Londoner Nacht-Märkte

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Titel: Londoner Nacht-Märkte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 280-283
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

In Briefen von einem in London lebenden Deutschen.
IV.
Londoner Nacht-Märkte.

Was man von London weiß, berichtet und lies’t, ist fast Alles einseitig, nämlich von der Cityseite der Themse. Was jenseits zwischen den acht Meilen von Battersea bis Greenwich arbeitet, handelt, furchtbar und froh ist, das fabricirende, das volksvergnügte London, wird selten gesehen und beschrieben. Wir wollen uns einmal hinüberwagen über eine der kolossalen Brücken, die in ihren Straßenverlängerungen von dem Halbkreise der Themse fast alle concentrisch zusammenlaufen. Da wo der Obelisk steht, begegnen sich nicht weniger als 6 unendlich lange, kolossale Hauptstraßen von den 6 größten Brücken her in einem Punkte, um von da aus wieder das Weite und neue Städte Londons und vielleicht endlich grüne lachende Felder und Wälder und kleine niedliche Colonien von Villen zu suchen. Unzählige Labyrinthe von Quer- und Nebenstraßen irren dazwischen hin und her, rauchiger noch und dunkler zum Theil, als die Straßen der City, aber nicht so trostlos, o nein, wenn man’s trifft, heiterer, strahlender, fideler, als irgend ein Fleck der Erde; aber nicht so oberflächlich lustig, wie ein nüchterner Jahrmarkt in einer deutschen Provinzialstadt, nein humoristisch, tragisch, fidel, unerschöpflich in Handlung und Katastrophe, ein bewegliches Diorama, mit mehr Lust- und Trauerspielen in einer Nacht, als alle Theater der Welt zusammen aufführen können.

Am Tage ist es still in den meisten dieser Seitenstraßen, so still, daß man die Kinder schreien hört und die ältern wirklich Platz haben, zu spielen. Die Häuser sehen zwar auch schwarzbraun oder wie Schinken aus, die zu lange im Rauch gehangen haben, aber nicht so verschlossen und festungsartig, wie in der City und jenseits der Themse. Hier und da steht sogar ein Mädchen oder eine Frau, niedlich und einfach angezogen und mit einem Körbchen oder einem Kinde am Arme in der Thür und hat Zeit, mit der Nachbarin zu plaudern oder auf den Spaß der Vorübergehenden etwas Neckisches zu erwiedern.

Doch so etwas kann man überall genießen und hat blos Werth als Vor-Bild für die Scenen, welche diese Stadttheile Abends und Nachts bieten, wo die Penny-Theater dutzendweise strahlen und die Arbeiter und Arbeiterinnen unter Zehntausenden von wunderschönen Sachen, die sie alle Stück für Stück für’n Penny eindringlich empfehlen, zu wählen haben. Der Abend ist nicht blos der liebe Morgen, die Nacht ist auch der hellste und geschäftigste Tag Londons, am Glänzensten aber die Nacht des Sonnabends, und diese am Malerischsten jenseits der Themse.

London hat jeden Sonnabend Abend bis zum Morgen des Sonntags 16 Hauptmärkte, jeden mit mehr Umsatz, als eine ganze Frankfurter Messe. Keiner aber sieht so großartig und reich aus, als der in New-Cut, zwischen den Straßenverlängerungen der Blackfriars- und Waterloo-Brücke. New-Cut ist die Hypothenusenstraße zu den beiden Katheten, die im Obelisk zusammenlaufen. New-Cut selbst, in ihrer Länge von 1/2 Meile, verbindet nicht weniger als 16 Straßen, die alle von großen Fabriken, Brauereien und dicht bevölkerten Straßen herkommen. Diese ganze Länge und ansehnliche Breite ist Sonnabends Nachts ein dichtes, unaufhörliches, schreiendes, lichterstrahlendes Gemisch von Kauf und Verkauf, so dicht, als sollte aus der ganzen Masse ein Filz gewalkt werden. Alles ohne Marktordnung, ohne sichtbare Polizei, ohne Uniformen, ohne eine Spur von Gesetz, scheinbar die höchste Klimax von Anarchie, und dabei ein Schauspiel für Götter. Auch hier regieren sich die Engländer selbst. Wenn Gesetze gebraucht werden, entstehen sie wie von selbst für jeden einzelnen Fall mit den allerkürzesten parlamentarischen Debatten [281] zu ihrer Sanction. Die gewöhnlichen Verbrechen von Diebstahl und Betrug scheinen hier gar nicht gewöhnlich zu sein. Die Taschendiebe haben zu viel Rechtsgefühl und so viel Instinkt, daß sie da keine Taschentücher entführen, wo die Baumwolle über Seide herrscht, und da nicht des Nächsten Börse begehren, wo die Majorität der Pence über die Guineen ihr constitutionelles Übergewicht behaupten.

New-Cut wird zunächst Sonnabends gegen 4 Uhr nach und nach von 7–800 Hökern und Hökerinnen ganz willkürlich verbarrikadiert. Einige tragen ihr ganzes Warenlager vor dem Bauche und drängen sich schreiend und empfehlend durch die dichtesten Haufen, ohne daß ihre Aepfel, Apfelsinen, Fische, Kastanien u. s. w. Schaden nehmen. Aeltliche, verräucherte Hökerinnen rauchen dabei auch aus einem sehr kurzen Thonstummel furchtbar starken Taback. Die so fliegenden Waarenlager haben selten einen höhern Totalwerth als 2 bis 5 Schillinge. Die, welche feste Sitze aufschlagen auf Körben, Karren, Handwagen und resp. auf dem blanken platten Steinpflaster, sind schon aristokratischer und haben nicht selten für 5 bis 10 Pfund eingekauft, um in 24 Stunden 8 bis 20 Pfund dafür wieder einzunehmen und dafür bis zum nächsten Sonnabend sehr comfortabel zu essen und zu trinken. Diese wandernden und fixirten Verkäufer und Verkäuferinnen scheinen sich nach einem geheimen Natur- und Instinctsgesetze so in das Angebot aller möglichen Bedürfnisse und Wünsche getheilt zu haben, daß von Allem etwa grade so viel Vorrath da ist, als bis zum Sonntag Vormittag mit Vortheil abgesetzt werden kann. Das Ueberflüssige geht am Besten, weil es in Restern spottbillig verkauft wird, daß der letzte Penny nicht widerstehen kann.

Wenn schon eine Parlaments-Verhandlung über mangelnde Gelegenheit für die untern Klassen, ihr Geld anzulegen, bewies, daß die untern, arbeitenden Klassen nicht arm sind, so beweist es doch recht lebendig erst ein solcher Nachtmarkt in den Arbeiter-Vierteln. Freilich wollen wir damit die untern Klassen überhaupt nicht glücklich preisen. In der Gegend des Towers giebt es einen Nachtmarkt, der die scheußlichsten Phantasienachtstücke in der Wirklichkeit bei Weitem übertrifft. Dort liegen zerrissene Lumpen zum Verkauf aus, mit denen sich ein Mensch für 2 Schillinge vom Kopfe bis zum Fuße vollständig neu kleiden kann, Umschlagetücher für 3, Herrenoberröcke für 6 bis 10 Pence, Beinkleider für 5 bis 6 Pence, lauter Herrlichkeiten, nach denen halbnackte Jammergestalten mit gierigen Blicken starren, wie Tantalus nach den Trauben, die ihm in den Mund hängen, ohne daß eine Beere seinem lechzenden Gaumen labe.

Aber die Arbeiter-Nachtmärkte sind goldenes Leben, fetter, übermüthiger Genuß. Die Skala der ausgebotenen Waaren und das Verhältniß der Schnelligkeit ihres Verschwindens in die Körbe und Taschen der Consumenten ist ein interessanter Barometer des Wohlstandes. Außer den nothwendigen Eß- und Trinkwaaren und Bekleidungsgegenständen spielen Kuchen und Früchte, Pies (Pasteten), warme Aale, in großen Blechöfen schmorende Kartoffeln, gekochte „Eisbeine“ (Schweinsknöchel), gebratene Kastanien, Würste, Kaninchen und Geflügel, allerlei Bänder und Schnuren und Putzsachen, Papier, Bleistifte, Bilderbücher, Kalender, Zeitungen, natürliche und todte Blumen, Juwelen und Schmucksachen aller Art, Kämme und Haarbürsten, prächtige Küchengeräthe, Topf-, Glas-, und Krystall-Waaren, fabelhafte Bedürfnisse für Matrosen, Guckkasten, Polichinell-Theater, ein Paar Dutzend Sorten von Leierkasten, schottische Dudelsäcke und unzählige andere Bedürfnisse des Luxus eine Hauptrolle. Schweineköpfe, Juwelen, (natürlich künstliche) und Galanteriewaaren aller Art verhalten sich aber nach einer vor mir liegenden Verhältniß-Statistik wie 50 zu 9 bis 20 zu den nothwendigen Bedürfnissen. Obenan stehen Eßwaaren, dann kommen die Juwelen für Kleidung, Haus- und Küchenschmuck, welche mit Büchern, Papier, Zeitungen und Schreibmaterialien etwa im gleichen Mengenverhältnisse stehen. Man sieht schon, daß dies keine Märkte für eine Klasse sind, die noch um das Nothwendigste zu kämpfen haben, daß die arbeitenden Klassen bereits mitten in den Strom der Cultur und der Lebensbefriedigung civilisirter Art hineingerieten.

Diese Nachtmärkte sind in jeder Beziehung ganz freie Entfaltungen des praktischen Volkslebens. Die Verkäufer hängen von keinerlei Concession und Controle ab. Von einer polizeilichen Ordnung in Bezug auf Stand, Stellung, Ort, Größe, Klassen- und Gewerbe-Unterschied keine Spur, Alles eitle Selbstregierung, oder auf Deutsch: Anarchie.

Die Höker beiderlei Geschlechts von 5 bis 60 – 70 Jahren kommen in der Regel von 4 Uhr Nachmittags auf dem großen Concurrenz-Kampfplatze an, um sich womöglich eine recht comfortable Stelle „a pitsch“ auszusuchen. Ist dieses unbeschränkte Wahlrecht ausgeübt, übergiebt man den Waarenvorrath einem schmutzigen Jungen oder einem Hunde unter dem Karren zur Wahrung der Eigenthumsrechte. Die Regentschaft dieser Aufseher dauert bis 6 Uhr, dem officiellen Anfang des Markts.

Um sich nun ein Bild zu machen, muß man mit den beiden Reihen Statisten, den Häusern von New-Cut, anfangen. New-Cut ist das Gegenstück zu Regent-Street, der Straße aristokratischer Luxus-Industrie und der „Street-walkers“ erster Klasse beiderlei Geschlechts. New-Cut ist von Mobilien und Immobilien-Händlern und En Gros- und Detail-Händlern, Heymann-Levi’s im vergrößerten Maßstabe, Alehändlern, Fleischern, Bäckern und Bierwirthen bewohnt. An der einen Ecke steht ein großes Theater, Großmogul der Penny-Komödienhäuser. Aus allen diesen Häusern strahlen Meere von Lichtern und die großen, offenen Hallen der Fleischer-Stockwerke hinauf mit ganzen Schweinen, Hammeln und Kälbern ausdecorirt, flackern in hundert bengalischen Flammen. Ellenlang lodern die freien Gasflammen um die fetten Fleischmassen wie feurige Zungen herum. Zu den Hunderten und Tausenden von Gaslichtern aus den Häusern kommen Hunderte und Tausende von Beleuchtungsarten auf der Straße. Jeder Karren, jede Bude, jedes Geschäftchen strahlt in solorischer, eigener Beleuchtung. Von der stolzen, „sich selbst erzeugenden Gaslampe“ bis zu dem düstern Qualm aus einer Stube oder einer schmierigen Hornlaterne ist jede Sorte von Beleuchtung aller Zeiten und Zonen vertreten. Jede Sorte von Licht- und Farbeneffect ist da, gewaltiger und reicher, als alle Lichteffecte aller Kunstausstellungen zusammen genommen, vielmehr aber solche, die nie und nirgends zu malen oder irgendwo zu sehen sind.

[282] Diese sichtbare Geisterwelt von Lichtern und Schatten und Farben hat in der Welt nicht seines Gleichen. Ueberall würde die Menge und Masse und die schinkenfarbig glühende Nebelluft dazu fehlen. Schon allein die kleinen feurigen Drachen der Straßen-Dampfmaschinen, die Kastanien, Wurst und Kartoffeln, Braten und rothglühenden Kometenschweife aus dem Ofenloche zu senden scheinen, sind nur auf einem Londoner Nachtmarkte möglich.

Nun denke man sich das hunderttausendfach wimmelnde und schreiend wirkliche, übervolle, dichtgedrängte Leben in diese farbigen Licht- und Farbengeister hinein. Es haben sich inzwischen außer den beiden Hauptcolonnen der Buden und Stände eine Menge kleiner Neben- und Seitengäßchen gebildet. Wie frei fließendes Wasser sich bald eine Bahn und ein Bett ausspült, so sind auch hier durch die Ströme des freien Verkehrs die anarchischen Marktstände bald in Reihen und Bahnen abgeschliffen. Hier wird Einer zurück-, der Andere vorgedrängt, ohne daß man Opposition macht, da man mit Luther einsieht, daß wahre Freiheit und Nothwendigkeit identisch seien. So ist in diesem vieltausendfältigen Tumult und Geschrei doch wohl Ordnung und Gesetz, wie könnte es sonst alle Sonnabende an unzähligen Orten sich eben so großartig, so lichter-, farben- und formenreich wiederholen und Allen Vortheil bringen? Es ist die in der Sache selbst liegende Ordnung, das „immanente“ Gesetz des freien Verkehrs.

Etwa von 8 bis 11 Uhr sind Geschrei und Tumult wahrhaft erhaben, wie ein Sturm auf dem Meere, erhaben im Contraste einer Wüste, über deren tausend Meilen Sand die Stimme des Löwen brüllt, erhaben und lächerlich in einer „höheren Einheit.“ Tausende von Stimmen schreien immer zu gleicher Zeit ihre Waaren aus. Des Einen Text ist länger, als der des Andern. Die Schlüssel zu deren Vocalmusik übertreffen die der Musiklehre um 100 Procent. Sopran, Tenor, Alt, Baß reichen schlechterdings nicht aus, um diese Töne und Melodien wissenschaftlich zu unterscheiden. Mozart’s Königin der Nacht bleibt mit ihrer berühmten höchsten Note noch im Sopran, und auch „in diesen heiligen Hallen“ bleibt die Baßgeige noch in ihrer Tiefe unübertroffen. Aber hier giebt’s Ultra-Soprane, Ultramontane der Tiefe, wie Barclay’sche Porter-Tonnen und unendlich viel in Musik gesetzte Heiserkeit. Daß die meisten Ausrufe dem continentalen Ohre wie laut gewordene Hieroglyphen klingen, daß Krähen, Gänse, Hühner u. s. w. ein verständlicheres Englisch zu sprechen scheinen, als diese Marktschreier, erhöht das Interesse und macht den aufregenden Eindruck des Mystischen. Mit Buchstaben auf’s Papier gebracht, sieht es ganz verständlich aus, aber in dem Munde des lebendigen Nachtmarktes ist Alles Böhmisch, Chinesisch und alles Andere, nur kein articulirtes Englisch.

Wir sind mitten im Babel. Und zu diesen musikalischen Fugen die Augenweide, wenn man sich durch die zehnfachen Ströme und Wagen der Körbe und Frauen und Arbeiter und Kinder hindurch ellbogen kann! Hier glitzert eine kleine Welt von blau gemalten Tellern, Saucieren, geschliffenen Gläsern und Flaschen und Gasglaskugeln, dort in Gelb und Blau allerhand Töpferwaaren, wovon einige Reihen alter und neuer Schuhe und Stiefeln, die auf dem Pflaster ausgebreitet stehen, sich noch etwas Abglanz borgen. Von den Stiefeln kommst du gleich in eine Kunstausstellung prächtiger Theebretter mit profanen und biblischen Geschichten bemalt, dann wieder in ein Labyrinth von Tellern und Tassen, auf denen Moses und die Propheten und Joseph’s Träume und das ganze alte Testament blau angelaufen erscheinen. Selbst Madame Potiphar’s Nase sieht eben so blau aus, wie Joseph’s Mantel. Jetzt kommt ein Wald rother Taschentücher, echt ostindisch-seidene, von 1 Schilling an, neben welchen blaustreifige Hemden im Winde flattern, darunter eine Art Ladentisch, hinter welchem muntre Jungen unaufhörlich nach Kunden schreien. Dort vor dem Thee-Laden, der in unzähligen Gasglaskugeln glänzt, theilt ein Mann gedruckte Empfehlungen aus, dankt dem Publikum für die bisherigen Gunstbezeigungen und fordert kühn alle Concurrenz heraus. An den Straßenwänden entlang vor einem Kleiderladen stehen ein halb Dutzend menschenähnliche Holzklötze mit fabelhaft dummen Taillen und bauschigen „Chesterfields“ und Jacken, jeder mit einem großen Zettel auf dem Rücken: „Look at the prices!“ und „observe the quality!“ Das immerwährende bengalische Feuer drüben, in welchem weißschürtzige, starke Helden, unverbrennlich wie Salamander, einhergehen und immerwährend schreien: „Buy! buy! buy!“ illuminirt einige Tausend Pfund Fleisch, das in malerischen, fetten, roth- und weißstreifigen Stücken bis in die Belle-Etage hinaufhängt. Jetzt hält dir der fliegende Buchhändler ein Buch Papier für zwei Pence unter die Nase, von der einen Seite wirst du scharf mit Messern angefallen, Rasir-, Feder- und Taschen- und Tischmessern, während dich kleine Mädchen mit zwei oder drei Apfelsinen für 1 Penny verfolgen, bis sie von einer Menschenwoge weggerissen werden. Kaum bist du aus dieser Scylla, so fällst du in die Charybdis der Bleistifte, Stahlfederhalter, Streichhölzchen und Zündschwämme. Und was ist das für eine Gruppe an der Wand? Ein Vater, eine Mutter mit einem Kinde an der Brust und eins sich frierend in die Schürze wickelnd. Der Vater steht mit verschämt gesenktem Blick, die Hände gefaltet und dazwischen – ein Crucifix? nein, ein Kästchen Schwefelhölzer für’n halben Penny! Sie wollen nicht betteln, sie wollen noch von einem „Geschäft“ leben. Hier kaufte ich, und gab einen ganzen Penny, ohne den halben, den ich herausbekam, anzunehmen. Der Mann sah kläglich auf, hielt ihn mir wieder hin und schlug die Augen wieder nieder, als er seine ausgestreckte Hand mit dem halben Penny wieder fallen ließ. O was für eine lange Geschichte voller Ehrlichkeit und Noth lag in dieser stummen Bewegung, die Niemand bemerkte, die Niemand verstand, die im gewaltigsten Strome des Verkehrs verrann, wie Tausende, Tausende anderer in jeder Nacht. –

Dort glänzen noch große offene Hallen mit Grünkram, Rüben, Kohl, Kohlen, Kartoffeln und großen Stößen kleiner Holzbündelchen, mit denen das Steinkohlenfeuer im Kamin angemacht wird, an welchem hängend morgen das 5–10pfündige Stück Fleisch im eigenen Fette gebraten wird, damit es eine Woche lang Stoff zum Abschneiden biete.

Jetzt Platz, es windet sich ein Wagen durch das dicke Gedränge, ein Annonce-Wagen, an allen 4 Seiten mit großen Zetteln, die wunderbare Dinge verkündigen, beklebt. Oder du stößt auf einen Mann, der zwischen zwei großen Zetteln steht und von der Rück- und Vorderseite zugleich [283] auffordert, daß du dies oder jenes Penny-Theater nicht versäumen sollst.

Wer glücklich ist, bemerkt wohl auch die wohlfeilere Art, der Welt große Tugenden dieses und jenes Geschäfts zu verkündigen: einen außer Fassung gebrachten und nach oben gesträubten Regenschirm, ringsum mit Zetteln, zum Theil blos geschriebenen, geschmückt. Jetzt stößt man auf einen großen Guckkasten, worin man für einen halben Penny durch ein rundes Glas die Leiden Mazeppa’s, die Tugenden des Seeräubers Paul Jones und die Vorzüge des Parlaments-Mitgliedes, Capitain Sibthorp, leibhaftig schauen kann. In jenem Winkel hat ein Polichinell-Spieler seinen großen Kasten aufgeschlagen, der aber mit chinesischen Schattenspielen die meisten Forthings erntet. Auch bemerkt man ganz weiß gekleidete Mohren, mit ihren Zetteln zitternd vor Kälte und mit großen Augen sehnsuchtblickend nach der tropischen Sonne Afrika’s. Kaum bist du einem italienischen Saiten-Leierkasten mit der Marseillaise entflohen, begrüßen dich schon zwei andere, die jedenfalls die Marseillaise gleich wieder spielen werden, wenn sie nicht schon mitten darin sind. Fürchterlicher ist’s, wenn du vor zwei schottisch-carrirten Dudelsackspfeifern vorbei mußt. Bist du musikalischer Natur, so mache, daß du fortkommst, denn jedenfalls begegnen dir doch die fünf gefärbten Mohren mit ächten Neger-Instrumenten. Geigen, Trompeten, Flöten und Clarinetten, theils einzeln, theils in Compagnie, aber nie in Harmonie, werden dich umbringen. In musikalischer Beziehung hat man sich auch vor den Penny-Theatern in Acht zu nehmen. Versteht man aber Englisch, d. h. wirklich Englisch mit den tausenderlei Wortspielen, so kann man etwas erleben! – Und um des Volkes Lust und Laune und seinen vierschrötigen Geschmack kennen zu lernen, muß man schlechterdings 50 – 60 mal in ein Penny-Theater gehen. Dort stehen die Agenten schon überall in den Thüren und schreien aus, was eben für ein Wunder geschehen werde. „Der berühmte So und So wird eben sein Lieblingslied vom „Scheerenschleifer“ singen“ u. s. w.

Doch genug. Aehnlich ist’s jeden Sonnabend Nachts in Tottenham-Court, Leather-lane, Whitecroßstreet, Newgate, Swen Dials u. s. w. – überall derselbe hunderttausendfache, hitzige Heldenkampf, um dem Arbeiter von seinem Sonntagsessen die Pence abzugewinnen, die Hunderttausende ebenfalls brauchen, um Sonntags mehr Fleisch als gewöhnlich essen zu können. Man muß diese blendend hellen Nachtscenen wirklich sehen, um sie zu glauben. Sie haben, wie London selbst, nirgends in der Welt ihres Gleichen.