung und Aufklärung werden halsstarrig zurückgewiesen, desto tiefer aber beugt er sich der unheimlichen Macht des Aberglaubens.
Im Gewühl des Jahrmarktes erblicken wir noch andere charakteristische Gestalten. Wer kennte sie nicht, diese bleichen, scharfgezeichneten, fast typischen Gesichter, in denen sich seltsam ascetische Schwärmerei und listige Habgier malt! Wer kennte sie nicht, diese schmutzstarrenden, schwarzgelockten Juden, die, von Ostschlesien, Posen und Polen aus auch Deutschlands Städte und Dörfer jahraus, jahrein überfluthen und theils als Hausirer, theils als Schnorrer von der Milde ihrer Stammesgenossen leben.
Sind die Juden in den deutschen cultivirten Districten fast in der Bevölkerung aufgegangen und nehmen sie an allen Berufszweigen Antheil, so bilden sie an der polnischen Grenze, wie überhaupt im Osten Europas, einen eigenen charakteristisch abgeschlossenen Volkstheil, eine besondere Nationalität, die sich, wenn wir von den deutschen Städten absehen, fast vorzugsweise den Pferde-, Klein- und Trödelhandel, sowie die Schankwirthschaft angeeignet hat. Daneben spielen die Juden in Polnisch-Schlesien eine Rolle als Vermittler zwischen Deutschen und Polen, zwischen Herren und Landvolk. Handel mit Geld und Papieren ist ihnen hier wie allerorten eigen. –
Es ist Sonntag. Folgen wir dem Strome der Bauern zur Kirche! Mächtige Bäume überschatten den Kirchplatz, auf dem in dichtgedrängter Masse die Andächtigen die Stunde erwarten, die ihnen die Thür zum Allerheiligsten öffnet. Außer einer prächtigen, durch einen steifen Zopfaltar verdeckten Grabinschrift eines Edlen aus längst verschollenem Geschlecht bietet die Wartenberger Kirche katholischer Confession, ein schmuckloser Bau aus spätgothischer Zeit, nichts Bemerkenswerthes dar; wie überall in katholischen Landen, so hangen auch hier die alten verblaßten, rothen und grünen Kirchenfahnen, kräuseln sich die blauen Weihrauchwölkchen um die goldbekleideten Heiligengestalten am Hochaltar. Neu ist uns nur die devote Ehrfurcht einer Anzahl Bauernweiber, die halbe Stunden lang in starrer Unbeweglichkeit in ihrer ganzen Länge auf dem Boden des Mittelganges liegen und inbrünstig den Staub von den Steinplatten küssen. Das kirchliche Hauptfest für diese Gegend bildet die weithin berühmte Procession nach dem Marcusberge (eine halbe Stunde von Wartenberg), die immer den Sonntag nach dem 25. April von statten geht. Groß und Klein strömt hinaus zum altersgrauen Kirchlein; aller Orten sind Buden aufgestellt, in denen zur geistigen Nahrung Rosenkränze, Heiligenbilder und Reliquien, für den Leib aber Würstel, Bier und Schnaps feilgeboten werden.
Haben wir uns noch das im Laufe der fünfziger Jahre erbaute Schloß des Prinzen Biron von Kurland angesehen, dabei vielleicht einen Blick in den hübschen umfangreichen Park geworfen, in welchem an sonnigen Nachmittagen die Honoratioren des Städtchens sich ergehen, so können wir dem Städtchen den Rücken wenden mit dem Bewußtsein, seine charakteristischen Eigenthümlichkeiten gesehen zu haben. Wir machen uns nun daran, die Umgegend kennen zu lernen.
Weithin dehnt sich vor unseren Backen eine nur von niedrigen, breitrückigen Hügelketten durchzogene Ebene, die der Herbst schon in seine bunten Farben gekleidet. Ringsum verstreuen die gelben Kerzen der Lupine ihren lieblichen Duft; Maisstauden in doppelter Manneshöhe und Mohnblumen verdecken die ärmlichen Lehmwände der einzelnen Hütten, über welche Ahorn und Kastanienbäume ihre goldgelben Blätter breite. Noch nie war mir der Herbst so köstlich erschienen; noch nie glaubte ich ihn gesehen zu haben mit solch herrlichen Farben geschmückt. Saftigbraune und sammtgrüne Mooslagen wuchern in üppiger Fülle auf den alten eingesunkenen Strohdächern; rothgoldige Kürbisse erglänzen am Boden, und die vormals weißen Wände empor rankt das wilde Weinlaub in blutrother Pracht – so will die allgütige Mutter Natur selbst das Elend dieser Hütten verschönern.
Der Boden beginnt nach einer Weile zu steigen; in der Ferne werden die Hütten, die eine Zeitlang unsern Weg nicht mehr begleitet, wieder zahlreicher; wir nähern uns einem größern Dorfe, Groß-Kosel. Daß es fast durchweg von polnischen Bauern bewohnt ist, erkennt man auf den ersten Blick: niedrige strohgedeckte Häuser, nur aus einem Erdgeschoß bestehend und von einem kleinen schlechtgepflegten Garten umgeben, der durch einen Plankenzaun von der staubigen Landstraße geschieden ist. Nur wenige aus Stein erbaute Häuser bilden hiervon eine Ausnahme, und diese gehören den wohlhabenderen Bewohnern des Dorfes. Das alte moos- und flechtenüberwachsene Holzkirchlein, gleich zu Anfang des Dorfes auf einem Hügel gelegen, paßt gar gut zu dem es umgebenden verwahrlosten Dorfkirchhofe, der, umgrenzt von einem verwitterten Bretterzaun, nur namenlose Gräber umschließt. Für Alle insgesammt erhebt sich neben dem Dorfkirchlein ein Kreuz, mächtig und plump gefügt aus schwarz oder blutroth bemalten Tannenbalken. Und an diesem Kreuze hängt ein Christusbild, vor Zeiten geschnitten aus einer Eisenplatte, aber seine Farben sind verblichen, und die Gestalt des Gottessohnes ist nicht mehr zu erkennen. Das Kirchlein, aus harzreichem Holze gezimmert, hat schon manch Jahrhundert überdauert – an längst versunkene Geschlechter mahnt im Innern manch altes Kirchenstück. Wandung und Betgestühl zeigen noch heutzutage kunstlose Schnörkelmalerei aus der Renaissancezeit, und in den kleinen Fensterluken klappern noch heute die alten bleigefaßten, runden Scheiben, deren Patina in allen Regenbogenfarben schillert.
Unser Weg führte uns auf der Landstraße weiter; schon in der Ferne sehen wir die weißgetünchten Häuser eines stattlichen Dorfes. Mechau ist von wohlhabenden Bauern bewohnt. Ihre Wohnhäuser sind vielfach massiv, und es macht sich in ihren [319] Gewohnheiten deutscher Einfluß geltend. Zu Ausgang des Dorfes liegt das dem Prinzen Biron gehörige Dominium, der, beiläufig gesagt, circa 65,000 Morgen Landes im Umkreise von Wartenberg besitzt.
Beim Eintritt in den weiten, von Ställen umgebenen Hof empfing uns gleich ein ungewöhnlich malerisches Bild. Mächtige Staubwolken aufwirbelnd, raste in wilder Jagd ein Zug prächtiger Schimmel und Füllen über den weiten, rundum von Wirthschaftsgebäuden umschlossenen Hof; eine große Rinderheerde ward eben in die Schwemme getrieben, und Kälber und Böcklein übten sich in ihren grotesken Kreuz- und Quersprüngen.
Wir waren zur guten Stunde angelangt. Knechte und Mägde, sonntäglich geschmückt, standen in einem Theile des Hofes und lenkten voller Erwartung ihre Blicke nach dem villenartigen Gebäude, das links vom Eingang inmitten eines sorgsam gepflegten Blumengartens lag. Nicht lange sollten wir im Unklaren über das Gesehene bleiben; der Inspector des Gutes nahm sich unser in leutseligster Weise an, erklärte uns, daß heute Erntefest sei, und lud uns freundlich ein, daran Theil zu nehmen. Wir folgten ihm in das weinlaubumrankte Gebäude und stärkten uns durch eine Tasse vortrefflich gebrauten Kaffees, den uns die liebenswürdige, hübsche Inspectorsfrau reichte, auf die kommenden Genüsse.
Da saßen wir denn und schwatzten über dies und das, als plötzlich ein schmetterndes, schrilles Signal uns aus unserer gemüthlichen Unterhaltung aufschreckte. Erwartungsvoll traten wir in’s Freie, und nun kamen die Leute paarweise anmarschirt, voran als besondere Respectsperson der mit einer knallrothen Festschärpe umgürtete Vogt, nach alter Sitte um Erlaubniß fragend, ob der Herr Inspector die Leute empfangen wolle. Nach leutseliger Gewähr bewegte der Zug sich nun bis zur Veranda des Hauses, voran ein paar Musikanten, die ihren Instrumenten die schneidendsten Töne entlockten. Die beiden Vormäherinnen, zwei kernige, dralle Gestalten mit buntem Aufputz, überbrachten die Erntekränze, zunächst dem Panocek (Herrn), dann der Pani (Herrin). Ein paar allerliebste schneeweiße Täubchen, geschmückt mit rothen Bändern, guckten aus dem Kranze des Ersteren. Auch wir wurden mit Kränzen bedacht, und zwar überreichte mir die hübsche Kaischa eine dicht mit bunten Papierstreifen und rothen Pfefferkuchen behangene Krone aus Buchsbaum und Haidekraut, in deren Mitte ein mächtiges Herz hervorleuchtete mit der Inschrift. „Nimm von lieber Hand dieses treue Unterpfand!“
Nach Beschluß des feierlichen Actes traten die Leute zusammen und sangen unter Begleitung der Musik den Choral „Nun danket Alle Gott!“, wie vielstimmig, weiß ich nicht – mag’s auch nicht ergründen. Kaum war der fromme Sang verklungen, da begann der Tanz; der Panocek wurde von der Großmagd geholt, die Pani vom ältesten Vogt, das Frölka (Fräulein) vom Großknecht, ich von der hübschen Kaischa, und als auch das überstanden, wir die üblichen Trinkgelder gegeben und die Veranstalter des Festes uns Allen ein Hoch ausgebracht, zog der ganze Trupp unter schmetterndem Trompetenschall in’s „Hôtel“ des Dorfes zur Fortsetzung des Tanzvergnügens. Gegen sechs Uhr folgten auch wir dorthin; schon auf der Treppe empfing uns dicker Staub, und nun gar erst der Saal!
Ueberall lärmende Männer und Frauen tanzend, trinkend und singend. Kaum erblickte uns die Gesellschaft, so ward Alles still; einer der Vögte in seiner Rolle als Tanzcommandeur kam auf die Pani zu; mich beglückte meine Kaischa, und nun wirbelte Alles dahin im bunten Tanzgewühl. Wagte es einer der Knechte, mit seiner Schönen den Reigen zu vervollständigen, so wurde er mit Püffen zurückgewiesen; „Solum! Solum!“ erscholl es aus heiseren Kehlen, und nicht eher durften wir im Tanze aufhören, bis die Musik verstummte. Nach Beendigung der Polka bestellten die Knechte für unsere Damen Bier, tranken es jedoch nach ihrer Ablehnung sehr gern selber aus. Eine volle Stunde hielten wir’s aus, dann entfernten wir uns still, um durch unsere Anwesenheit den Leuten den Vollgenuß ihres Glückes nicht zu verkümmern, die denn nun auch ihr lustiges Treiben in ungenirter Weise bis zum folgenden Morgen fortsetzten.
Solche Tage sind die spärlichen Lichtblitze in dem Leben dieser meistens kümmerlich aussehenden Menschen, deren düsteres, gedrücktes Wesen man erst verstehen lernt, wenn man einen Blick in ihre Häuslichkeit, in ihre Hütten wirft. Ich selbst besuchte einen Raum, in welchen vier, zusammen neunzehn Köpfe zählende Familien sich theilten: vier Wohn- und Schlafzimmer, vier Küchen und Keller, vier Speisezimmer und ebenso viele Ankleidegemächer. Betreten wir einen solchen Raum, so umfängt uns ein wirres Durcheinander – ein Chaos von Betten, Schränken, Kisten, Kasten, Haus- und Ackergeräthen.
Dort flackert auf niedrigem Herde der Holzstoß oder ein Kohlenfeuer und „überschummert“ das ganze Bild, die dunklen zusammengekauerten, lebhaft sich unterhaltenden Gruppen mit jenem blauen Hauch, der dem Maler als vermittelnde Lasur so lieb und willkommen ist. Genrebilder im Geschmacke Teniers’ und Ostade’s sehen wir überall; nur entbehren sie der glücklichen Behaglichkeit, der Heiterkeit, die wie ein Goldton über die Werke der alten niederländischen Meister sich lagert. Die grenzenlose Armuth ist’s, die Noth, die neben dem Herde kauert und jeden freudigen Zug aus dem Antlitz der Armen verscheucht.[1] Unvergeßlich ist mir der Anblick eines kranken Kindes, das mit seinen fragenden Kinderaugen so unendlich wehmüthig darein blickte.
Welchen Einfluß dieses gedrängte Zusammenleben der Familien auf die moralische Entwickelung der Einzelnen hat, ist unschwer zu ermessen. Und doch sind auf den prinzlichen Gütern die Verhältnisse noch golden zu nennen im Vergleich mit andern, weiter gen Osten gelegenen Landstrichen. Beim Anblick solcher Zustände ist mir oft der Gedanke gekommen – und ich spreche ihn hier unverhohlen aus –, ob die kolossalen Summen, die für Missionszwecke alljährlich zum Reiche hinauswandern, nicht besser im eigenen Lande verwendet würde. Es wären hier wohl schönere Früchte zu erzielen, als in den uns fern liegenden fremden Zonen.
Am folgenden Morgen standen drunten am Ziehbrunnen, der seinen langen Arm in die klare Herbstluft streckte, unsere Pferde bereit, die uns heute bis zur russischen Grenze bringen sollten. Nachdem wir von unseren freundlichen Wirthen Abschied genommen, ritten wir von dannen. Der Charakter der Gegend blieb so ziemlich derselbe: weit ausgedehnte fruchtbare Felder und Wiesen wechselten mit Nadelholzwaldungen, untermischt mit Birken, Erlen, Eichen und Buchen.
Nur da und dort war uns ein Mensch begegnet, ein schwer bepackter, hausirender Jude, ein „Dorfgeher“, wie ihn die Leute nennen. Aber jetzt wirbelte weit drüben in der Ferne eine Staubwolke gen Himmel, mit rasender Eile uns näher rückend. Immer kürzer ward die Distanz; immer deutlicher hörte wir ein Klirren und Klingen, dazu flinker Rosse hurtigen Hufschlag, und jetzt – da saust es heran auf luftigem Gefährt, das heimathlose, unstäte Pußtenvolk, Zigeuner aus dem Magyarenland. Gefesselt von dem malerischen Anblicke hielten wir unsere Pferde an, ließen den Zug vorüber und erwiderten der dunkelfarbigen Männer Anruf. Im Innern der Wagen aber ward es lebendig; da und dort lüpfte sich das geflickte, regengebräunte Zelttuch, und hervor lugten olivenfarbene Gesichter, umwallt von tiefschwarzem Kraushaar. – Doch auch sie flogen vorüber wie der Wind, und uns blieb nur die Feuergluth der dunklen, sprühenden Augen in der Erinnerung.
In einem Dörfchen, in welchem wir im Laufe des Vormittags anhielten, war wilder Lärm. Frauen und Männer, letztere mit weißen Tüchern um die Schulter und bunten Sträußen an den Mützen, standen vor der verriegelte Thür eines ansehnlichen Bauernhauses und baten mit jämmerlich flehender Stimme um Einlaß. Verwundert richtete ich meinen fragenden Blick zu meinem Begleiter hinüber, der mir lachend erklärte, daß es sich hier um eine Hochzeit handle.
„Das eine Hochzeit?“ erlaubte ich mir zweifelnd zu fragen; „wo haben wir denn die Braut?“
„Na, die ist eben drinnen,“ wurde mir erwidert, und nun machte mein Gefährte mich schnell mit der hier herrschenden Sitte bekannt, wonach dem herannahenden, von Mädchen und Brautführern umringten Bräutigam, der kommen will, seine Braut zu holen, [320] die Hausthür möglichst vor der Nase zugeschlagen wird. Unterdeß war von innen die Thür geöffnet worden, an welcher der Bräutigam, Brautjungfern und Brautführer immer dringender um Einlaß gebettelt hatten, und jetzt strömte mit lautem Jauchzen die angeheiterte Schaar hinein, an der Spitze der Brautvater, ein älterer Mann, der sich nun zu der in ihrer Kammer befindlichen Braut begab und sie laut zum Verlassen derselben aufforderte. Die Braut hingegen, die sich den ganzen Tag hindurch nicht sehen lassen, ihre Kammer auch nicht verlassen darf, weigerte sich dessen nach herkömmlicher Sitte unter lautem Jammergeschrei auf’s Entschiedenste. Abermals wiederholte der Alte sein Gesuch, und als es wiederum erfolglos blieb, stürmten beim dritten Male einige alte Frauen in die Kammer hinein und zerrten die Widerstrebende hinaus. Nun war großer Jubel; ein Tisch ward in die Mitte gerückt und reichlich mit Kuchen, Wurst und Schnaps besetzt. Alle sprachen mit lachendem Gesichte dem Dargebotenen zu, besonders den Spirituosen. Unterdeß spielte die Musik einen Choral; Alles sang nach Kräften mit; darauf wurden einige Tänze abgespielt, und nun beeilte sich Jeder, auf die bereitstehenden Leiterwagen zu kommen, die das Brautpaar und die Gäste zur Kirche bringen sollten. Auf dem ersten Wagen nahmen die Musikanten und einige Hochzeitsgäste Platz, deren Aufgabe es ist, durch laute Jauchzer auf das Herannahen eines Hochzeitszuges aufmerksam zu machen. Auf dem zweiten Wagen saß die Braut, die während der ganzen Fahrt still und betrübt vor sich hinsehen muß, ferner der Bräutigam, die Brauteltern und der Brautführer im Schmucke seiner bunten Tücher und Blumensträuße. Auf den anderen Wagen placirten sich die Brautjungfern, jede einen Strauß in der Hand für ihren „Kerl“, das heißt ihren nachherigen Tänzer, für dessen ordentliche Verpflegung sie sorgen muß. Lärmend und kreischend fuhr so der Hochzeitszug zur Trauung. Nach vollzogener Feierlichkeit geht die Fahrt zurück, aber in jedem am Wege liegenden Wirtshause wird eingekehrt und getanzt, sodaß manchmal erst spät Nachmittags die Hochzeiter das Haus der Brauteltern erreichen, wo bei Speise und Trank die Feierlichkeit weiter gesponnen wird. Während der Mahlzeit geht die Frau, welche das Essen angerichtet, mit einem Teller herum und sammelt ein; jeder Gast muß also sein Essen bezahlen, eine Sitte, die auch bei deutschen Völkern gang und gäbe ist. Nach aufgehobener Tafel wird im Gasthause (Kretscham) getanzt und dort auch um Mitternacht der Braut der Kranz vom Kopfe gerissen und ihr dafür eine mächtige Haube aufgesetzt. Von nun an darf sie nicht mehr unter den Mädchen sitzen. – Zwei Tage lang dauert das Treiben im Wirthshause fort; sind die alten Leute müde, so ist eine Strohschütte gleich zur Stelle, das junge Blut aber tanzt weiter, Tag und Nacht, und erst am Abende des zweiten Tages hat das riesige Vergnügen ein Ende.
Mittag war vorüber, als wir auf dem „Ring“ (Marktplatz) der Judenstadt Kempen hielten, mitten im Gewühl einer zahlreichen Judenmenge, welche die ganze Stufenleiter von der abscheulichsten Häßlichkeit an bis zur vollkommenen plastischen Schönheit repräsentirte. Eigenthümlich berührt es, eine ganze Stadtbevölkerung zu sehen, von welcher die Männer das sonst im westlicheren Deutschland nur vereinzelt angetroffene charakteristische Aeußere des polnischen Juden zeigen: in Verbindung mit der scharf jüdischen Physiognomie die „Peies“, die langen Schmachtlöcklein, welche zu beiden Seiten des Gesichts bis auf die Schultern herniederfallen, ferner die „Schibbeze“, das lange kaftanähnliche Gewand, und die langen Stiefeln.
Unser Weg führte am Kirchhof der Juden vorbei, welcher draußen vor der Stadt auf einer Anhöhe liegt. Wie das Leben der Hebräer in bestimmte, vorgeschriebene Formen geschlossen ist, so sind auch die Leichensteine überall von derselben feststehenden, tafelförmigen Gestalt, nur mehr oder minder verziert durch einfache Arabesken und Ornamente. In dichtgedrängten Reihen, wie die Halme des Feldes, standen hier die Hunderte von Grabsteinen hinter einander, umschlossen von Disteln und Kieferngezweig, durch dessen düsteres Grün die verwischten Schriftzeichen Palästinas geheimnißvoll uns entgegenblickten. Auf einer Anzahl der Tafeln waren die Zeichen des Stammes angebracht, dem die unter ihnen ruhenden Todten im Leben angehörten. Zwei aufrechtstehende Hände bezeichnen die Aaroniten, ein Kelch den Stamm Levi u. s. f.
Wir hatten den Kirchhof wieder verlassen und schickten uns eben zur Weiterreise an, da sahen wir einen Leichenzug längs des Angers sich bewegen. Ernste Männer waren es, die bleichen Gesichter umrahmt von dunkelschwarzen Bärten – Juden, die einen ihrer Todten hinaustrugen. – Umdrängt von neugierigem Volke, zogen sie, ihre eigenthümlichen Gebete murmelnd, hinaus zum „guten Ort“, zum „Hause des Lebens“, um dort die arme leblose Hülle zu betten. Eine Weile verfolgten wir die dunklen Gestalten mit den Augen, bis sie in dem auswirbelnden, sonnendurchglühten Staube verschwanden.
Die Grenzstation, wo die Prosna Deutschland von Rußland scheidet, heißt auf deutscher Seite Podzamce, ein armseliges Dorf, und es war Abend, als wir vor derselben anlangten.
Nur fern im Westen zeigte sich noch ein breiter goldiger Streif, im Osten aber, wo sich die ungemessenen Weiten des russischen Reiches dehnten, wurde es finsterer und finsterer – dort schien alles Leben erstorben, und aus dem Dunkel, vom rechten Ufer der Prosna herüber, tönten nur die seltsam weichen, langgezogenen Weisen einer Hirtenflöte.
- ↑ Im Tagelohn verdient ein Mann 80 bis 100 Pfennig den Tag, die Frau 60 Pfennig. Auf einem Dominium, wo die Leute das ganze Jahr beschäftigt werden müssen, außer freier Wohnung 60 bis 80 Pfennig, die Frauen 30 bis 40 Pfennig, die Kinder 25 Pfennig. Ein Großknecht hat ein jährliches Einkommen von 16 bis 18 Thaler, dazu freie Wohnung, Holz und ein Deputat, bestehend aus 6 Metzen Weizen, 12 Scheffel Korn, 3 Scheffel Gerste, 2 Scheffel Erbsen, 1 Scheffel Haidekorn, 7 Beete Kartoffeln, 1 Beet Kraut, 186 Liter Milch, 6 Liter Butter, 10 Liter Salz und zu jedem hohen Feiertage 3 Silbergroschen für Fleisch und Bier.