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Londoner Industrieen (Die Gartenlaube 1860/49)

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Londoner Industrieen (Die Gartenlaube 1860/49)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 783–784
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[783] Londoner Industrieen (Zur Warnung). „Capitalien zu placiren!“ Unter dieser Aufschrift begegnet man sehr häufig in den gelesensten Zeitungen verschiedenen Annoncen, welche jedem Geldbedürftigen den schätzbaren Antrag machen, ihm beliebige Summen gegen niedrige Zinsen und geringe Sicherheit ohne alle Weiterungen vorzuschießen. Gewöhnlich sind es hübsche runde Beträge, etwa von 100,000 Pfund oder 700,000 Thaler preuß. Cour., womit die armen britischen Capitalisten weiter nichts anzufangen wissen, als sie auf dem Continent, insbesondere in unserm lieben, vertrauenden Deutschland, unterzubringen. Die Biedermänner geben sich dabei ganz das Ansehen, als wollten sie den Bettel so geschwind als möglich los sein; man wende sich nur an die bezeichnete Adresse, London, Tottenham Road oder Chelsea, und umgehend rückt die Silberflotte oder der gewichtige Papiernautilus ein. Geldbedürftige gibt es überall, also auch in Deutschland; aber so blindlings zugreifende arglose Leute, wie hier, gibt es leider nicht überall. Viele haben sich an die verführerischen Londoner Adressen gewendet, insbesondere Geschäftsleute aus Ostpreußen, Westphalen, Hamburg und Sachsen. Aus allen diesen Gegenden liegen constatirte Nachrichten über den Ausgang derartiger Geschäfte vor. Auch der Schreiber dieser Zellen hat sich, freilich nur des Versuchs halber und zu seinem speciellen Zweck der Veröffentlichung – an ein solches Londoner Haus gewendet, nämlich an die Herren Roberts, Barclay & Comp., welche „Kaufleuten, Fabrikanten und Gewerbtreibenden aller Art 100,000 Pfund Sterling und darüber gegen mäßigen Zinsfuß zur Verfügung stellten“, falls dieselben nur „gute Referenzen“ beibringen könnten. Daran fehlte es nun meinem portofreien Antrag durchaus nicht; aber das ehrenwerthe Londoner Haus mußte doch Lunte gerochen oder sich erkundet haben, denn es gab mir auf meinen Vertrauensbrief nicht einmal Antwort. Ich kann daher nur erzählen, wie es Andern gegangen ist, aber aus ganz authentischen Quellen. Der Verlauf ist stets, mit nur geringen Modificationen, der folgende:

Der Hülfesuchende wendet sich in einem frankirten Schreiben an die zuvorkommende Geldquelle in London, er sendet einen wahrheitsgetreuen – oder auch geschminkten! – Bericht über seine Verhältnisse ein, nennt seine Bürgen und begehrt ein Capital. Umgehend erhält er – unfrankirt – ein verbindliches Antwortschreiben: Das Geld liegt parat, es hat die Verabfolgung desselben gar keinen Anstand – nur wird der verehrte Darlehnsucher doch hoffentlich einsehen, daß man ohne alle Sicherheit doch kein Geld verleihen kann, namentlich ins Ausland; er wird daher freundlich aufgefordert, diejenige Sicherheit namhaft zu machen, die er allenfalls bieten kann, wobei nicht undeutlich zu verstehen gegeben wird, daß man blos der Form wegen so verfahren müsse, ein Auge zudrücken und ungrad’ gerade sein lassen werde. Der Geldbedürftige sieht die Hülfe lockend und nahe vor sich – aber wer sich nach London wendet, der hat gewöhnlich schon in Deutschland verhypothecirt, was möglich war, wenn auch sonst seine Bilanz eine ganz gute und er nur durch die Calamität der Krisis in ernstliche Verlegenheit gerathen sein mag, die den Fortbestand seines Geschäftes bedroht. Mit heißem Kopf durchläuft er nunmehr alle Möglichkeiten der Beschaffung einer Sicherstellung; allein es fällt ihm nichts ein, als – ein Accept. Dies ist der gewöhnliche Weg. Schlägt aber der Mann einen andern ein, bietet er Bürgschaft, Nachhypothek, Faustpfand, Policen – so wird ihm kühl höflich entgegnet: Das sei allerdings etwas, aber nicht genug; zu mehrerer Sicherheit sei sein Accept verschiedener Wechsel auf 3, 4, 6 Monate Frist nothwendig. Was soll er thun? Schon zu sehr hat er sich in den Gedanken hineingelebt, mit einem Male aller der drückenden Quälereien los zu werden, die ihm seither das Leben zur Hölle gemacht haben; er sagt sich, daß es ihm ja mit Hülfe des zufließenden Capitals leicht möglich sein werde, zur Verfallzeit Deckung zu beschaffen; er denkt, er bekomme ja den Werth seines Accepts in die Hand und könne daher selbst im schlimmsten Falle nichts verlieren; endlich ist er durch die erhaltenen Zuschriften fast sicher, daß man von seinen Wechseln keinen Gebrauch machen, sondern sie blos als ein Unterpfand betrachten werde – kurz, er acceptirt und sendet die gestempelten Unglückspapiere nach London.

In fieberhafter Spannung erwartet er nunmehr die Rimessen; er späht der Ankunft des Postboten täglich stundenlang entgegen – endlich kommt er, endlich, mit einem dicken Brief aus London, declarirt 1000 Pfund Sterling! Glück auf, Erlösung! Mit zitternden Händen bezahlt der gute Mann das hohe Porto, kaum vermag er zu quittiren, kaum das Couvert zu lösen. Die Seinigen umstehen ihn athemlos; so viel Geld ist lange nicht in’s Haus gekommen, eine neue bessere Zukunft hat sich aufgethan. Aber nur auf einen Augenblick; das Londoner Schreiben enthält nicht Banknoten, sondern Wechsel, ordentlich ausgestellt, scheinbar tadellos, aber doch nur Wechsel. Erste Enttäuschung. „Da werde ich viel daran verlieren müssen!“ brummt der Herr; „indessen auch das wird zu tragen sein; Hauptsache ist jetzt Cassa!’ – Und er wandelt halb vergnügt, halb unruhig zum Banquier, um die Wechsel zu discontiren. Dieser sieht dieselben einen nach dem andern kaltblütig durch und gibt sie dann kopfschüttelnd zurück: „Kann ich nicht gebrauchen; ganz unbekannte Firmen.“ Erbost trägt der Besitzer seine Papiere zum zweiten, zum dritten Banquier – überall dieselbe Antwort; doch nein, der dritte macht ihm den Vorschlag, gegen billige Provision das Incasso zu übernehmen. Der Mann braucht zwar baares Geld, aber was will er machen? er übergibt die Wechsel theilweise zum Incasso, einige verwendet er auch zur Deckung von Schulden. Nun glaubt er sich etwas Luft geschafft zu haben; er benutzt diesen Zustand zur Schreibung eines sehr entrüsteten Briefs an seine Londoner Geschäftsfreunde, worin er dieselben für sämmtliche Spesen verantwortlich macht – erhält aber darauf kein Sterbenswörtchen Antwort. Da sendet eines schönen Morgens der Banquier nach ihm; mit Hast folgt er der Einladung, denn er hofft auf Silber; da empfängt ihn unter der Thüre schon das Donnerwort: „Ihre Wechsel sind falsch! Solche Firmen existiren nicht, oder wenn sie existiren, sind sie zahlungsunfähig!“ – Und so ist es, der arme Getäuschte hat ein ganz werthloses Papier in Händen, und steht wieder auf dem alten Flecke. Doch nein, er ist jetzt weit schlimmer daran, er hat sich selber ruinirt. Die Accepte, welche er [784] gegeben, erscheinen, sind gültig, einerlei, ob er Werth dafür empfangen hat oder nicht, ob er geprellt oder solid bedient worden ist. Das Wechselgesetz richtet sich als furchtbares[WS 1] Phantom vor ihm auf in seiner ganzen Strenge; da hilft kein Einreden, keine Gegenklage: er ist verloren. – Jenes Londoner Schurken-Haus hat die Accepte sofort verkauft an einen Speculanten, der, nach vorher eingeholter, meist telegraphischer Erkundigung, ziemlich genau weiß, was er dafür geben kann; oft ist das verzweifelt wenig, aber die Schwindler machen dennoch ein gutes „Geschäft“. Der nunmehrige Besitzer läßt die Wechsel am Verfalltage präsentiren, und zwar der größeren Sicherheit und Bequemlichkeit halber vielleicht durch the London Association for protection of Trade (die Londoner Gesellschaft zum Schutz des Handels), welche natürlich von der vorhergegangenen Operation nichts weiß und nur ihre Pflicht thut. Sie läßt durch den Continental-Advocaten, dem sie die Sache übergibt, Protest erheben, und jetzt bleiben dem Acceptanten nur drei Mittel: Zahlen, Wechselarrest oder Concurs. Das letztere ist natürlich das Gewöhnliche, und meistens nimmt in diesem Falle der zweite Londoner Speculant noch mehr aus der Masse, als er für die Papiere gezahlt hat. Die Darlehnverschaffer aber in London zu verklagen, dazu gehört Geld, Zeit und die Versicherung, daß auch bei der Klage etwas herauskomme; an allen diesen Bedingungen fehlt es aber gänzlich; man klagt daher nicht, und das ist am Ende noch das Klügste. Man ist eben in eine Räuberhöhle gefallen. Daher muß folgender Erlaß des Polizei-Präsidiums in Berlin mit Dank begrüßt und zur Warnung weit hin verbreitet werden:

„Seit längerer Zeit finden sich in den Zeitungen Bekanntmachungen, in welchen ausländische – angeblich – Handelsfirmen Gelder zu mäßigen Zinsen offeriren. Die angestellten Ermittelungen haben ergeben, daß mit diesen Anerbietungen lediglich auf die Leichtgläubigkeit Einzelner speculirende Betrügereien beabsichtigt werden, und daß sie erhebliche Verluste für diejenigen berbeigeführt haben, welche auf dergleichen Anerbietungen sich eingelassen haben.
Das Polizei-Präsidium unterläßt nicht, das Publicum vor dieser Art des Betrugs hiermit zu warnen!
Berlin, den 1. October 1860.“

Einen anderen Warnungsruf erlassen wir hiermit als Anhängsel, namentlich für junge, frisch etablirte Kaufleute. Sie mögen sich hüten vor Annoncen, etwa wie folgende: „Das Geschäft So und So (gewöhnlich eine Collectivfirma oder eine besondere Comptoirfirma, meist französische, und fast stets in London!), welches gegenwärtig eine besondere Agentur in Hongkong (Valparaiso, Buenos Ayres, Sidney, Shanghai etc.) errichtet hat, welche die Verbindung des europäischen Handelsstandes mit jenen fernen Gegenden erleichtern und verbessern soll, und dessen Capital sich gegenwärtig auf 20, 30, 40 Millionen Francs (10 Millionen auf oder ab, darauf kommt es nicht so genau an!) beläuft, gibt hiermit bekannt, daß seine Agenten sich vor acht Wochen eingeschifft haben. Es erlaubt sich dasselbe daher, den Herren Kaufleuten mitzutheilen, daß es in der angenehmen Lage ist, ihnen direct und zu den günstigsten Bedingungen jeden Credit zu eröffnen, dessen sie zu Zahlungen von dort eingeführten Producten nöthig haben!“ – Wer solche Ankündigungen erläßt, der ruft mit vernehmlicher Stimme: „Aufgepaßt!“

Und zum Schluß die letzte Warnung, vorzugsweise an junge thätige Geschäftsleute mit geringem Capital, welche schnell reich werden wollen. Diese entlehnen wir der trefflichen sächsischen Industriezeitung von Rob. Binder in Chemnitz; es ist nothwendig und nützlich, in dieser Zeit des Schwindels solche ernste Worte weiter zu predigen: „Der gefährlichste Absatzweg ist das Consigniren der Waaren in andere Welttheile, wo häufig 40-60 Procent, oft auch Alles verloren geht. Junge unerfahrene Fabrikanten lassen sich von einem Londoner, leider oft auch von einem Hamburger oder Bremer Hause verleiten, unter den glänzendsten Vorspiegelungen Aussendungen nach Valparaiso etc. etc. zu machen, und die Verlockung dazu ist um so leichter, als der Londoner, Hamburger oder Bremer Commissonair Vorschüsse auf die consignirten Waaren macht. – Wenn nun die Waare einmal in Valparaiso etc. ist, dann mag sich der Aussender nur Geduld anschaffen, denn es gibt Fälle, wo 3 bis 4 Jahre verfließen, ehe nur eine Verkaufsrechnung kommt, und dann dauert es oft noch ein Jahr, ehe die Rimessen – durch die Verkaufsrechnungen der Herren Commissionaire natürlich beschnitten, bis auf eben angeführte Procentsätze - endlich eintreffen. Derartige Geschäfte sind für wenig bemittelte und überdies noch unerfahrene Geschäftsleute meist der Ruin, und wir haben Beispiele genug, wo das Consigniren Häuser bankerott gemacht hat, die heute noch bestehen würden, wenn sie der Verführung, mit fremden Welttheilen zu arbeiten, widerstanden hätten. Consignations- und Exportgeschäfte muß man, der Natur der Sache nach, Capitalisten von Geist und Geld überlassen, für Andere sind derartige Geschäfte nicht nur höchst unpassend, sondern auch frevelhaft.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: furchbares