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MKL1888:Anilin

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Anilin“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Anilin“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 1 (1885), Seite 590593
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Anilin. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 590–593. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Anilin (Version vom 16.03.2023)

[590] Anilin (Amidobenzol, Phenylamin, Kristallin, Kyanol, Benzidam) C6H7N, eine organische Base, findet sich im Teer der Steinkohlen (0,3–0,5 Proz.), des Torfs und der Knochen, entsteht bei der Destillation des Indigos (daher der Name A., v. portug. anil, d. h. Indigo) mit kaustischen Alkalien, beim Erhitzen von Phenol mit Ammoniak, bei der Reduktion von Nitrobenzol C6H5NO2 etc. Industriell wird A. aus Nitrobenzol gewonnen, welches man durch Einwirkung von Salpetersäure auf Benzol erhält. Letzteres ist ein Bestandteil des Steinkohlenteers und wird durch Destillation aus demselben abgeschieden. Neben dem Benzol aber gewinnt man Toluol, und diese beiden Kohlenwasserstoffe sind einander so ähnlich, daß es komplizierter Destillationsapparate bedarf, um sie voneinander zu trennen. Diese Trennung wird aber nur für ganz bestimmte Zwecke ausgeführt, in der Regel begnügt man sich mit der Darstellung von Produkten, aus deren spezifischem Gewicht sich annähernd das Verhältnis, in welchem sie Benzol und Toluol enthalten, ergibt. Diese „Benzole“ des Handels liefern bei Einwirkung von Salpetersäure ein Gemisch von Nitrobenzol und Nitrotoluol, und aus diesem wird durch Reduktion unter dem Namen Anilinöl ein Produkt erhalten, welches aus A. und Toluidin besteht. Unter dem Namen Toluol bergen sich aber zwei isomere Kohlenwasserstoffe, die entsprechend zwei isomere Toluidine liefern, und somit ist das Anilinöl ein Gemisch von drei Körpern. Neben demselben kommt für manche Zwecke ein sogen. reines A. im Handel vor, welches nur sehr wenig Toluidin enthält, und außerdem ein sogen. reines Toluidin mit sehr geringem Anilingehalt.

Das chemisch reine A. ist ein farbloses Öl vom spez. Gew. 1,036, riecht aromatisch, honigähnlich, erstarrt bei −8°, löst sich in 31 Teilen Wasser, mischt sich mit Alkohol, Äther und Ölen, verflüchtigt sich bei gewöhnlicher Temperatur, siedet bei 184°, brennt mit leuchtender, rußender Flamme und bildet mit Säuren farb- und geruchlose, gut kristallisierende Salze (daher Kristallin), welche in Wasser und Alkohol löslich sind, Fichtenholz gelb färben (so daß man sie zur Nachweisung von Holzstoff in Papier benutzen kann) und mit Chlorkalk eine violette Färbung liefern. Über die Wirkungen des Anilins auf den Organismus s. Anilismus. Zur fabrikmäßigen Darstellung von A. bringt man Nitrobenzol in einen eisernen, mit Rührwerk versehenen Cylinder, fügt Eisen und Salzsäure hinzu, verschließt den Cylinder und leitet die Reaktion ein, indem man Dampf durch die hohle Welle des Rührwerks in den Cylinder treten läßt. Weiterhin erfolgt dann durch die Reaktion selbst bedeutende Temperaturerhöhung, und es destilliert etwas Nitrobenzol über, welches in den Cylinder zurückgegeben wird. Die Reduktion des Nitrobenzols erfolgt durch den Wasserstoff, welchen das Eisen aus der Salzsäure abscheidet, und durch das gebildete Eisenchlorür. [591] Es entsteht salzsaures A., und wenn man nun gelöschten Kalk zusetzt und gespannten Wasserdampf in den Cylinder leitet, so destilliert das A. über, welches zur Reinigung rektifiziert wird.

Der Rückstand von der Destillation besteht aus Eisen, Oxyden und Chloriden des Eisens und teerigen Substanzen. Sie sammeln sich in der Nähe der Fabriken zu wahren Bergen an, die früher sehr lästig wurden, jetzt aber auf Eisen verhüttet und auf Eisenvitriol und künstliche Steine (namentlich auch für basisches Bessemerbirnenfutter) verarbeitet werden.

Anilinfarben.

Die Anilinöle geben bei der Behandlung mit oxydierenden Substanzen verschiedene Farbstoffe, welche man unter dem Namen Anilinfarben zusammenfaßt. Bei der Einwirkung von Arsensäure auf A. (als Nebenprodukt der Fuchsindarstellung) entsteht Violanilin C12H15N3, eine Base, welche mit Säuren violette Salze bildet. Wirkt Arsensäure auf salzsaures A., so entsteht ein Gemisch von Violanilin mit Triphenylendiaminblau, welches durch Behandeln mit konzentrierter Schwefelsäure in die entsprechenden Sulfosäuren übergeführt wird. Diese dienen als Bleu Coupier in der Seiden- und Wollfärberei. Im Violanilin kann man Wasserstoffatome durch Alkoholradikale ersetzen. Aus dem auf solche Weise erhaltenen Trimethylviolanilin und Triphenylviolanilin bereitet man Sulfosäuren, die in der Färberei und zu Tintenpulvern benutzt werden. Bei Einwirkung von Salzsäure auf Violanilin entsteht Triphenylendiaminblau C18H12N2, dessen Sulfoderivat als Marineblau zur Woll- und Seidenfärberei dient. Bei der Fuchsindarstellung durch Behandeln von Nitrobenzol mit A. entsteht Azodiphenylblau, welches wahrscheinlich mit Violanilin identisch ist.

Weitaus am wichtigsten ist die Darstellung von Rosanilin C20H19N3. Dies entsteht, wenn ein Gemisch von A. und Toluidin mit Arsensäure, Chlorkohlenstoff, Zinnchlorid oder salpetersaurem Quecksilberoxydul behandelt wird. Neben dem Rosanilin entstehen außer andern Produkten noch violettes Violanilin C18H15N3, rotviolettes Mauvanilin C19H17N3 und gelbes Chrysanilin C21H21N3, welche eine homologe Reihe bilden. Nach dem ältern Verfahren erhitzt man in einem eisernen Kessel mit Rührwerk Anilinöl mit Arsensäure 8–9 Stunden lang auf 190°. Die erhaltene Fuchsinschmelze wird gemahlen und unter einem Druck von etwa 4 Atmosphären mit Wasser ausgekocht. Man trennt die Lösung auf Filterpressen von dem ungelöst Gebliebenen, zieht sie nach dem Erkalten vom ausgeschiedenen Violanilin ab und setzt Kochsalz hinzu. Das hierbei sich ausscheidende salzsaure Rosanilin bildet, durch Umkristallisieren gereinigt, das Fuchsin (Anilinrot, Rosein, Azalein, Magenta, Solferino) des Handels. Als Nebenprodukte der Fuchsinbereitung gewinnt man gelbes Phosphin (Granat, Xanthin, gelbes Fuchsin), Kastanienbraun (Marron), Mauvanilin, Chrysanilin und die oben schon genannten Farbstoffe. Die arsenhaltigen Rückstände bieten große Schwierigkeiten dar und müssen aufgearbeitet werden, da sie nicht leicht in unschädlicher Weise zu beseitigen sind. Man versetzt sie z. B. mit Manganchlorür, fällt mit Kalkmilch arsenigsauren Kalk, mischt diesen mit allerlei arsenhaltigen harzigen Rückständen von der Fuchsinbereitung, mit Kohle, Sägemehl, Teer und verbrennt ihn in besonders konstruierten Öfen, mit welchen Giftkammern verbunden sind. In diesen sammelt sich arsenige Säure, die wieder in Arsensäure verwandelt wird. Nach Coupiers Verfahren wird die Arsensäure ganz vermieden. Man erhitzt in einem mit Rührwerk versehenen Kessel Anilinöl, welches zu zwei Dritteln mit Salzsäure neutralisiert ist, mit Nitrobenzol und etwas Eisen, löst die Schmelze in Wasser, setzt Kalk hinzu, um noch vorhandenes salzsaures A. zu zersetzen, destilliert das frei gewordene A. ab und reinigt das ausgeschiedene salzsaure Rosanilin durch Umkristallisieren. Bei diesem Prozeß wird das Eisen zunächst in Eisenchlorür verwandelt, und dies oxydiert sich durch Einwirkung des Sauerstoffs des Nitrobenzols zu Eisenchlorid, welches wieder durch das A. reduziert wird etc. Die harzigen Rückstände von dieser Methode werden der trocknen Destillation unterworfen, wobei man Ammoniakwasser und basische Öle erhält, aus denen wieder A., Toluidin, Naphthylamin und Diphenylamin gewonnen werden.

Das Rosanilin ist farblos, kristallinisch, in Wasser wenig, in Alkohol etwas leichter löslich, bildet mit 1 Molekül Säure sehr beständige Salze, welche im durchfallenden Lichte dunkelrot sind, im auffallenden Licht wie die grünen Flügeldecken mancher Käfer metallisch schimmern und sich meist in Wasser und Alkohol mit dunkelroter Farbe lösen. Die zweisäurigen Salze sind blau und geben eine violette Lösung, die dreisäurigen sind gelbbraun, sehr unbeständig und werden schon durch Wasser zersetzt. Das salzsaure Rosanilin ist wenig löslich in Wasser, leichter in Alkohol, nicht in Äther, färbt 100 Mill. Teile Wasser deutlich rot, und 1 Teil genügt zum Färben von 200 Teilen Wolle. Auch das essigsaure Rosanilin wird, namentlich in England, als Fuchsin benutzt. Rubin ist arsenfreies Fuchsin, Cerise eine geringere Sorte. In neuerer Zeit stellt man Sulfosäuren des Rosanilins dar, deren Salze den Farbton des ursprünglichen Farbstoffs behalten, aber sich in Wasser, bez. in Alkali lösen, weniger lichtempfindlich sind als die Rosanilinsalze und in der Färberei und Druckerei im Verein mit sauren Beizen angewandt werden können.

Rosanilin entsteht aus 2 Mol. Toluidin und 1 Mol. A., während sich aus 1 Mol. Toluidin und 2 Mol. A. das Pararosanilin C19H17N3 bildet, von welchem ebenfalls viele Farbstoffe abstammen. Hierher gehört das Methylviolett (Violet de Paris, Dahlia) C24H28N3Cl, welches durch Oxydation des Dimethylanilins erhalten wird. Dies entsteht durch Behandeln von A. mit Jod-, Brom-, Chlormethyl- oder Salpetersäuremethyläther oder durch Erhitzen von salzsaurem A. mit Methylalkohol, indem 2 Atome Wasserstoff im A. durch die Atomgruppe Methyl ersetzt werden. In Frankreich erhitzt man in einem mit Rührwerk versehenen Digestor A. mit Natronlauge auf 100°, läßt Chlormethyl zufließen und destilliert das gebildete Methylanilin mit Dampf ab. In Deutschland wird ein Gemisch von salzsaurem A. mit A. und Methylalkohol unter einem Druck von 22–25 Atmosphären auf 230–280° erhitzt, darauf Kalk zugesetzt und mit Wasserdampf destilliert. Zur Oxydation des Methylanilins mischt man Sand mit salpetersaurem Kupferoxyd und Chlornatrium, setzt Methylanilin zu, läßt die Mischung 24 Stunden bei 40° stehen, verwandelt dann das mit dem Farbstoff verbundene Kupfer durch Natriumsulfhydrat in Schwefelkupfer, zieht den Farbstoff mit Salzsäure aus und reinigt ihn durch Umkristallisieren. Er bildet eine grüne, metallisch glänzende Masse, löst sich in Wasser, leichter in Alkohol, mit prachtvoll violetter Farbe und läßt sich durch konzentrierte Schwefelsäure in die Sulfosäure verwandeln.

[592] Erhitzt man in einem Digestor Methylviolett mit Methylalkohol und Natriumhydrat, läßt bei 90° unter einem Druck von 5–6 Atmosphären Chlormethyl zufließen, scheidet nach dem Erkalten das unverändert gebliebene Methylviolett durch Zusatz von Alkali ab und versetzt das Filtrat mit Salzsäure und Zinkchlorid, so bildet sich eine schwer lösliche Zinkverbindung, welche als Methylgrün C25H29N3Cl2 in den Handel kommt. Dies ist ein schöner Farbstoff, zerfällt aber bei 100° in Violett und Chlormethyl und ist auch gegen Seife empfindlich. Zur Darstellung von Malachit- oder Bittermandelgrün C23H25N2Cl mischt man Dimethylanilin mit Chlorzink und Sand, erhitzt mit Benzotrichlorid auf 110°, zieht mit kochendem Wasser aus und fällt aus der Lösung den Farbstoff mit Chlornatrium. Es ist das Zinkdoppelsalz der Farbebase, welche auch mit Hilfe von Bittermandelöl (Benzaldehyd) dargestellt werden kann. Die Salze der Sulfosäure zeigen auf der Faser eine höhere Widerstandsfähigkeit. Ein andres Anilingrün, Vert d’Usèbe, Aldehydgrün, entsteht bei Behandlung von schwefelsaurem Rosanilin mit Aldehyd und Erhitzen der homogenen Masse mit einer Lösung von unterschwefligsaurem Natron. Man benutzt die filtrierte Flüssigkeit unmittelbar als Färbebad oder fällt sie mit essigsaurem Natron oder Tannin. Chlorsaures Kali oder chlorige Säure gibt mit salzsaurem A. das Emeraldin, einen sehr beständigen, in Wasser, Alkohol, Säure und Alkalien unlöslichen grünen Niederschlag, welchen man direkt auf der Faser erzeugen kann.

Bei der Einwirkung von A. auf salzsaures A. bei 220–250° entsteht Diphenylamin, welches, mit Salzsäure ausgezogen, aus der Lösung durch viel Wasser gefällt und durch Rektifikation gereinigt wird. Erhitzt man dasselbe mit Oxalsäure auf 110–120°, so entsteht Diphenylaminblau, welches durch Überführung in die Sulfosäure wasserlöslich gemacht wird. Man kann auch das Diphenylamin in die Sulfosäure verwandeln und diese mit Oxalsäure nicht über 30° erhitzen. Die Ammoniak-, Natron- und Kalksalze dieser Säure finden in der Technik vielfach Verwendung. Durch Nitrierung liefert Diphenylamin gelbe und gelbrote Farbstoffe (Citronin ist Dinitrodiphenylamin, Aurantia [s. d.] Hexanitrodiphenylamin). Leiten sich die genannten Farbstoffe von dem Pararosanilin ab, so liefert auch das Rosanilin mehrere Farbstoffe. Wird die Base in alkoholischer Lösung mit Jodmethyl oder Jodäthyl behandelt, so entsteht Trimethylrosanilinjodid oder die entsprechende Äthylverbindung, welche als Hofmanns Violett (Neu-, Jodviolett) in den Handel gekommen, aber seit Einführung des billigern Methylvioletts in den Hintergrund getreten ist. Erhitzt man ein Rosanilinsalz mit A., so werden Wasserstoffatome durch Phenylgruppen ausgetauscht, und es entstehen rotviolettes Monophenylrosanilin (Amarant), blauviolettes Diphenylrosanilin (Violet de Parme) und blaues Triphenylrosanilin (Lichtblau, Azulin, Azurin, Bleu de Lyon). Letzteres wird besonders durch Erhitzen von Rosanilin mit A. und etwas Benzoesäure auf 180° erhalten; es entweicht dabei viel A. und Ammoniak, und wenn man die Masse dann in Salzsäure bringt, so scheidet sich der Farbstoff aus. Das Lichtblau ist nur in Spiritus löslich, doch werden mehrere wasserlösliche Sulfosäuresalze dargestellt (Nicholsons Blau, Alkaliblau, Wasserblau, Chinablau). Wird Trimethylrosanilin noch weiter mit Jodmethyl behandelt, so entsteht Jodgrün, welches als Zinkdoppelsalz in den Handel kam, aber durch das billigere Methylgrün verdrängt wurde. Wird salzsaures Rosanilin mit salzsaurem A. auf 240° erhitzt, so entsteht Bismarckbraun, ein schwarzgrünes Pulver, welches sich mit brauner Farbe in Alkohol löst und in der Seiden- und Lederfärberei viel benutzt wird.

Anilingelb (Anilinorange, Aurin) wird aus dem harzartigen Nebenprodukt von der Rosanilinbereitung gewonnen. Aus der mit einem Dampfstrahl bereiteten Lösung fällt man das schwer lösliche salpetersaure Salz des Chrysanilins C20H17N3. Diese Base ist amorph, gelb, fast unlöslich in Wasser, leicht löslich in Alkohol und färbt, wie auch ihre Salze, Seide und Wolle schön goldgelb. Ein Oxydationsprodukt des Anilins von noch nicht sicher erkannter Konstitution ist das Anilinschwarz (Indigschwarz, Lukasschwarz), welches seiner Unlöslichkeit halber nicht in Fabriken, sondern in den Färbereien direkt auf der Faser erzeugt wird. Man druckt auf das Gewebe eine durch Gummi verdickte Lösung von möglichst toluidinfreiem salzsauren A., chlorsaurem Kali und Salmiak, welche mit einer Kupferverbindung (vorzugsweise Schwefelkupfer) versetzt ist, und läßt das Schwarz unter Zutritt des Sauerstoffs der Luft bei etwa 30° sich entwickeln. Statt des Kupfers hat man mit gutem Erfolg auch Vanadin- und Cersalze angewandt. Ein Teil Vanadinchlorür soll bei Gegenwart von chlorsaurem Kali 1000 Teile salzsaures A. verwandeln. Oft wird das Schwarz nach einiger Zeit grün, doch kann dies vermieden werden, wenn man die Gewebe mit chromsaurem Kali und Schwefelsäure behandelt. Wenn man konzentrierte Lösungen von Anilinsalzen durch den galvanischen Strom zersetzt, so scheidet sich am positiven Pol Anilinschwarz aus. In konzentrierter Schwefelsäure löst sich das Schwarz zu einer Sulfosäure, deren alkalische Lösung durch reduzierende Körper entfärbt wird, unter dem Einfluß des Sauerstoffs der Luft aber wieder Anilinschwarz liefert. Das A. wird nur in der Zeugdruckerei benutzt und zeichnet sich durch seine vollkommene Echtheit aus.

Anilinfarben finden sich in der Natur; die im Mittelmeer und an der portugiesischen Küste lebende Molluskenspezies Aplysia depilans Gm. (Seehase) sondert in einem unter ihrem Mantellappen liegenden blasenartigen Organ ein flüssiges Anilinrot und Anilinviolett ab, welches dem Tier als Verteidigungswaffe dient, indem es, ausgespritzt, das Wasser trübt und vergiftet. Auch beim Rot- und Blauwerden der Speisen („blutendes Brot“ etc.), einem durch Bakterien vermittelten Fäulnisprozeß der Proteinkörper, bilden sich Anilinfarben. Die Anilinfarben sind an sich nicht giftig, doch enthält nicht kristallisierte Ware bisweilen giftige, zu ihrer Bereitung benutzte Stoffe, wie Arsenik, Quecksilbersalze, die indes auch nur unter besondern Verhältnissen schädlich werden können. Mit Fuchsin gefärbte Nahrungsmittel enthalten so außerordentlich wenig Farbstoff, daß ein Gehalt an Arsen, welcher doch immer in engen Grenzen bleibt, kaum noch in Betracht kommt. Enthielte das Fuchsin selbst 10 Proz. Arsen (was niemals vorkommt), so würde man in 100 ccm eines damit gefärbten Likörs doch nur 0,02 mg Arsen dem Körper zuführen, eine Dosis, die völlig unschädlich ist. Daß mit Anilinrot gefärbte Zeuge irgendwie schädlich sich erwiesen hätten, ist niemals behauptet oder beobachtet worden; wohl aber könnten mit Anilinrot bedruckte Stoffe Gefahr bringen, wenn von dem vorausgesetzt stark arsenhaltigen Farbstoff mit der vielleicht angewandten arsenhaltigen Beize erheblichere Mengen sich abrieben und [593] staubförmig in die Mundhöhle und den Magen gelangten. Sehr giftig aber können auch die mit Anilinfarbe bedruckten Tapeten werden, da eine Anzahl gewissenloser Fabrikanten die Anilinfarbenrückstände, welche häufig einen bedeutenden Gehalt von Arsen enthalten, aufkaufen. Übrigens ist zu berücksichtigen, daß im Publikum der Name A. auf alle Teerfarbstoffe ausgedehnt wird, unter denen sich allerdings mehrere befinden, die mit Entschiedenheit als giftig bezeichnet werden müssen.

Das A. wurde 1826 von Unverdorben aus Indigo erhalten und Kristallin genannt; Runge beschrieb es 1837 als Kyanol, welches er aus Steinkohlenteer gewonnen hatte; Fritzsche bereitete es 1840 durch Destillation von Indigo mit Kalihydrat; Zinin gewann 1842 sein Benzidam aus Nitrobenzol, worauf Hofmann 1843 die Identität aller vier Körper nachwies. Die Bildung farbiger Produkte beobachtete zuerst Runge. Beißenhirz entdeckte 1853 die Entstehung eines blauen Farbstoffs beim Behandeln von A. mit chromsaurem Kali und Schwefelsäure, aber Perkins brachte 1856 die erste nach demselben Verfahren bereitete Anilinfarbe (Mauvein) in den Handel. Im J. 1858 entdeckte Hofmann bei der Einwirkung von Chlorkohlenstoff auf A. das Anilinrot. Verguin erhielt unabhängig von Hofmann denselben Farbstoff durch Zinnchlorid und nahm mit Gebrüder Renard, Färbern in Lyon, Patente in England und Frankreich auf die Darstellung von Fuchsin. Sie erwarben auch die von Girard und Delaire gemachte Erfindung der Fuchsinbereitung mittels Arsensäure, und seitdem ist die Fabrikation von Fuchsin in Frankreich durch die Société de la Fuchsine in Lyon monopolisiert. Hofmann erforschte die Natur der neuen Farbstoffe, erklärte die Bildung von Anilinblau aus Fuchsin und A. und entdeckte die mit Alkoholjodüren darstellbaren Farbstoffe. Die Anilinfarbenindustrie hat in kurzer Zeit eine außerordentliche Bedeutung gewonnen. Man konsumierte schon 1869 über 1,5 Mill. kg Anilinöl und davon 1 Mill. allein in Deutschland, den Rest in Frankreich, England und der Schweiz. Im J. 1879 betrug die Tagesproduktion in England 2500 kg (mit nur geringer Ausfuhr), in Frankreich 5–6000 kg (davon über 2/3 Export nach Deutschland), in Deutschland 9000 kg. Obwohl die Begründung der Anilinfarbenindustrie und ihre ersten wichtigsten Erfindungen auf englischem und französischem Boden stattfanden, beteiligte sich doch Deutschland gleich anfangs durch billige und gute Fabrikate an derselben und lief bald allen Mitbewerbern den Rang ab. Seine meist sehr bedeutenden Fabriken liegen hauptsächlich in Südwest- und Westdeutschland und beteiligen sich an der europäischen Gesamtfabrikation mit ungefähr der Hälfte. Bei weitem die größte Menge der Anilinfarben findet in der Färberei Verwendung. In der That sind die Vorzüge dieser Farbstoffe vor andern Pigmenten sehr bedeutend. An Glanz und Schönheit sowie an Leichtigkeit der Färbeprozesse werden sie von kaum irgend einem andern Färbematerial erreicht, während zugleich ihr Preis ein so niedriger ist, daß bei ihrer eminenten Ausgiebigkeit nur wenige andre Stoffe damit konkurrieren können. Am schönsten erscheinen die Anilinfarben auf Seide, durch welche sie ohne weiteres aus kalter Lösung fixiert werden; daher beherrschen gegenwärtig die Anilinfarben die Seidenfärberei vollständig. Wolle färbt sich in erwärmten Lösungen von Anilinfarben ebenso leicht wie Seide, aber ihre Verwendung beschränkt sich hier doch auf Kammwollgewebe für Frauenkleidung und auf Wollgarn. Am wenigsten eignen sich die Anilinfarben für Baumwolle, welche dieselben nur nach vorhergegangener Beizung aufnimmt; immerhin hat der Zeugdruck mit den Anilinfarben einige prachtvolle Effekte erzielt. Leider werden alle diese Farbstoffe durch Licht sehr schnell zerstört, sie gehören in dieser Beziehung zu den vergänglichsten Pigmenten. Durch starke Alkalien oder Säuren werden sie zwar entfärbt, aber beim Waschen erscheint die Farbe wieder; nur durch längere Behandlung mit verdünntem Ammoniak und sorgfältiges Auswaschen kann man sie ziemlich vollständig entfernen. Zur Papierfärberei benutzt man mit Alaun, Tannin, Seifen bereitete Farblacke; nicht unbedeutende Mengen von Anilinfarben werden auch zum Färben von Likören, Essig, Zuckerwaren, Elfenbein, Horn, Leder etc. verbraucht; für die Aquarellmalerei sind besondere Präparate dargestellt worden, aber zur Ölmalerei und zum Färben von Fetten sind die Anilinfarben nicht verwendbar. Auch in der Buchdruckerei werden die Anilinfarben vielfach zum Druck feiner Arbeiten benutzt (s. Buchdruckfarben).

Vgl. Kopp, Examen des matières colorantes artificielles dérivées du goudron de houille (Zabern 1863, 2 Bde.); Reimann, Technologie des Anilins (Berl. 1866); Krieg, Theorie und praktische Anwendung von A. in der Färberei und Druckerei (3. Aufl. von Oppler, das. 1860); „Rapports du jury international“, Teil 7 (Par. 1868); M. Vogel, Entwickelung der Anilinindustrie (2. Aufl., Leipz. 1870); Bolley, Altes und Neues aus Farbenchemie und Färberei (Berl. 1868); Derselbe, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. 5 (Braunschw. 1870); Beckers, Anilinfärberei (5. Aufl. von Reimann, Berl. 1874); Girard und de Laire, Traité des dérivés de la houille applicables à la production des matières colorantes (Par. 1873); Wurtz, Progrès de l’industrie des matières colorantes artificielles (das. 1876); Ostermayer, Die organischen Farbstoffe der Steinkohlenteerindustrie (Lörrach 1879); Mierzinsky, Die Teerfarbstoffe, ihre Darstellung und Anwendung (Leipz. 1878); Bersch, Fabrikation der Anilinfarbstoffe (Wien 1878); Schultz, Chemie des Steinkohlenteers (Braunschw. 1882).


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 22
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[22] Anilin, s. Pyoktanin.