MKL1888:Aderlaß

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Aderlaß“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Aderlaß“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 1 (1885), Seite 116117
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Aderlass
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Aderlaß. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 116–117. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Aderla%C3%9F (Version vom 15.02.2023)

[116] Aderlaß (Venaesectio, Phlebotomīa), die kunstgemäße Eröffnung einer Vene, die man macht, um schnell dem Körper eine größere Quantität Blut zu entziehen. Der A. kann zwar an allen Blutadern, welche oberflächlich liegen, gemacht werden; doch bevorzugt man allgemein die Vena mediana in der Armbeuge. Man läßt den Patienten sich legen oder setzen, umschlingt den entblößten Oberarm mit einer Binde nahe über dem Ellbogen, um den Rückfluß des Bluts zu hindern und dadurch die Adern anschwellen zu machen, aber ohne zugleich den Blutstrom der Pulsadern zu unterdrücken. Ehe man die Ader eröffnet, überzeugt man sich, ob die darunterliegende Arterie normal verläuft. Sodann öffnet man die Ader, indem man sich entweder des sogen. Schneppers (s. Figur) oder, wie jetzt meist, der Lanzette bedient. Die Wunde soll am besten schräg gegen den Verlauf der Ader gerichtet sein. Um das Ausfließen des Bluts zu befördern, läßt man den Kranken einen Stock abwechselnd fest erfassen, drehen, die Finger schließen und öffnen, damit durch die sich zusammenziehenden Muskeln das Blut mehr in die oberflächlichen Hautvenen getrieben werde. Ist eine hinreichende Menge Blut abgelassen, so löst man die Binde, wodurch der Blutausfluß sogleich aufhört. Man legt sodann den Daumen auf die Wunde, verschiebt die Haut etwas, reinigt den Arm von dem Blut, legt eine Kompresse auf und befestigt diese mit einigen Bindentouren. Der Arm muß dann etwa 24 Stunden ruhig gehalten werden, und der Verband wird erst nach 3 Tagen entfernt. Trotz aller Geschicklichkeit und Umsicht des Wundarztes können beim A. doch schlimme Zufälle eintreten, z. B. Entzündungen der Venen und Lymphgefäße, heftige Schmerzen infolge der Verletzung eines Nervs. Zu den übelsten Zufällen aber gehört die Verletzung der Arterie der Armbeuge, wodurch entweder eine tödliche Blutung oder eine Blutgeschwulst, ein Aneurysma spurium (s. Aneurysma) oder Varix aneurysmaticus, entstehen kann. Der A. stand schon bei den alten indischen Ärzten in ausgedehntem Gebrauch, und Hippokrates hat für denselben als eins seiner wichtigsten Mittel

Aderlaßschnepper.

bei akuten Krankheiten junger robuster Individuen sehr genaue Anzeigen festgestellt. Für die Heilung akuter Entzündungen, besonders der Lunge, des Herzens, des Gehirns, blieb der A. auch bis in die neuere Zeit ein sehr beliebtes Mittel, und noch gegenwärtig glauben viele Ärzte denselben nicht entbehren zu können. Der Gebrauch des Aderlasses ist aber gegen früher ganz enorm eingeschränkt worden. Man öffnet heutzutage eine Ader bei den durch Schlagflüsse oder andre Ursachen, wie Erhängen etc., scheintot Gewordenen und läßt bei den durch langwierige Geburten scheintot zur Welt gekommenen Kindern etwas Blut durch die Nabelgefäße ab, wodurch sich dieselben oft rasch erholen und zu Atem kommen. Als allgemein feststehende Regel aber mag dienen, daß ein A. niemals anders als auf das Gebot eines Arztes gemacht werden soll. Vgl. Bauer, Geschichte der Aderlässe (Münch. 1871).

Aderlaß bei Haustieren. Bei Pferden und Rindvieh läßt sich am besten die Drosselvene am Hals öffnen. Das Anschwellen der Ader wird dadurch herbeigeführt, daß man um den Hals eine Schnur fest anzieht, oder daß man die Finger gegen die Vene andrückt. Der A. an der Schweifrübe oder an den Gliedmaßen ist bei den großen Tieren nicht mehr gebräuchlich. Bei Schafen läßt man auch, wenn man einen geringern Abzug an Blut beabsichtigt, an der Stirn, über oder unter dem Auge, am Schwanz, am Fuß und an der Kinnlade zur Ader. Bei Schweinen macht man in das Ohr, da, wo es an den Kopf anstößt, einen Schnitt, so daß eine oder einige der dort sichtbaren Blutadern quer durchschnitten werden, und läßt die Wunde bluten, solange sie will, [117] oder man macht einen etwa 2,5 cm langen Einschnitt in dem mittlern Teil des einen oder auch beider Ohren von dem untern (hintern) Rand an nach der Spitze zu. Auch kann man durch Wegschneidung eines Stücks vom Schwanz Ader lassen. Bei Hunden wird gewöhnlich die Halsader, aber auch die Ader unter der Zunge oder unter dem Schwanz geöffnet, nachdem im erstern Fall die Haare weggeschnitten und die Ader durch Andrücken etc. zum Anschwellen gebracht ist. Den Pferden läßt man höchstens 3–4, gewöhnlich nur 1,5–2,5 kg Blut; dem Rindvieh bei einem starken A. 2,5 kg, gewöhnlich nur halb soviel, und wiederholt lieber den A.; den Schafen 70–200 g, je nach der Größe und dem Alter; einem kleinen Hund 70–80 g, einem großen 120–250 g. Das Nachbluten wird dadurch verhindert, daß man eine Stecknadel durch beide Wundränder sticht und um dieselbe einen Faden oder einige Schweifhaare wickelt. Durch die neuere Wissenschaft ist erkannt worden, daß der A. meist entbehrlich, oft sogar schädlich ist.

Aderlaß an Bäumen nennt man das Aufritzen der harten Rinde, um dem durch sie eingeengten Stamm ein gedeihlicheres Wachstum zu verschaffen. Man wendet es bei Stämmen an, die unverhältnismäßig dünn und spindelig bleiben und am obern Teil eine Menge Holztriebe entwickeln, bisweilen auch bei solchen, die im Verhältnis zu ihrem Alter zu wenig Früchte tragen, indem sie wohl Holztriebe, aber kein Fruchtholz machen. Man ritzt an einem sonnenhellen Tag mit einem feinen Messer die Rinde des Baums an der Nordseite von der Krone bis zur Wurzel an einer, zwei oder drei Stellen, doch so, daß der Schnitt nicht bis aufs Holz, sondern nur bis zur Hälfte der Rinde eindringt. Manche Obstzüchter halten die ganze Operation für mehr schädlich als nützlich.