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Landstreicherleben/Seemann und Werber

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aus: Landstreicherleben
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Siebzehntes Kapitel


Seemann und Werber


Ich zog quer durch die Picardie nach Boulogne. Zu jener Zeit hatte Napoleon bereits auf seine Landung in England verzichtet und hatte Österreich den Krieg erklärt; aber an der Küste des Ärmelkanals standen noch zahlreiche Bataillone der großen Armee. In den beiden Lagern, am rechten Ufer und am linken, konnte man Soldaten fast aller Länder Europas sehen: Italiener, Deutsche, Piemontesen, Holländer, Schweizer, selbst Irländer.

Die Buntheit und Verschiedenartigkeit der Uniformen bot mir gute Gelegenheit mich zu verbergen … Ich glaubte aber, eine Militäruniform würde eine schlechte Verkleidung für mich sein. Einen Augenblick dachte ich ernsthaft daran, Soldat zu werden. Aber um in ein Regiment aufgenommen zu werden, brauchte man Papiere, und ich hatte keine. Ich gab also diesen Plan auf.

Eines Tages, als ich unruhiger und besorgter um meine Person war als sonst, traf ich auf dem Platz der oberen Stadt einen Sergeanten der Marine-Artillerie, Dufailli, den ich schon gelegentlich in Paris gesehen hatte. Auch er war aus Arras gebürtig, aber er war schon in frühester Jugend zur See gegangen und hatte den größten Teil seines Lebens in den Kolonien verbracht; seitdem war er nicht nach Hause gekommen und wußte also nichts von meinem Mißgeschick. Er glaubte, ich sei einfach ein Tunichtgut und Bummler; einige Raufereien in der Schenke, [223] in denen ich ihn kräftig unterstützte, hatten ihm eine hohe Meinung von meinen Fähigkeiten beigebracht.

Ich hatte einen Heidenappetit und sah mit Befriedigung den Vorbereitungen zur Mahlzeit zu, an der ich teilnehmen sollte. Eine Frau von etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, von Gestalt, Aussehen und Temperament eines jener Mädchen, die ein ganzes Regiment beglücken können, deckte den Tisch. Es war eine sehr lebhafte, sehr lustige kleine Lütticherin, die in ihrem gebrochenen Dialekt jeden Augenblick derbe Zoten zum besten gab; der Sergeant, entzückt von so viel Geist, platzte vor Gelächter.

„Das ist die Schwägerin unseres Wirtes, des Vaters Galand,“ erklärte er mir, „sie hat Pietzen: rund wie Bälle, voll wie Tonnen, das muß ein Genuß sein.“ Und Dufailli rundete dabei seine Hände und setzte seine Neckereien fort: bald zog er sie zu sich auf die Knie, bald drückte er auf ihre glühenden Backen einen jener schallenden Küsse, die eine recht derbe Art zum Lieben vermuten ließen.

Ich gestehe, ich sah diesen Manövern, die den Dienst allerdings verzögerten, nicht ungern zu. Fräulein Jeanette riß sich endlich aus den Armen meines Amphitryon los, kam dann mit einer halben Pute, die stark mit Senf gewürzt war, und zwei Flaschen Wein zurück und stellte alles vor mich hin.

„Prosit Mahlzeit!“ rief der Sergeant, „da haben wir etwas zu kauen und die Kehle zu schmieren, und ich will meinen Mann stellen. Nachher wird sich das weitere ergeben, denn in dieser Bude steht uns alles zur Verfügung, ich brauche nur zu winken. Nicht wahr, Fräulein Jeanette? Jawohl, mein Freund, ich bin der Schutzpatron des Hauses.“

Ich gratulierte ihm zu so viel Glück, und wir machten uns beide über Essen und Trinken her. Ich hatte schon lange nicht mehr ein solches Fest gesehen; ich lud ordentlich auf. Die Flaschen wurden eine nach der anderen leer; ich glaube, wir waren schon bei der siebenten angelangt, als der Sergeant hinausging, wahrscheinlich, um ein Bedürfnis zu befriedigen, und gleich darauf [224] mit zwei neuen Gästen zurückkam; es war ein Quartiermeister und ein Sergeantmajor.

„Potztausend! Ich bin gern in Gesellschaft,“ rief Dufailli, „da Landsmann, bringe ich zwei Neulinge mit. Ich verstehe mich aufs Werben von Rekruten, was, fragt nur diese Herren da!“

„Das ist wahr,“ antwortete der Quartiermeister, „hol’ ihn der Kuckuck, diesen Dufailli, was kann der für Märchen ausdenken, um Dumme zu fangen. Wenn ich bloß daran denke: ich muß doch rein blödsinnig gewesen sein, um so in die Falle zu gehen!“

„Ah, du erinnerst dich noch daran?“

„Na, und ob! Ich erinnere mich wohl daran, und der Major ebenfalls, denn du warst so frech, ihn als Regimentsnotar zu engagieren.“

„Nun, und? Hat er denn nicht sein Glück gemacht? Gott verdamm’ mich! Ist das nicht besser, die erste Person in einer Kompagnie zu sein, als in einem Büro zu sudeln? Was sagst du dazu, Quartiermeister?“

„Ich bin ganz derselben Meinung, aber …“

„Aber hin, aber her, wirst du mir vielleicht sagen, daß du glücklicher warst, als du noch die Gießkanne schwenktest und die Tulpen betümpelt hast? Damals sollten wir uns gerade in Brest auf dem ‚Invincible‘ einschiffen, du wolltest nur als Blumengärtner mitgehen. Gut, sagte ich zu dir, gehe als Blumengärtner, der Kapitän ist ein großer Blumenfreund, jedem nach seinem Geschmack, jedem nach seinem Handwerk; ich bleibe bei dem meinen. Ich sehe dich noch wie jetzt vor mir, wie du, anstatt die Seeblumen zu pflegen, das Schiffstau aufrollen und die Donnerbüchse abbrennen mußtest! Das war ein Blumenstrauß! Aber sprechen wir nicht mehr davon und trinken wir eins. Landsmann, schenk’ unseren Freunden ein!“

Ich füllte die Gläser.

„Du siehst,“ sagte der Sergeant, „sie nehmen es mir nicht weiter übel: jetzt sind wir drei ein Herz und eine Seele. Das [225] schadet nichts, daß ich sie hübsch ins Garn gelockt habe, aber das ist noch gar nichts; wir Marinewerber von heute sind die reinsten Waisenknaben von den früheren Werbern. Ihr seid ja Gelbschnäbel, ihr habt Belle-Rose nicht gekannt, der verstand sich aufs Geschäft! Ich bin doch auch nicht auf den Kopf gefallen, aber der wickelte mich ein, wie man’s nicht besser wünschen könnte. Auf jeden Fall will ich es für den Landsmann erzählen …

Ich hatte Arras mit vierzehn Jahren verlassen und befand mich seit einem halben Jahre in der Lehre bei einem Waffenschmied in Paris. Eines Morgens sollte ich einem Obersten, der Place Royale wohnte, ein Paar reparierte Pistolen hinbringen. Ich erledigte diesen Auftrag pünktlich; zum Unglück sollten für diese verdammten Pistolen achtzehn Franken bezahlt werden; der Oberst händigte mir das Geld ein. Bisher ist nichts Wunderbares an der Sache, aber als ich durch die Rue de Pélican gehe, höre ich an einer Scheibe klopfen. Ich glaube, es ist ein Bekannter; ich hebe den Kopf, und was sehe ich? Eine wahre Marquise de Pompadour, mit entblößten Reizen, hinter einer Fensterscheibe, nickt mir zu, lächelt und ladet mich ein, hinaufzukommen. Es war wie ein lebendes Miniaturbild in einem Rahmen. Ein entzückender Hals, eine schneeweiße Haut, ein üppiger Busen und dazu noch ein reizendes Gesicht, mehr brauchte es nicht, um mich in Flammen zu setzen. Ich stürze in einigen Sätzen die Treppe hinauf, man führt mich zu meiner Prinzessin: göttlich!

‚Komm, mein süßer Junge,‘ sagt sie, indem sie mir leicht auf die Wange schlägt, ‚du machst mir doch gerne ein kleines Geschenk, nicht wahr?‘

Ich greife zitternd in die Tasche und ziehe das Geld heraus, das mir der Oberst gegeben hatte.

‚Sag doch, Kleiner, bist du nicht aus der Picardie?‘ fährt sie fort. ‚So, so, na da bin ich doch deine Landsmännin. Oh, du bezahlst mir doch gewiß gerne ein Glas Wein?‘

Die Bitte war so anmutig vorgebracht, ich hatte nicht die [226] Kraft, sie abzuschlagen: die achtzehn Franken des Obersten wurden angegriffen. Ein Glas führt zum zweiten, zum dritten und vierten, bis ich vor lauter Geilheit und vom Wein ganz betrunken wurde. Und dann wurde es Nacht, und ich weiß nicht, wie es kam, aber ich erwachte auf der Straße, auf einer steinernen Bank …

Als ich mich umschaute, war meine Verwunderung groß, noch größer wurde sie, als ich in das Innere meiner Börse blickte … die Vögelchen waren davongeflogen! …

Wie sollte ich nun zu meinem Meister zurückkehren? Wo die Nacht verbringen? Ich beschloß, spazieren zu gehen und den Morgen abzuwarten; ich wollte die Zeit totschlagen und die Folgen der ersten Dummheit irgendwie betäuben. Nun, trau’ einer den Landsmänninnen, sagte ich mir, da sitzt der Hase im Pfeffer! Wenn mir doch wenigstens noch etwas Geld übrig geblieben wäre!

Ich gestehe, in diesem Moment kamen mir ulkige Ideen in den Kopf … Wie oft hatte ich auf den Mauern in Pariser Straßen Anschläge gesehen, wie: Verloren eine Brieftasche mit tausend, zweitausend und dreitausend Franken; dem ehrlichen Finder hohe Belohnung. Warum sollte ich nicht eine solche Brieftasche finden können? Ich ging also wie einer, der etwas verloren hat, und suchte das Pflaster ab; ich war allen Ernstes mit der Möglichkeit eines glücklichen Fundes beschäftigt, als ein Faustschlag auf meinen Rücken mich aus den Träumen weckte.

‚Mensch, was machst du hier so früh?‘

‚Ah, du bist’s, Fanfan? Und was tust du hier zu dieser Stunde?‘

Fanfan war Lehrling bei einem Konditor, den ich kannte. Er erzählte mir, daß er seit sechs Wochen dem Backofen Ade gesagt hatte, daß er eine Mätresse habe, die ihn aushalte, daß er aber für ein Weilchen obdachlos sei, denn bei seiner Schönen schlafe gerade ein Herr. ‚Übrigens,‘ sagte er mit einem Augenzwinkern, ‚wenn ich die Nacht in einer Kaschemme verbringe, gehe ich morgen [227] wieder ins Bett und halte mich am Tage schadlos.‘ – Fanfan schien mir ein pfiffiger Bengel zu sein; ich glaubte, er würde mir einen guten Rat geben können, und schilderte ihm meine Not.

‚Sonst nichts?‘ rief er, ‚komm mittags zu mir in die Schenke an der Barrière des Sergents, ich werde dir einen guten Rat geben, in jedem Fall wollen wir zusammen essen.‘

Ich stelle mich pünktlich zum Rendezvous ein. Auch Fanfan hatte nicht auf sich warten lassen, er war sogar noch vor mir gekommen. Kaum war ich da, so führte er mich in ein apartes Kabinett, und ich sah mich auf einmal vor einem Berge Austern, zwischen zwei Weibern eingeklemmt, von denen die eine bei meinem Anblick in ein schallendes Gelächter ausbrach.

‚Was hat sie denn?‘ rief Fanfan.

‚Ach Gott, nein, das ist ja mein Landsmann!‘

‚Die Landsmännin,‘ rief ich meinerseits, etwas verlegen.

‚Ja, mein Junge, es ist die Landsmännin.‘ Ich wollte mich wegen des bösen Streiches, den sie mir am Tage vorher gespielt hatte, ärgern, aber sie umarmte Fanfan, den sie ihr ‚Karnickel‘ nannte, und begann noch mehr zu lachen, da sah ich ein, daß das beste, was ich tun konnte, war, an der Lustigkeit teilzunehmen.

‚Na!‘ sagte Fanfan, indem er mir ein Glas Weißwein einschenkte und ein Dutzend Austern auflegte, ‚du siehst, man darf nie am Schicksal verzweifeln. Die Schweinshaxen sind noch auf dem Rost, liebst du Schweinshaxen?‘

Ich hatte noch nicht Zeit gehabt zu antworten, als die Schweinshaxen schon aufgetragen waren. Der Appetit, mit dem ich alles verschlang, war so überzeugend, daß Fanfan nicht weiter nach meinem Geschmack zu fragen brauchte. Der Chablis machte mich bald wieder heiter; ich vergaß den Ärger mit meinem Meister, und da mir die Freundin meiner Landsmännin besonders ins Auge stach, machte ich mich an sie heran. So wahr ich Dufailli heiße, sie war zum Anbeißen. Sie gab mir ihre Hand.
[228] ‚Du liebst mich doch?‘ fragte mich Fanchette; so hieß das Mädchen.

‚Ob ich dich liebe …‘

‚Nun, wenn du willst, können wir Mann und Frau werden.‘

‚Wir können gleich mit dem Hochzeitsschmaus anfangen,‘ meinte Fanfan. ‚Ich verheirate dich, mein Junge, hörst du? Küßt euch?‘ und damit drückte er unsere Gesichter aneinander.

‚Armer Schatz,‘ rief Fanchette und gab mir einen zweiten Kuß, diesmal ohne die Hilfe unseres Freundes, ‚sei unbesorgt, ich werde mich deiner annehmen.‘

Ich war im siebenten Himmel; ich verbrachte einen herrlichen Tag. Abends ging ich mit Fanchette schlafen, und sie nahm sich meiner so gut an, daß ich ihr allen Grund gab, auch mit mir zufrieden zu sein.

Meine Erziehung war bald vollendet. Fanchette war stolz darauf, einen Schüler gefunden zu haben, dem ihre Lektionen so gut bekamen und belohnte mich großmütig.

Es war gerade die Zeit, als die Notabelnversammlung stattfand. Die Notabeln waren fette Tauben; Franchette rupfte sie, und wir verzehrten gemeinsam die Mahlzeit. Alle Tage gab es Gelage ohne Ende. Und mein Beutel war immer gespickt!

Fanchette und ich legten uns keine Entbehrung auf. Doch wie kurz sind die Augenblicke des Glückes! … Ach, wie kurz!

Ein Monat dieses herrlichen Lebens war bald vorbei, und dann wurden Franchette und meine Landsmännin verhaftet. Was hatten sie wohl ausgefressen, – ich wußte es nicht; aber böse Zungen munkelten etwas von einer Repetieruhr, und da ich keine Lust hatte, mit der Polizei Bekanntschaft zu machen, so hielt ich es für rätlich, nicht weiter nachzuspüren.

Diese Verhaftung war ein Schlag, auf den wir nicht gefaßt waren; Fanfan und ich waren ruiniert. Fanchette war ein so liebes Ding! Und was sollte nun aus mir ohne Geld werden, [229] sagte ich zu mir; das Wohlleben hat ein Ende: adieu, Austern, Chablis und andere Lebensfreuden! Wäre es nicht besser gewesen, wenn ich an meinem Schraubstock geblieben wäre? Auch Fanfan sehnte sich zu seinen Kuchen zurück.

So gingen wir traurig am Kai entlang, als wir auf einmal von Militärmusik, – zwei Klarinetten, große Trommel und Becken, – aufgerüttelt wurden. Die Menge hatte sich um dieses Orchester versammelt, das auf einem Karren fuhr; darüber wehten Fahnen und Federbüsche in den verschiedensten Farben. Als die Musik zu Ende war, schlugen die Trommler einen Wirbel, und dann erhob sich ein Herr in einem bordierten Rock und entfaltete vor den Augen des Publikums ein großes Papier, auf dem ein Soldat in Uniform gemalt war.

‚Im Namen Seiner Majestät,‘ rief er, ‚komme ich hierher, um den Untertanen des Königs von Frankreich zu erklären, welche Vorteile sie haben, wenn sie sich in die Kolonien aufnehmen lassen. Ihr jungen Leute, ihr habt gewiß schon vom Schlaraffenlande gehört. Nach Indien muß man gehen, um das Schlaraffenland zu finden, dort lebt man in Saus und Braus.

Wollt ihr Gold, Perlen, Diamanten? Dort sind die Straßen damit gepflastert; man braucht sich nur zu bücken, um sie aufzuheben, oder ihr braucht euch nicht einmal zu bücken, die Sklaven heben’s euch auf.

Liebt ihr die Weiber? Dort gibt es welche für jeden Geschmack: zunächst kommen die Negerinnen, die gehören jedermann; dann kommen die Kreolinnen, die selbst weiß sind wie wir, und ganz wild auf weiße Männer sind, und das ist ja nur natürlich, denn im Lande selbst gibt es nur schwarze Männer. Und merkt euch noch eins: jede von ihnen ist reich wie Krösus, was, unter uns gesagt, für eine Heirat nicht übel ist.

Liebt ihr den Wein? Mit dem Wein ist es wie mit den Weibern, man hat dort die verschiedensten Sorten: Malaga, Bordeaux, Champagner und so weiter, und so weiter! Ihr dürft aber nicht erwarten, dort viel Burgunder zu finden; ich will euch nicht [230] täuschen, Burgunder verträgt die Überfahrt nicht, aber verlangt alle anderen Marken der Welt, und man wird glücklich sein, euch aufzuwarten. Und die Früchte … Und die Pferde …‘

Eine geschlagene Stunde malte der Mann die Reize Indiens aus …

‚Der König wird euch kleiden, nähren und euch mit Reichtum überschütten; als Entgelt wird von euch nichts verlangt, nichts: keine Arbeit, guten Sold, gutes Essen, schlafen, solange ihr wollt, und nur einmal im Monat auf dem Paradeplatz exerzieren. Wollt ihr sonst noch etwas? Ein schönes Handgeld? Ihr sollt es kriegen! Aber beeilt euch, ich sage es euch im voraus; morgen vielleicht ist’s schon zu spät, die Schiffe stehen bereit, man wartet nur auf guten Wind, um in See zu stechen … Beeilt euch, Pariser, beeilt euch! … Wenn euch das Wohlleben nicht behagt, dann könnt ihr ja wieder Abschied nehmen; da liegt stets ein Boot im Hafen, um diejenigen, die Heimweh bekommen, nach Europa zurückzubringen. Wer noch nähere Auskunft haben will, der komme zu mir. Ich brauche euch nicht meinen Namen zu sagen, man kennt mich ja ohnehin. Meine Wohnung ist vier Schritte von hier, im Hause des Weinhändlers. Ihr braucht nur nach Belle-Rose zu fragen.‘

Meine Lage brachte es mit sich, daß ich diese Rede mit der größten Aufmerksamkeit anhörte, und sogar jetzt noch, nach fast zwanzig Jahren, kann ich sie Wort für Wort auswendig.

Keinen geringeren Eindruck machte sie auch auf Fanfan. Wir berieten uns schon, als auf einmal ein langer Lümmel, um den wir uns gar nicht gekümmert hatten, Fanfan den Hut vom Kopfe schlug. ‚Ich will dich lehren, Tölpel, mich so von der Seite anzusehen,‘ rief er. Es entstand eine Prügelei. Aber plötzlich drängt sich jemand durch die Menschenmenge – es ist Belle-Rose. Er legt den Streit bei und führt uns zu einer Weinkneipe, wo er uns eintreten heißt.

‚Ich will mich mit euch unterhalten,‘ sagt er, ‚aber ein Mann wie ich muß das Dekorum wahren. Ich will nur meine Uniform [231] ablegen, in einer Minute bin ich wieder bei euch. Verlangt vom Rotgesiegelten und drei Gläser.‘

Und damit verließ er uns. ‚Vom Rotgesiegelten,‘ wiederholte er, sich an uns wendend, ‚vom Rotgesiegelten.‘

Wir richteten Belle-Roses Bestellung pünktlich aus, und er kam auch bald zurück. Wir empfingen ihn entblößten Hauptes.

‚Aber Kinder,‘ rief er, ‚setzt doch die Hüte wieder auf, wir sind ja unter uns, da gibt's keine Zeremonien. Ich setze mich schon. Wo ist das Glas? Ich habe einen verteufelten Durst; ich habe die Gurgel voll Staub …‘

Man aß gut, trank viel. Abends sorgte Herr Belle-Rose für Nachtquartier, und am anderen Morgen, als wir Belle-Rose sahen, war das Frühstück schon bereit, und man wartete auf uns. Um die Versöhnung zu vollenden, war auch der lange Kerl von gestern eingeladen worden.

Bevor wir Platz nahmen, führte Belle-Rose mich und Fanfan zur Seite.

‚Schön, meine Freunde,‘ sagte er zu uns, ‚ihr habt den Kerl Mores gelehrt. Aber wir wollen bis ans Ende vornehm bleiben: ihr vesteht, was ich meine – wir können den Mann doch nicht bezahlen lassen.‘

Bei diesen Worten verdunkelte sich Fanfans Stirn, denn er kannte das Innere unserer Börse.

‚Aber, du meine Güte, macht doch nicht so viel Umstände,‘ setzte Belle-Rose hinzu, der unsere Verlegenheit bemerkte. ‚Wenn ihr nicht bei Kasse seid, sorge ich für alles übrige. Halt, wollt ihr Geld? Wollt ihr dreißig Franken? Sechzig? Unter Freunden geniert man sich nicht,‘ und mit diesen Worten zog er zwölf Taler aus der Tasche, ‚für euch beide! Viel Glück!‘

Fanfan zögerte.

‚Nehmt doch, ihr gebt’s mir wieder, wenn ihr könnt.‘ Man riskierte also nichts, wenn man das Geld nahm. Ich stieß Fanfan mit dem Ellenbogen an, um ihm verständlich zu machen: [232] greife zu! Er begriff den Wink, und wir sackten die Taler ein, ganz gerührt von der Herzensgüte des Herrn Belle-Rose.

Das Essen verlief sehr lustig; man sprach viel von dem Geiz der Eltern, von der Knauserigkeit der Lehrmeister, vom Glück unabhängig zu sein, von den unermeßlichen Reichtümern, die man in Indien zusammenscharrt. Die Namen Kap, Chandernagor, Kalkutta, Pondichery, Tippoo-Saïb wurden geschickt in die Unterhaltung geflochten; man führte Beispiele von kolossalen Vermögen an, die sich junge Leute erworben hatten, – Leute, die Belle-Rose angeworben hatte.

‚Ich will mich nicht rühmen,‘ sagte er, ‚aber ich habe eine glückliche Hand. Ich habe zum Beispiel den kleinen Martin angeworben – jetzt ist er ein Nabob, er wälzt sich auf Gold und Silber. Ich wette, er ist stolz geworden; er würde mich vielleicht gar nicht wiedererkennen, wenn er mich sähe. Ja, ja, ich habe schon verdammt viel Undank in meinem Leben gehabt! Was wollt ihr? Das ist nun einmal so der Lauf der Welt!‘

Das Tafeln währte lange … Beim Dessert brachte Belle-Rose die Rede auf die schönen Früchte der Antillen; beim Wein ließ er den herrlichen Kapwein leben, beim Kaffee begeisterte er sich für den Martinique-Kaffee; als man den Kognak brachte, sagte er mit einer Grimasse: ‚Das ist reiner Fusel im Vergleich zu dem Kolonialbranntwein oder gar gegen Jamaicarum!‘ Und als man Likör einschenkte, meinte er: ‚Das läßt sich noch trinken, aber es ist doch nur ein elendes Gesöff im Vergleich zu den Likören der berühmten Madame Ansous.‘

Herr Belle-Rose saß zwischen Fanfan und mir. Während des Essens trug er die zärtlichste Sorge um uns. Es war immer dasselbe Lied: ‚Trinkt doch, Freunde, trinkt!‘ und er füllte immer wieder die Gläser. ‚Wie komme ich zu solchen alten Weibern, wie ihr seid? Vorwärts, die Kehle feucht! Seht, wie ich’s mache!‘

Diese Aufmunterungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Wir waren beide schon saubesoffen, besonders Fanfan.
[233] ‚Herr Belle-Rose, ist es noch weit von den Kolonien, Chambernager, Sering-a-Patame? Ist es noch weit?‘ wiederholte er von Zeit zu Zeit, denn er glaubte, wir wären schon zu See, so sehr schwankte ihm alles vor den Augen.

‚Nur Ruhe!‘ antwortete Belle-Rose, ‚wir kommen noch hin. Einstweilen will ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Eines Tages, als ich am Hause des Gouverneurs Wache hielt …‘

‚Eines Tages, als er Gouverneur war …‘ wiederholte Fanfan.

‚So schweige doch,‘ rief Belle-Rose und legte ihm die Hand auf den Mund; ‚damals war ich erst simpler Soldat,‘ fuhr er fort: ‚Ich saß also ruhig vor meinem Schilderhäuschen auf einem Sofa, als der Neger, der mein Gewehr trug … Ihr müßt nämlich wissen, daß in den Kolonien jeder Soldat je einen Sklaven und eine Sklavin hat; ihr könnt mit ihnen machen, was ihr wollt, und folgen sie euch nicht, so dürft ihr sie totschlagen wie die Fliegen. Mit den Frauen ist es freilich etwas anderes, die kann man zu was Besserem brauchen … Ich stand also, wie gesagt, auf Posten; mein Sklave trug mein Gewehr …‘

Belle-Rose hatte kaum das Wort geendet, als ein Soldat in voller Uniform in das Zimmer trat und ihm einen Brief überreichte, den er eilig öffnete.

‚Es ist vom Marineminister,‘ sagte er, ‚der Dienst des Königs ruft mich nach Surinam. Schön, wir fahren also nach Surinam! Verdammt,‘ rief er, zu Fanfan und mir gewandt, ‚das ist wirklich schade, ich dachte nicht, daß ich euch sobald würde verlassen müssen! Aber man darf nie die Rechnung ohne den Wirt machen. Na, schließlich ist’s ja egal.‘

Dann nahm Belle-Rose das Glas in die rechte Hand und schlug auf den Tisch. Während die anderen Gäste verdufteten, kam ein Dienstmädchen herbeigeeilt.

‚Die Rechnung! Und der Wirt soll kommen!‘
[234] Der Wirt kam mit der Rechnung.

‚Erstaunlich, wie das ins Geld geht!‘ rief Belle-Rose, ‚hundertneunzig Livres, zwölf Sous, sieben Heller! Halt! Was, Nivet, Sie wollen uns bei lebendigem Leibe schinden? Da kommt gleich ein Punkt, den ich Ihnen nicht durchlassen kann: vier Zitronen – achtzig Sous. Wir hatten nur drei, also das geht ab. Verdammt, Herr Nivet, Sie setzen mich in Staunen. Sieben Schälchen Kaffee, wir waren ja nur sechs. Ich bin überzeugt, daß ich noch ähnliche Irrtümer entdecken werde … Spargel, achtzehn Livres, das ist aber ein starkes Stück!‘

‚Wir sind ja im April,‘ meinte Nivet, ‚es sind die ersten!‘

‚Auch wahr, also weiter: Erbsengemüse, Artischoken, Fische. Der Fisch ist doch im April nicht teurer als zu anderen Zeiten, also sehen wir uns den Preis an … vierundzwanzig Livres … dagegen läßt sich nichts sagen … Was den Wein betrifft, so stimmt’s auch … Und nun macht’s im ganzen … setze Null, behalte eins, macht drei … Die Summe stimmt, zwölf Sous gehen ab, dann noch sechs Heller, bleibt hundertneunzig Livres. Hab' ich Kredit auf die Summe, Herr Nivet? …‘

‚Oh,‘ antwortete der Wirt, ‚gestern wohl, aber nicht mehr heute … Solange Sie auf dem Lande sind, Kredit soviel Sie wollen, aber seid ihr einmal in eurem Kasten, wo soll ich euch dann suchen? In Surinam? Zum Henker mit diesen Übersee-Ländern! … Ich will mein Geld haben, und lasse Sie nicht aus dem Haus, bevor Sie meine Forderung nicht beglichen haben. Sonst lasse ich die Polizei holen, und dann …‘

Herr Nivet entfernte sich scheinbar sehr aufgebracht.

‚Von diesem Mann ist alles zu erwarten,‘ sagte Belle-Rose zu uns, ‚aber ich habe eine Idee, große Verlegenheiten bringen große Rettungsmittel. Sie wollen doch gewiß genau so wenig wie ich vor die Polizei gebracht werden … Der König zahlt jedem Rekruten hundert Frank, ihr seid zu zweit; das macht also zweihundert Frank … Ihr unterschreibt den Kontrakt, ich [235] hole rasch das Geld, komme zurück und löse euch aus. Was sagt ihr dazu?‘

Wir schwiegen. ‚Was! Ihr zögert? Ich habe eine bessere Meinung von euch gehabt, ich, der ich mir die Beine für euch ausgerissen habe … und schließlich macht ihr doch kein schlechtes Geschäft dabei … Gott, ich wollte, ich wäre so jung wie ihr und hätte meine jetzige Erfahrung! … Wenn man jung ist, ist man immer im Vorteil. Also!‘ rief er, indem er uns ein Papier vorlegte, ‚jetzt heißt’s Geld machen, setzt eure Namen hier unten hin …‘

Herr Belle-Rose hatte es auf einmal sehr eilig, und unsere Scheu vor der Polizei war so groß, daß wir unterzeichneten.

‚Famos!‘ rief er, ‚jetzt zahle ich. Wenn ihr’s bereut, so ist immer noch Zeit, ihr braucht nur das Geld zurückzuzahlen. Aber dazu wird’s wohl nicht kommen … Nur Geduld, meine Freunde, ich komme sofort wieder.‘

Belle-Rose ging hinaus, aber bald sahen wir ihn zurückkehren.

‚Noch eins!‘ rief der Werber. ‚Da ihr so gut empfohlen seid, so wird es euch gewiß nicht an Neidern fehlen; beim Militär gibt es ebensoviel Neider wie irgendwo anders … aber wißt, wenn man euch nur ein Haar krümmt, so hat man’s mit mir zu tun … Habe ich einen unter meine Protektion genommen … na, Schluß! Schreibt mir recht oft!‘

‚Wie!‘ rief Fanfan, ‚fahren Sie denn nicht mit uns?‘

‚Leider, nein,‘ antwortete Belle-Rose. ‚Der Minister bedarf meiner noch. Ich hole euch in Brest ein. Morgen um acht erwarte ich euch hier, aber nicht später; heute kann ich keine Zeit mehr mit euch verlieren. Der Dienst ruft. Also auf morgen!‘

Am nächsten Morgen waren wir schon um halb acht zur Stelle, da uns die Wanzen unseres Logis früh weckten.

‚Es lebe die Pünktlichkeit!‘ rief Belle-Rose, ‚ich bin ebenfalls pünktlich.‘ Dann setzte er in einem strengeren Ton fort: ‚Wenn ihr Freunde oder Verwandte habt, so müßt ihr heute noch [236] von ihnen Abschied nehmen. Hier ist eure Marschroute; ihr bekommt drei Sous pro Meile, Logis, Feuerung und Licht. Ihr könnt die Etappen nach Belieben wählen; das geht mich nichts an, aber denkt daran, wenn euch morgen abend jemand noch in Paris sieht, so werdet ihr per Schub nach eurem Bestimmungsort gebracht!‘

Diese Drohung nahm uns allen Mut. Die Suppe war nun einmal eingebrockt, wir mußten sie auslöffeln. Wir fügten uns. Der Weg führte von Paris schnurgerade nach Brest; wir machten unsere zehn Meilen täglich. Endlich waren wir in Brest; unterwegs hatten wir tausendmal den Herrn Belle-Rose verflucht. Einen Monat später wurden wir eingeschifft. Zehn Jahre später, auf den Tag genau, wurde ich Korporal und Fanfan Gefreiter. Er krepierte später auf San Domingo während der Expedition von Leclerc an einem Neger-Aussatz – er war ein famoses Huhn. Was mich betrifft, so bin ich noch gut dran; der Kasten hält sich gut, und wenn es keine Zwischenfälle gibt, hoffe ich euch alle noch einzusargen. Ich habe viel in meinem Leben durchgemacht, bin von einer Kolonie in die andere geworfen worden, und nicht immer kam ich gut dabei weg. Ich habe mich überall herumgewälzt, aber ganz egal – die Kinder der Freude sterben nie aus … Und dann … gibt’s keine mehr, so gibt es hier noch etwas …“ und damit schlug der Sergeant Dufailli auf die Taschen seiner abgetragenen Uniform, hob die Weste auf und zeigte uns eine vollgepfropfte Geldkatze. „Ich sage euch, es gibt noch Butter im Faß, und zwar recht gelbe …“