Landstreicherleben/Zinnerne Schlüssel

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[105]
Sechstes Kapitel


Zinnerne Schlüssel


Ich fand im „Kleinen Hotel“, wie wir das Gefängnis nannten, den größten Teil der Gefangenen wieder, welche ich vor meiner Entweichung hatte in Freiheit setzen sehen. Einige hatten sozusagen nur einen kleinen Ausflug gemacht. Sie waren unter der Beschuldigung neuer Verbrechen und neuer Vergehen verhaftet worden. Auf den Ruf hin, den mir meine verschiedenen Entweichungen eingebracht hatten, behandelten mich diese Menschen als einen Mann, auf den man sich verlassen könnte. Ich andererseits konnte mich nun auch nicht von ihnen fernhalten.

Ich saß in einer Zelle im zweiten Stock, zusammen mit einem gewissen Duhamel. Für sechs Frank verschaffte uns der Gefangene, der die Dienste des Schließers versah, zwei Sägen, einen Meißel und zwei Zangen. Wir hatten zinnerne Löffel: wahrscheinlich wußte der Gefängniswächter nicht, welchen Gebrauch die Gefangenen davon machen können. Ich wußte, daß der Schlüssel für alle Zellen auf unserer Etage derselbe war; nun machte ich mir aus einer großen Mohrrübe ein Modell des Schlüssels, dann verfertigte ich aus weichem Brot und Kartoffeln eine Gießform. Wir brauchten Feuer; dies verschafften wir uns, indem wir uns aus einem Stück Speck und den aus einer baumwollenen Mütze gemachten Dochten eine Lampe herstellten. Endlich wurde der Schlüssel in Zinn gegossen; [106] er paßte noch nicht; erst nach mehreren Versuchen und zahlreichen Nachfeilungen konnte er unseren Zwecken dienen.

Nun waren wir Herren der Tür; es blieb uns nur noch übrig, ein Loch in der Mauer zu machen, die an den Speicher des Gefängnisses stieß. Ein gewisser Sallambier, der die letzte Zelle auf der Etage innehatte, fand ein Mittel, dieses Loch herzustellen: er durchschnitt eine der Bohlen. Alles war nun zur Flucht bereit, sie sollte am Abend stattfinden, – da kam der Schließer und brachte mir die Nachricht, daß meine Haft in der Zelle zu Ende sei, ich würde nun mit den anderen zusammengesperrt werden.

Wohl nie wurde eine Gnade mit weniger Enthusiasmus aufgenommen, als diese. Alle meine Vorbereitungen waren also nichtig, und ich konnte wohl lange warten, bis eine so günstige Gelegenheit sich wieder bot. Ich mußte jedoch gute Miene zum bösen Spiel machen, und so folgte ich dem Schließer, den ich mitsamt seiner Gratulation zum Teufel wünschte. Diese Wendung versetzte mich in eine so gereizte Stimmung, daß alle Gefangenen es merkten. Einer von ihnen, dem ich den Grund meiner Niedergeschlagenheit anvertraute, machte mich ganz richtig darauf aufmerksam, welche Gefahr ich liefe, wenn ich mit Menschen wie Sallambier und Duhamel entflohen wäre, Menschen, die vielleicht keine vierundzwanzig Stunden abgewartet hätten, um wieder einen Mord zu begehen. Er redete mir zu, sie allein ziehen zu lassen und auf eine andere Gelegenheit zu warten. Ich folgte seinem Rat, und das bekam mir wohl. Ich trieb die Vorsicht sogar so weit, daß ich dem Duhamel und Sallambier sagen ließ, man schöpfe gegen sie Verdacht, so daß sie keinen Augenblick zu verlieren hätten, um zu fliehen. Sie nahmen den Rat buchstäblich, und zwei Stunden später waren sie bereits bei einer Räuberbande. Die Bande bestand aus siebenundvierzig Personen, von denen achtundzwanzig den folgenden Monat zu Brügge hingerichtet wurden.

Die Flucht von Duhamel und Sallambier machte viel Aufsehen [107] im Gefängnis, und selbst in der Stadt. Man fand die Umstände geradezu außerordentlich; aber, was dem Schließer am auffallendsten erschien, war, daß ich mich nicht mit dabei befand. Zunächst mußte der Schaden wieder gutgemacht werden: Arbeiter kamen, und unten an der Treppe wurde eine Schildwache aufgestellt, die niemand herein- und herauslassen sollte. Da kam mir der Gedanke, gerade den Vorsichtsmaßregeln zum Trotz, das Loch zu benutzen, das zu meiner Flucht dienen sollte.

Francine, die mich jeden Tag besuchte, brachte mir drei Ellen dreifarbiges Band, das ich sie für mich kaufen ließ. Aus einem Stücke mache ich mir eine Schärpe, mit dem Reste schmücke ich mir den Hut und gehe, so geschmückt, an der Schildwache vorbei, die mich für einen Munizipaloffizier hält und das Gewehr präsentiert. Ich gehe rasch die Treppe hinauf. Wie ich an der Öffnung anlange, finde ich sie von zwei Schildwachen besetzt: die eine ist im Speicher, die andere im Korridor postiert. Ich sage zu demeinen wachthabenden Soldaten, es sei ganz unmöglich, daß ein Mann durch diese Öffnung hätte hindurchschlüpfen können, er behauptet das Gegenteil. Ich lasse mich nicht überzeugen, da meint sein Kamerad, ich könnte sogar in voller Kleidung durchkommen. Ich will’s versuchen; ich gleite durch die Öffnung und befinde mich im Speicher. Ich tue, als ob ich mir dabei weh getan hätte und sage, daß ich mich gleich auf mein Zimmer begeben will.

„Warten Sie einen Augenblick,“ sagt der Soldat im Speicher, „ich will Ihnen die Tür aufmachen.“

Er dreht wirklich den Schlüssel im Schloß um, in zwei Sprüngen bin ich die Treppe hinunter und auf der Straße, noch immer mit meinen dreifarbigen Bändern geschmückt, derentwegen ich gewiß von neuem verhaftet worden wäre, wenn nicht schon Abenddämmerung geherrscht hätte.

Kaum bin ich draußen, als der Gefängniswärter, der mich nie aus den Augen verlor, ruft: „Wo ist Vidocq?“ Man antwortet [108] ihm, ich mache einen Spaziergang im Hofe; er will sich selbst davon überzeugen, sucht mich umsonst, schreit in jedem Winkel des Hauses nach mir, bekommt aber keine Antwort. Eine offizielle Haussuchung hatte auch nicht mehr Erfolg. Kein Gefangener hatte mich gesehen. Man mußte bald annehmen, daß ich mich nicht mehr im Gefängnis befand, aber wo war ich geblieben. Niemand wußte es, nicht einmal Francine, die mit der größten Unbefangenheit von der Welt erklärte, sie wisse nicht, wo ich stecke, denn sie habe mir das Band gebracht, ohne zu ahnen, zu welchem Zwecke ich es gebrauchte. Sie wurde trotzdem in Haft genommen, aber diese Maßregel nützte nichts; die Soldaten, die mich herausgelassen hatten, hüteten sich wohl, sich ihrer Heldentat zu rühmen.

Unterdessen verließ ich die Stadt und gelangte nach Courtrai. Da nahmen mich der Taschenspieler Oliver und der Seiltänzer Devoye in ihre Truppe auf, und ich spielte in der Pantomime mit. Da traf ich auch einige entsprungen Sträflinge wieder: ihre auffallende Kleidung, die sie immer trugen, aus dem einfachen Grunde, weil sie keine andere besaßen, diente großartig dazu, die Polizei auf ihre Spur zu lenken. Von Courtrai gingen wir nach Gent und von da zogen wir zur Messe nach Enghien. In Enghien waren wir schon den fünften Tag, und die Einnahme, die auf meinen Teil fiel, war reichlich, – da wurde ich eines Abends, in dem Moment, als ich die Bühne betreten wollte, von Polizeiagenten verhaftet: der Hanswurst der Truppe hatte mich aus Neid denunziert.

Man brachte mich wieder nach Lille, und dort erfuhr ich zu meinem lebhaften Bedauern, daß die arme Francine zu einem halben Jahre Gefängnis verurteilt worden war wegen Beihilfe zur Flucht. Der Schließer Baptist, dessen ganzes Verbrechen darin bestand, daß er mich für einen höheren Offizier gehalten und mich respektvoll aus dem Tor herausgehen hatte lassen, – der unglückliche Baptist wurde wegen des gleichen Verbrechens ebenfalls eingelocht. [109] Ich wurde in das Departementgefängnis zu Douai eingeliefert, wo man mich in die Liste der gefährlichen Verbrecher eintrug, das heißt, ich wurde an Händen und Füßen gefesselt ins Gefängnis gesetzt. Dort traf ich meinen Landsmann Desfosseux und einen jungen Mann Doyenette, der zu sechzehn Jahren Zuchthaus verurteilt war: er war angeklagt gewesen, in Gemeinschaft mit seinem Vater, seiner Mutter und zwei Brüdern unter fünfzehn Jahren einen Einbruchsdiebstahl begangen zu haben. Sie befanden sich schon seit vier Monaten in dem Kerker, in den ich nun gesetzt wurde; ihr Lager bestand aus Stroh, das von Ungeziefer zerfressen war, die Nahrung bildeten Brot, Bohnen und Wasser. Zunächst ließ ich also Lebensmittel kommen, die im Nu auch verschlungen waren. Dann sprachen wir von Geschäften, und meine Tischgenossen eröffneten mir, daß sie seit vierzehn Tagen an einem Loch unter dem Boden des Kerkers gruben; dieses Loch sollte zur Scarpe führen, die an den Mauern des Gefängnisses vorbeifließt. Mir kam das Unternehmen zunächst recht schwierig vor: man mußte eine Mauer von fünf Fuß Dicke durchbrechen, ohne den Verdacht des Gefängniswärters zu erwecken, der bei seinen häufigen Besuchen auch nicht die geringste Spur von Schutt sehen durfte.

Wir beseitigten dieses erste Hindernis, indem wir jede Handvoll Erde oder Kalk, die wir ausgruben, durch das vergittere Fenster in die Scarpe warfen. Außerdem hatte Desfosseux ein Mittel gefunden, unsere Fesseln zu lösen, und so arbeiteten wir mit viel weniger Anstrengung und Mühe. Einer von uns befand sich stets in dem Loch; es war schon groß genug, um einen Menschen aufzunehmen. Wir glaubten bereits, so gut wie am Ende unserer Arbeit und unserer Gefangenschaft zu sein, als wir bei näherer Untersuchung fanden, daß das Fundament nicht, wie wir angenommen hatten, aus einfachen Steinen, sondern aus festen Sandsteinblöcken gemauert war. Dieser Umstand zwang uns, den unterirdischen Gang zu vergrößern, eine Woche lang arbeiteten wir ohne Pause. Um den Wächter, der die [110] Runde machte, zu täuschen, pflegten wir Rock und Hose desjenigen, der sich gerade beim Graben befand, mit Stroh auszustopfen und die Puppe in die Lage eines schlafenden Menschen hinzulegen.

Nach fünfundfünfzig Tagen und ebenso vielen Nächten unglaublichster Arbeit waren wir endlich dem Ziele nah. Es blieb uns nur noch übrig, einen Stein vom Platze zu verrücken, und wir mußten am Ufer des Flusses sein. Alles schien uns zu begünstigen, der Wärter hatte seine Runde früher als sonst gemacht, und ein dichter Nebel gab uns die Gewißheit, daß die Brückenpatrouille uns nicht erblicken würde. Der lockergemachte Stein gibt unseren Kräften nach und fällt in die Tiefe, aber im selben Moment stürzt, wie von der Schleuse an einer Mühle befreit, das Wasser herein.

Wir hatten die Entfernungen schlecht berechnet. Unser Loch befand sich einige Fuß unter dem Wasserspiegel des Flusses. In wenigen Augenblicken war es überschwemmt. Wir wollten zuerst selbst in die Öffnung tauchen, aber die starke Strömung hinderte uns daran. Wir sehen uns schließlich gezwungen, selbst um Hilfe zu rufen, um nicht die ganze Nacht unter Wasser zu bleiben. Auf unser Geschrei kamen der Pförtner und die Schließer herbeigelaufen; sie waren starr vor Verwunderung, als sie uns bis an die Knie im Wasser stehen sahen. Bald war alles aufgeklärt, die Zelle wurde repariert, und uns sperrte man auf neue Art ein. Man kettete uns drei so zusammen, daß die geringste Bewegung des einen den beiden anderen fürchterliche Schmerzen verursachte.

Diese Katastrophe gab mir Veranlassung zu höchst traurigen Betrachtungen, aber die Stimme Desfosseux’ entriß mich ihnen bald. Er sagte mir im Argot, daß wir nicht verzweifeln sollten, ich solle mir an ihm ein Beispiel nehmen und Mut fassen. Freilich, dieser Desfosseux besaß eine Charakterstärke, die nichts niederdrücken konnte. Halbnackt, aufs kahle Stroh geworfen, in einem Loch, in dem man kaum liegen konnte, dreißig [111] Pfund Ketten am Leibe – sang er noch aus vollem Halse und dachte an nichts, als an neue Mittel, zu entkommen. Die Gelegenheit dazu ließ nicht lange auf sich warten.

Wie viele Zuchthäusler, trug er stets im After ein Etui mit Feilen. Mit diesen Werkzeugen ausgerüstet, machte er sich an die Arbeit, und in weniger als drei Stunden fielen unsere Ketten – wir warfen sie zum Fenster hinaus in den Fluß. Der Wächter, der gekommen war, um nachzusehen, ob wir uns ruhig verhalten, fiel beinahe um, als er uns ohne Fesseln sah. Er fragt, was wir mit den Ketten gemacht hätten, wir antworten mit Scherzen. Gleich darauf kommt der Gefängnisinspektor in Begleitung eines Gerichtsdieners namens Hurtrel. Er stellt ein neues Verhör an, Desfosseux verliert die Geduld und ruft:

„Sie fragen, wo die Ketten sind? … Tja! Die Würmer haben sie gefressen, und werden alle fressen, die Sie uns anlagen werden! …“

Der Gefängnisinspektor merkte, daß wir das Kräutlein „Eisenschneid“ besitzen, das noch kein Botaniker je entdeckt hat, ließ uns entkleiden und suchte uns von Kopf bis zu den Zehen ab. Dann legte man uns neue Ketten an, aber auch diese wurden auf dieselbe Art in der nächsten Nacht durchfeilt – denn das kostbare Etui war nicht gefunden worden. Diesmal machten wir uns sogar das Vergnügen, sie in Gegenwart des Inspektors und Hurtrels abzustreifen; sie wußten gar nicht, was sie denken sollten. Selbst in der Stadt verbreitete sich das Gerücht; im Stadtgefängnis säße ein Zauberer, der durch bloße Berührung Ketten zu sprengen vermöge. Um all diesem Gerede, das auch die anderen Gefangenen auf den Gedanken bringen konnte, sich ihrer Ketten zu entledigen, ein Ende zu machen, ordnete der Staatsanwalt an, uns in Einzelhaft zu schließen und mit einer besonderen Sorgfalt zu bewachen; diese Anordnung hinderte uns jedoch nicht, Douai früher zu verlassen, als er und selbst wir es erwartet hatten. [112] Zweimal wöchentlich durften wir uns mit unseren Advokaten beraten. Das fand in einem Korridor statt, dessen eine Tür zum Gerichtshof führte. Ich fand Gelegenheit, mir einen Schlüsselabdruck von dieser Tür zu verschaffen. Desfosseux stellte einen Schlüssel her, und eines schönen Tages, als mein Advokat sich gerade einem anderen Gefangenen widmete, der wegen Doppelmordes angeklagt war, spazierten wir alle drei unbemerkt zur Tür hinaus. Zwei andere Türen, den wir begegneten, waren im Nu eingeschlagen, und bald war das Gefängnis weit hinter uns. Aber mich beunruhigte eins: unser ganzes Vermögen bestand aus sechs Franken, und ich sah keine Möglichkeit, mit diesem Schatz sehr weit zu kommen. Ich sage es meinen Kameraden, sie sehen mich mit einem finsteren Lächeln an. Ich wiederhole meine Frage, sie gestehen mir, daß sie in der folgenden Nacht in einem Landhaus in der Nähe, das sie genau kennen, einbrechen wollen.

Das war nun nicht mein Fall. Ich hatte mir Desfosseux’ Geschicklichkeit wohl zugute kommen lassen, um dem Gefängnis zu entkommen, aber ich war weit davon entfernt, mich an einem solchen Verbrechen zu beteiligen. Aber ich hielt es für besser, nichts zu erwidern. Am Abend befanden wir uns in der Nähe eines Dorfes auf dem Wege nach Cambrai. Wir hatten seit dem Frühstück im Gefängnis nichts genossen, und der Hunger wurde quälend. Es mußten im Dorfe Lebensmittel aufgetrieben werden. Der Anblick meiner halbnackten Gefährten konnte leicht Verdacht erwecken; so wurde ausgemacht, daß ich auf Proviant ausgehen sollte. Ich begebe mich in eine Herberge, kaufe Brot und Branntwein und gehe zu einer anderen Tür hinaus. Ich verschwinde nach der entgegengesetzten Seite zu jener, wo sich meine beiden Gefährten befinden, und bin sie auf diese Weise los. Ich marschiere die ganze Nacht und mache erst gegen Morgen halt, um in einem Heuschober ein paar Stunden zu schlafen.

Vier Tage später war ich in Compiègne. Ich näherte mich [113] immer mehr Paris, wo ich Lebensmöglichkeiten zu finden hoffte, denn ich glaubte, daß meine Mutter mir bald etwas Geld schicken würde. In Louvre begegnete ich einer Abteilung schwarzer Husaren und fragte den Quartiermeister, ob es nicht möglich sei, in ihren Dienst einzutreten. Er antwortete nein, aber der Leutnant war von meiner Lage gerührt und bot mir die Stellung eines Stallknechts für die Pferde, die er in Paris kaufen sollte, an. Ich nahm bereitwillig an. Unter der neuen Uniform versteckt, verloren in den Reihen eines zahlreichen Regiments, wiegte ich mich in Sicherheit und dachte schon daran, meine Laufbahn als Militär zu machen, aber ein unglücklicher Zufall stürzte mich wieder in den Abgrund.

Als ich eines Morgens in mein Quartier zurückkehrte, begegnete ich einem Gendarmen, der aus Douai nach Guise versetzt worden war. Er hatte mich so oft und so ausgiebig gesehen, daß er mich auf den ersten Blick erkannte und mich anrief. Wir befanden und mitten in der Stadt, an eine Flucht zu denken war unmöglich. Ich gehe auf ihn zu, grüße ihn und tue, als ob ich entzückt sei, ihn zu sehen. Er erwidert meine Zutunlichkeit, aber mit einer sauren Miene, die nichts Gutes verspricht. Unterdessen kommt ein Husar aus meiner Eskadron vorbei, sieht mich mit dem Gendarmen sprechen und ruft mir zu:

„Nanu, Lannoy, was hast du mit dem Gendarmen zu tun?“

„Lannoy?“ fragt der Gendarm erstaunt.

„Ja, das ist mein Kriegsname.“

„Das wollen wir doch erst abwarten,“ ruft er und packt mich am Schlafittchen. So muß ich ihm folgen. Meine Identität wird festgestellt, und ich werde nach Douai abgeschoben.

Dieser letzte Schlag drückte mich völlig nieder. Das einzige, was mich noch einigermaßen trösten konnte, war, daß ich mich von Desfosseux und Doyenette getrennt hatte. Sie wurden vier Tage nach unserer Flucht wieder verhaftet. Man fand bei ihnen noch Sachen, die von einem Einbruchsdiebstahl bei einem Händler in Pont-à-Marcq herrührten. Bald sah ich sie [114] wieder; als sie ihr Erstaunen über mein plötzliches Verschwinden ausdrückten, sagte ich, ich wäre in der Herberge einem Gendarmen begegnet, so daß ich mich aus dem Staube hätte machen müssen. So waren wir wieder vereinigt und schmiedeten von neuem Fluchtpläne.

Eines Abends sahen wir einen Transport Arrestanten ankommen, von denen vier in dasselbe Zimmer mit uns gesetzt wurden. Dies waren die Brüder Duhesme, reiche Landwirte aus Bailleul. Sie hatten den besten Ruf genossen, bis ein Zufall ihr Leben ins wahre Licht setzte. Diese vier Individuen, riesenstarke Gesellen, standen an der Spitze eine Räuberbande, die der Schrecken der Gegend war, ohne daß man jedoch ihre Mitglieder hätte entdecken können. Durch das Geschwätz der kleinen Tochter eines der Duhesme kam endlich das Pulverfaß zum Explodieren. Das Kind unterhielt sich mit einer Nachbarin und sagte, sie hätte vergangene Nacht große Angst ausgestanden.

„Warum denn?“ fragte die Nachbarin etwas neugierig.

„Ach, Papa war da mit den schwarzen Männern.“

„Was sind das für schwarze Männer?“

„Das sind die Männer, die oft mit Papa in der Nacht weggehen … und dann kommen sie am Tage wieder und zählen das Geld auf die Bettdecke auf … Mama leuchtet mit einer Laterne, und Tante Geneviève auch, denn meine Onkel sind mit den schwarzen Männern. Ich fragte mal Mama, was das zu bedeuten hätte … da sagte sie: sei schön still, mein Kind, Papa hat eine schwarze Henne, die ihm Geld bringt, aber nur in der Nacht; um sie nicht zu verscheuchen, muß man sich das Gesicht so schwarz machen wie ihr Gefieder. Aber sei artig, wenn du jemandem erzählst, was du gesehen hast, wird die schwarze Henne nicht mehr kommen …“

Die Nachbarin teilte ihre Vermutungen ihrem Manne mit, dieser fragte seinerseits die Kleine aus, und die Polizei wurde benachrichtigt … [115] Der jüngste von den Duhesme trug in seiner Schuhsohle eine Messerklinge, die er während des Transports von Bailleul nach Douai dort versteckt hatte. Da er hörte, daß ich im Gefängnis sozusagen zu Hause war, teilte er mir sein Geheimnis mit und fragte mich, ob wir nicht einen Fluchtversuch wagen könnten. Ich überlegte mir das noch, als der Friedensrichter mit einigen Gendarmen erschien und in meiner Zelle eine strenge Durchsuchung und eine Leibesvisitation vornehmen ließ. Niemand von uns wußte den Grund davon, aber ich hielt es für ratsam, eine kleine Feile, die ich bei mir hatte, im Munde zu verstecken. Einer der Gendarmen hatte aber meine Bewegung bemerkt und rief: „Er verschluckt es gerade!“

Was war das? Alle sehen sich um, und da erfahren wir, daß man ein Petschaft sucht, das zum Siegeln eines unterschobenen Befreiungsbefehls gedient hatte. Da der Verdacht auf mich fiel, wurde ich in das Gefängnis des Stadthauses geworfen. Hier wurde ich so gefesselt, daß meine rechte Hand am linken Bein, und meine linke Hand am rechten Bein festgebunden war. Das Gefängnis war so feucht, daß das Stroh, auf das man mich geworfen hatte, in zwanzig Minuten naß wurde, als ob es aus dem Wasser gezogen sei.

Ich blieb acht Tage in dieser entsetzlichen Lage. Endlich entschloß man sich, mich ins gewöhnliche Gefängnis zurückzubringen. Man hatte eingesehen, daß ich das Petschaft nicht verschluckt haben konnte, ohne es auf gewöhnlichem Wege wieder von mir geben zu müssen. Als ich diese Nachricht vernahm, stellte ich mich, wie man in solchen Fällen immer zu tun pflegt, sehr schwach. Ich konnte kaum das Tageslicht ertragen. Die ungesunde Luft des Kerkers ließ eine solche Schwäche sehr natürlich erscheinen. Die Gendarmen gingen auch richtig auf den Leim. Sie trieben die Gefälligkeit so weit, daß sie mir die Augen mit einem Taschentuch bedeckten. Wir fuhren in einem geschlossenen Wagen. Unterwegs reiße ich das Tuch herunter, öffne mit grenzenloser Flinkheit den Schlag und springe auf [116] die Straße. Die Gendarmen wollen mir nachspringen, verwickeln sich aber in ihren Säbeln und Schaftstiefeln, und sind erst aus dem Wagen gestiegen, als ich schon einen bedeutenden Vorsprung hatte. Ich schleiche mich sofort aus der Stadt und erreiche bald mit dem Geld, das ich von meiner Mutter vor kurzem erhielt, Dünkirchen. Ich hatte die Absicht, mich einzuschiffen und machte auch bald die Bekanntschaft des Superkargos einer schwedischen Brigg, der mir versprach, mich an Bord zu nehmen.

In Erwartung der Abfahrt, schlug mir mein neuer Freund vor, ihn nach Saint-Omer zu begleiten, wo er eine Partie Zwieback kaufen wollte. Unter meinen Seemannskleidern fühlte ich mich geborgen. Ich mache die Reise mit. Aber mein heftiger Charakter läßt mich bei einer Rauferei in einer Herberge nicht bloßer Zuschauer bleiben. Ich werde als Ruhestörer verhaftet und auf die Wache gebracht. Dort verlangt man meine Papiere, ich habe keine, da meine Antworten vermuten lassen, daß ich aus irgendeinem Gefängnis geflüchtet sei, werde ich am nächsten Tage nach Douai abgeschoben, ohne daß ich auch nur von meinem Vorgesetzten Abschied nehmen kann. – Der muß sich schön gewundert haben!

In Douai werde ich von neuem ins Gefängnis eingeliefert. Infolge eines Streites mit den Schließern, währenddessen ich zu aktiv eingriff, wurde ich in ein dunkles Loch geworfen, das unter dem Stadtturm lag. Es waren unser dort fünf Mann. Der eine, ein zum Tode verurteilter Deserteur, sprach nur von Selbstmord. Ich redete ihm zu, lieber nach Mitteln zu suchen, um aus diesem entsetzlichen Kerker zu entkommen, wo die Ratten wie die Kaninchen in einem Gehege umherliefen, unser Brot wegfraßen und in der Nacht an uns herumnagten.

Wir hatten einem Soldaten der Nationalgarde, die im Gefängnis den Dienst versah, das Bajonett gemaust; damit begannen wir, in der Mauer ein Loch zu graben. Wir gruben in der Richtung, wo wir einen Schuster auf seine Leisten schlagen [117] hörten. In zehn Tagen und zehn Nächten waren wir sechs Fuß vorgedrungen, – das Klopfen des Schusters kam immer näher. Am elften Tage, morgens, schob ich einen Backstein beiseite und sah das Tageslicht. Das Licht kam von einem Fenster, das auf die Straße ging und den Kaninchenstall des Pförtners beleuchtete; der Stall grenzte an unseren Kerker.

Diese Entdeckung verlieh uns neue Kräfte. Als die Abendkontrolle vorbei war, schafften wir alle bereits losgelösten Steine aus dem Loch; das können etwa zwei Wagen voll gewesen sein. Wir legten die Steine vor die Tür, die nach innen aufging, so daß die Tür verbarrikadiert wurde. Dann machten wir uns mit so viel Eifer an die Arbeit, daß wir bei Tagesanbruch ein Loch von sechs Fuß Tiefe hatten, das nur noch zwei Fuß von seinem Ziel entfernt war. Aber, da kam auch schon der Wärter mit den Rationen. Als die Tür nicht aufgehen wollte, schaute er durch das Guckloch und erblickte zu seiner maßlosen Verwunderung den Steinhaufen. Er forderte uns auf, zu öffnen, wir weigerten uns. Die Wache kam, dann der Gefängnisinspektor, dann der Staatsanwalt, dann die Munizipaloffiziere in ihren dreifarbigen Bändern. Man unterhandelte, währenddessen arbeitete einer von uns immer weiter am Loch. Wir hätten vielleicht entweichen können, bevor die Tür erbrochen wurde, wenn nicht ein unvorhergesehenes Ereignis uns die letzte Hoffnung genommen hätte.

Als die Frau des Pförtners ihren Kaninchen Futter brachte, bemerkte sie auf dem Fußboden frisch herabgefallenen Schutt. Im Gefängnis ist nichts ohne Belang. Sie sah sich sorgfältig die Mauer an und, obwohl die letzten Backsteine wieder auf ihren Platz gestellt waren, um das Loch zu verdecken, bemerkte sie, daß sie locker waren. Sie ruft um Hilfe, die Wache eilt herbei, mit einem Kolbenstoß werden die Backsteine auseinandergerissen, und wir sind geliefert. Von zwei Stellen ruft man uns zu, daß wir uns ergeben müßten, sonst würde man feuern. Wir weigern uns immer noch. So viel Erbitterung setzt die [118] Behörde in Verwunderung. Man läßt uns einige Stunden allein, damit wir uns beruhigen. Gegen die Mittagsstunde erscheint ein Munizipaloffizier am Guckloch und bietet uns Amnestie an. Wir gehen darauf ein, aber kaum haben wir unsere spanischen Reiter weggeräumt, da überfällt man uns mit Kolbenstößen, Säbelhieben und Schlüsselschlägen; selbst der Hund des Pförtners legt sich mit ins Zeug. Er springt mir in die Lenden, und sofort bin ich mit Bißwunden bedeckt. Mann zerrt uns in den Hof, wo uns eine Schar von fünfzehn Mann zu Boden wirft und uns Fesseln angelegt werden. Darauf wirft man mich in einen Kerker, der noch viel entsetzlicher ist als der, den ich soeben verlassen habe. Erst am nächsten Tage erscheint der Krankenwärter, um mir die Bißwunden und Quetschungen, mit denen ich bedeckt war, zu verbinden.

Kaum war ich von diesem Zwischenfall wiederhergestellt, als der Tag des Gerichtes herankam …

Ich wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt! …