MKL1888:Anatomīe

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Anatomīe“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 536538
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Anatomīe. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 536–538. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Anatom%C4%ABe (Version vom 19.04.2022)

[536] Anatomīe (griech., „Zergliederung“), die Lehre von Form und Bau der organisierten Körper und ihrer einzelnen Teile (theoretische A. oder Zergliederungskunde), dann die Untersuchung des organischen Körpers selbst in Bezug auf Form und Bau (praktische A. oder Zergliederungskunst) und endlich der Ort, wo dergleichen Untersuchungen vorgenommen werden und Unterricht darin erteilt wird (anatomisches Theater). Gewöhnlich braucht man A. nur für Zergliederung des menschlichen Körpers (Anthropotomie), während man die Zergliederung der Tiere Zootomie, die der Pflanzen Phytotomie nennt. Die theoretische A. zerfällt in die allgemeine und spezielle A. Die spezielle oder deskriptive A. hat die Darstellung der einzelnen Teile und Organe zum Gegenstand. Mit Bezug hierauf zerlegt man die menschliche A. in sechs Abschnitte, nämlich in 1) Osteologie oder Lehre von den Knochen und Knorpeln; 2) Syndesmologie oder Bänderlehre, die Darstellung der bandartigen Organe, durch welche die Knochen namentlich in den Gelenken verbunden werden; 3) Myologie oder Muskellehre; 4) Angiologie oder Gefäßlehre, welche Lage und Verlauf der Blut- und Lymphgefäße darstellt; 5) Neurologie oder Nervenlehre, die Beschreibung des Nervensystems (Gehirns, Rückenmarks, der Sinnesorgane etc.); 6) Splanchnologie oder Lehre von den Eingeweiden, d. h. den Atmungs-, Verdauungs-, Harn- und Geschlechtsorganen. Die allgemeine A. beschäftigt sich nicht mit der Form der einzelnen Organe des Körpers, sondern mit den Eigenschaften des Materials, aus welchem sich jene aufbauen. Die oberflächlichste Betrachtung lehrt, daß in verschiedenen Teilen des tierischen Organismus Stoffe von gleichen Eigenschaften, wie Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven etc., wiederkehren. Über die Struktur dieser Elementarteile gibt nun die allgemeine A. Aufschluß und man ist daher sehr oft genötigt, zur Ermittelung des feinern Baues der Gewebe das Mikroskop zu Hilfe zu nehmen. Ein besonderer Zweig ist daher die mikroskopische A. oder Gewebelehre (Histologie). Eine andre Behandlungsweise der A. unterscheidet am Körper größere oder kleinere Abteilungen (Regionen) und beschreibt die in jeder derselben vorkommenden Abschnitte der oben genannten Systeme, wobei sie zugleich auf zuweilen vorhandene Abweichungen der gewöhnlichen Lagenverhältnisse, die sogen. anatomischen Varietäten, Rücksicht nimmt. Sie wird topographische A. oder, da ihre Kenntnis besonders für den operierenden Chirurgen wichtig ist, chirurgische A. genannt. Zum Teil mit dieser zusammen fällt die A. für bildende Künstler, die neben der äußern Form des Körpers auch die Veränderungen, welche sich bei den Bewegungen desselben ergeben und durch das Spiel der Knochen und Muskeln bedingt sind, beschreibt und daher die Betrachtung des lebenden Körpers zu Hilfe nehmen muß (s. Litteratur). Die bisher genannten Disziplinen befassen sich sämtlich mit dem gesunden menschlichen Körper und werden daher zusammen auch als normale A. bezeichnet im Gegensatz zur pathologischen A. oder der Lehre vom Bau des kranken Körpers. Letztere wird stets getrennt abgehandelt und hat nicht nur die Unterschiede der kranken Teile von den gesunden zu verfolgen und die gegenseitigen Beziehungen derselben zu ermitteln, sondern auch die Symptome der Krankheiten, welche sich am lebenden Körper zeigen, aus den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen zu erklären. Die Grundlage der pathologischen A. ist selbstverständlich die normale A. in ihrem ganzen Umfang (vgl. Pathologie); daher zerfällt auch sie in einen speziellen und allgemeinen Teil, hat ihre gesonderte Gewebelehre etc.

Eine ganz besondere Stellung nimmt die vergleichende A. ein, die es mit der Vergleichung der gesamten Tierwelt mit Einschluß des Menschen zu [537] thun hat. Ursprünglich aus dem Bestreben hervorgegangen, für die Kenntnis des menschlichen Körpers Vergleichspunkte bei den ihm nahestehenden übrigen Säugetieren zu finden, hat sie sich namentlich in der Neuzeit über das ganze Tierreich erstreckt und ist so zu einem Teil der Zoologie (s. d.) im weitern Sinn geworden. Sie beschäftigt sich jedoch nur mit den ausgebildeten Formen, über Entstehung und Wachstum derselben verbreitet sich die Entwickelungsgeschichte; beide zusammen aber behandeln den Bau des tierischen Körpers zu jeder Zeit seiner Existenz und werden daher als Morphologie bezeichnet.

In der anatomischen Technik, die sich aus der praktischen A. entwickelte, unterscheidet man gewöhnlich, namentlich mit Bezug auf den Menschen, die Sektionen und das Präparieren. Unter Sektion (s. d.) versteht man die kunstgerechte Öffnung der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen befindlichen Eingeweide und Organe. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Trennung der einzelnen Teile voneinander, so daß sie ihrer Gestalt und Lage nach deutlich unterschieden werden können; man erhält so anatomische Präparate (s. d.) und stellt sie in den anatomischen Sammlungen oder Museen auf, bildet sie auch wohl in Wachs, Gips etc. nach sowie auf den anatomischen Tafeln ab.

Die geschichtliche Entwickelung der A. weist die leichtverständliche Thatsache auf, daß zuerst fast nur die Priester und Ärzte sich mit anatomischen Arbeiten befaßten. Bei den alten Griechen wurden nur Tierzergliederungen zu wissenschaftlichen Zwecken in größerer Ausdehnung vorgenommen, und so hat auch Aristoteles in seiner „Naturgeschichte des Tierreichs“ zahlreiche genaue Angaben über Tieranatomie niedergelegt. In der menschlichen A. dagegen waren die alten Griechen und Römer schlecht bewandert. Hippokrates kannte nur Knochen und Gelenke näher, verwechselte aber noch Sehnen und Nerven, Arterien und Venen miteinander. In der von Ptolemäos I. zu Alexandria gestifteten medizinischen Schule (320 v. Chr.) scheint die menschliche A. ihre erste Pflegstätte gefunden zu haben. Von dem in Rom lebenden Arzt Galenus (geb. 131 n. Chr.), welcher ebenfalls in Alexandria studierte, weiß man nicht genau, ob er je eine menschliche Leiche sezierte; seine anatomischen Beschreibungen beziehen sich wohl alle auf Hunde und Affen. Nichtsdestoweniger standen seine anatomischen Schriften das ganze Mittelalter hindurch im höchsten Ansehen. Erst mit Mondini, Professor zu Bologna, begann ein Aufschwung der A. Er zergliederte (1306) zuerst wieder zwei menschliche Leichen, und sein anatomisches Werk blieb gegen 200 Jahre lang fast ausschließlich im Gebrauch, zumal Papst Bonifacius VIII. diejenigen mit dem Kirchenbann belegte, die es wagten, einen Menschen zu zergliedern oder seine Gebeine auszukochen. Eine neue Epoche der A. beginnt im 16. Jahrh. mit dem berühmten Andreas Vesalius (geb. 1514; sein Werk „De corporis humani fabrica“ erschien 1543), dem sich Fallopia (mit seinen „Observationes anatomicae“) und Eustachio würdig anreihten. Von größter Wichtigkeit war die Entdeckung des Kreislaufs des Bluts durch den Engländer William Harvey (1578–1657); allmählich wurden auch die einzelnen Organe des menschlichen Körpers genauer bekannt und erhielten nicht selten Beinamen von den Forschern, welche sie auffanden (z. B. pancreas Aselli, capsula Glissonii, ductus Stenonianus, nervus accessorius Willisii). Der erste, welcher das Vergrößerungsglas zum Zweck anatomischer Untersuchungen anwendete und so zum Schöpfer der mikroskopischen A. wurde, ist Marcello Malpighi (1628–94). Die beiden Niederländer Leeuwenhoek (gest. 1723) und Swammerdam (gest. 1680) machten auf dem nämlichen Gebiet mannigfache Entdeckungen. Auch die vergleichende A., die man in frühern Zeiten nur aus Mangel an menschlichen Leichen einiger Aufmerksamkeit gewürdigt hatte, fing nun an, als eigne Wissenschaft kultiviert und zur Aufklärung und Erweiterung der menschlichen benutzt zu werden. Insbesondere leisteten ihr die damals ins Leben tretenden gelehrten Körperschaften, die Royal Society in London und die Académie des sciences in Paris, großen Vorschub. In Italien lebte um 1700 die seit Malpighis Tod schlummernde A. in Lancisi, Valsalva und seinen berühmten Schülern Santorini und Morgagni wieder auf. Besonders die Werke des letztern enthalten viele Bemerkungen aus dem ganzen Gebiet der A., und sein Buch über die pathologische A. steht noch heute in Ansehen. Am meisten ragt jedoch in der damaligen Zeit Albrecht v. Haller (gest. 1777) hervor. Sein großes Werk „Elementa physiologiae“ ist für die A. vielleicht ebenso bedeutungsvoll wie für die Physiologie. Nach ihm sind zu nennen: J. F. Meckel (gest. 1774), Camper (gest. 1789), John Hunter (gest. 1793) und sein Bruder William, K. F. Wolff (gest. 1764), Wrisberg (gest. 1808), Mascagni (gest. 1815), Reil (gest. 1813), Bichat (gest. 1802). Letzterer gilt mit Recht als Begründer der Histologie (Gewebelehre), die allerdings erst seit dem Auftreten der Zellentheorie (Schleiden und Schwann) sich zu ihrer jetzigen Höhe aufgeschwungen hat. In unserm Jahrhundert sind als bedeutende Anatomen zu nennen: Sömmerring, Scarpa, Hildebrandt, Rosenmüller, Langenbeck, Tiedemann, E. H. Weber, Meckel, Henle, Arnold, Reichert, Hyrtl, Luschka. Die beiden letztern haben auch auf dem Gebiet der chirurgischen A. viel geleistet, während diese Richtung bis dahin vorzugsweise von den Franzosen Portal, Velpeau, Malgaigne, Pétrequin, Richet mit Erfolg bearbeitet worden war. Vorzugsweise als Histologen waren oder sind noch thätig: Joh. Müller, Purkinje, Rud. Wagner, Kölliker, Gerlach, Max Schultze, Waldeyer, His, Frey, Robin, Ranvier, Beale, Harting. Die pathologische A. fand Berücksichtigung in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts vorzugsweise in Frankreich (Cruveilhier, Gendrin, Andral, Lobstein), seit 1840 jedoch in hervorragenderer Weise in Deutschland, wo namentlich Rokitansky in Wien und Virchow in Berlin sie gepflegt haben. Letzterer wandte zuerst die Zellenlehre auf sie an und wurde so der Schöpfer der sogen. Cellularpathologie. Von den Männern, welche sich um vergleichende A. verdient gemacht haben, sind zu nennen: Cuvier, Et. Geoffroy Saint-Hilaire, J. F. Meckel, Bojanus, K. G. Carus, Rathke, R. Wagner, Bronn und vor allen Joh. Müller; H. Milne Edwards, Leydig, Hyrtl, v. Siebold, R. Leuckart, O. Schmidt, Herting, E. Häckel, Th. Huxley, R. Owen und vor allen K. Gegenbaur.

Litteratur. Meckel, Handbuch der menschlichen A. (Halle u. Berl. 1815–20, 4 Bde.); Cruveilhier, Traité d’anatomie descriptive (5. Aufl., Par. 1871–1878, 3 Bde.); Krause, Handbuch der menschlichen A. (3. Aufl., Hannov. 1876–80, 3 Bde.); Arnold, Handbuch der A. des Menschen (Freiburg 1843–51); Meyer, Lehrbuch der A. des Menschen (3. Aufl., Leipz. 1873); Sappey, Traité d’anatomie descriptive (3. Aufl., Par. 1876–78, 4 Bde.); Quain, Handbuch der A. (deutsch von Hoffmann, Erlang. 1869–71); Henle, Handbuch der systematischen A. des Menschen (Braunschw. 1871, 4 Bde.); Hyrtl, Lehrbuch der A. [538] des Menschen (16. Aufl., Wien 1882); Langenbeck, Icones anatomicae (Götting. 1826–38); Arnold, Tabulae anatomicae (Zür. 1838–43); Froriep, Atlas anatomicus (5. Aufl., Weim. 1865); Bock, Handatlas der A. des Menschen (6. Aufl., Berl. 1871); Cooper, Lectures on anatomy (Lond. 1835, 4 Bde.); Malgaigne, Traité d’anatomie chirurgicale (2. Aufl., Par. 1859, 2 Bde.); Richet, Traité d’anatomie medico-chirurgicale (5. Aufl., das. 1877); Cuvier, Leçons d’anatomie comparée (2. Aufl., das. 1836–46, 9 Bde.); Carus, Icones zootomicae (Leipz. 1857, Teil 1); Owen, Comparative anatomy and physiology of the vertebrates (Lond. 1866–68, 3 Bde.); Siebold und Stannius, Lehrbuch der vergleichenden A. (Berl. 1845–48, 2 Bde.); Gegenbaur, Grundriß der vergleichenden A. (2. Aufl., Leipz. 1878); Derselbe, Lehrbuch der A. des Menschen (das. 1883); O. Schmidt, Handbuch der vergleichenden A. (8. Aufl., Jena 1882); Bergmann und Leuckart, Anatomisch-physiologische Übersicht des Tierreichs (Stuttg. 1851–53); Milne Edwards, Leçons sur la physiologie et l’anatomie comparée de l’homme et des animaux (Par. 1857–81, 14 Bde.); Huxley, Anatomie der Wirbeltiere (deutsch, Berl. 1873); Derselbe, Grundzüge der A. der wirbellosen Tiere (deutsch, Leipz. 1878); Franck, Handbuch der A. der Haussäugetiere (2. Aufl., Stuttg. 1884); Wilckens, Form und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (Wien 1878); Müller, Lehrbuch der A. der Haussäugetiere (3. Aufl., das. 1884); Bendz, Körperbau und Leben der landwirtschaftlichen Haustiere (deutsch von Fock, Berl. 1876).

Auch für Künstler ist neben den praktischen Übungen in den Seziersälen und in den Vorlesungen (s. oben) das Studium der A. durch eine Reihe von Werken mit theoretischen Anweisungen ermöglicht. Als dasjenige, welches die Bedürfnisse der Künstler am meisten und in klarster Darstellung berücksichtigt, ist Karl Langers „A. der äußern Formen des menschlichen Körpers“ (Wien 1884) zu empfehlen. Das ausführlichste und gründlichste ist E. Harleß’ „Lehrbuch der plastischen A. für akademische Anstalten und zum Selbstunterricht“ (2. Aufl. von Rob. Hartmann, Stuttg. 1876), unter besonderer Berücksichtigung der Anthropologie; es erfordert indessen ein sehr eindringliches Studium. Als Ergänzung zu beiden Werken dient Chr. Roths „Plastisch-anatomischer Atlas zum Studium des Modells und der Antike“ (Stuttg. 1872). Speziell an die Künstler wenden sich auch A. Frorieps „A. für Künstler“ (Leipz. 1880), M. Duvals „Anatomie artistique“ (Par. 1881). In Akademien und Kunstschulen sind zum Zweck des Anschauungsunterrichts auch große Wandtafeln mit anatomischen Normalfiguren (z. B. dem Borghesischen Fechter) eingeführt.