MKL1888:Aristotelische Philosophie

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Aristotelische Philosophie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 817820
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Aristotelische Philosophie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 817–820. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Aristotelische_Philosophie (Version vom 07.05.2022)

[817] Aristotelische Philosophie. Aristoteles ist mit seinem großen Vorgänger Platon darüber einverstanden, daß, wenn es kein Allgemeines (Begriff, Gattung) an den Dingen gäbe, auch kein Wissen von diesen möglich wäre; darin aber bildet er den direkten Gegensatz zu Platon, daß er als echter, vornehmlich der organischen Natur zugewandter Naturforscher nicht das Allgemeine (die Gattungsidee), sondern das Einzelne (die Individuen) für das wahrhaft Existierende erkennt. Zwar hat z. B. jedes einzelne Pferd die Gattungsmerkmale (den Allgemeinbegriff) eines solchen an sich; wirklich ist aber darum doch nicht der Begriff Pferd, sondern das Pferdindividuum. Der Begriff kommt zur Wirklichkeit nur, indem er sich verkörpert, d. h. zur Form (zum gestaltenden Prinzip) einer Materie (eines bildsamen Stoffs) wird. An jedem wirklichen Ding (mit Ausnahme eines einzigen, der Gottheit) ist beides, Form und Materie (wie am Menschen Seele und Leib), zu unterscheiden, obgleich niemals zu trennen, indem (mit Ausnahme wieder jenes einzigen) Form nie ohne Materie, diese nie ohne jene gegeben ist. Die Ausgestaltung des Stoffs durch die Form aber geht niemals plötzlich, sondern, wie Aristoteles wieder im Anschluß an die unmittelbaren Thatsachen der organischen Natur bemerkt, stets allmählich vor sich, so daß das schließlich Wirkliche (Ausgebildete) anfänglich nur als Mögliches (Anlage zur Ausbildung, Angelegtes), wie das Hühnchen im Ei, die Pflanze im Samenkorn, existierte. Das zu Verwirklichende (der Begriff des Huhns, der Pflanze) macht hierbei die Zweck-, die gestaltende Form (die „Seele“ des Huhns, der Pflanze) die wirkende und der von letzterer gestaltete Stoff (die organische Materie) die materiale Ursache des Wirklichen (des lebendigen Hühnchens, der lebenden Pflanze) aus (das um dieses Insichtragens des Zwecks, griech. telos, willen Entelechie, d. h. das seinen Endzweck in sich Habende, heißt). Der Übergang aus der bloßen Anlage (Potenzialität) in Wirklichkeit (Aktualität) erfolgt durch Bewegung. Damit diese eintrete, der Übergang aus bloßer Anlage zu sein in wirkliches Sein erfolge, bedarf es selbst einer Ursache, und da sich bei dieser das Nämliche, Übergang aus Nichtwirksamkeit in Wirksamkeit, also Bewegung, wiederholt, einer weitern Ursache u. s. f. Da nun die Reihe dieser Ursachen nicht ins Endlose gehen kann, weil es sonst gar keine Ursache gäbe, so muß eine letzte Ursache vorhanden sein; diese aber als letzte darf in keiner Weise bloße Anlage (bloßes Vermögen) zum Thätigsein, sondern muß Thätigkeit schlechthin sein, da sie sonst (gegen ihren Begriff als letzte) selbst einer weitern Ursache bedürftig wäre, um aus bloßem Vermögen zur That in diese selbst überzugehen. Es muß eine selbst unbewegte Ursache aller Bewegung geben, da jedes Unbewegte nur durch ein in Bewegung Befindliches in Bewegung gesetzt werden kann. Nicht nur wird ein ruhender Körper durch einen bereits bewegten bewegt, sondern auch ein Lebensfähiges, aber Unbelebtes nur durch ein bereits Lebendiges belebt. Zeugnis des erstern ist die an sich bewegungslose Materie, die durch den Anstoß des ersten Bewegers in Umschwung gesetzt wird; Zeugnis des letztern die (von Aristoteles zum Gegenstand einer eignen Schrift gemachte) Zeugung der organischen Wesen (vor allen der Tiere), deren (lebensfähiger, aber noch lebloser) Keim, das Ei, der Befruchtung durch die lebenden Eltern bedarf, um zum Leben zu gelangen. In jenem Fall entstehen Bewegungs-, in diesem Generationsreihen, welche beide, da auch der Übergang aus Nichtzeugen in Zeugen schließlich eine Bewegung ist, auf die eine unbewegte Ursache aller Bewegung, den ersten Beweger, Gott, als Quell- und Ausgangspunkt aller Bewegung und alles Lebens zurückführen. Dieser selbst ist seinem Wesen nach reine That (Energeia), nicht bloßes Vermögen (Dynamis), als welche er folglich weder jemals begonnen haben, noch jemals aufhören kann, thätig zu sein, weil er im erstern Fall einer Ursache bedürfte, um aus bloßem Vermögen in That, im letztern einer solchen, um aus That in bloßes Vermögen überzugehen, in keinem Fall also selbst letzte Ursache wäre. Gott ist notwendig ewig, da die durch ihn bewirkte Bewegung ohne Anfang und Ende ist, wie umgekehrt auch die von ihm bewirkte Bewegung selbst ewig ist, weil er als reine That weder anfangen, noch aufhören kann, dieselbe zu bewirken. Er ist immateriell, unveränderlich, leidenlos; weil er nicht nur sonst selbst eines Bewegers, wie alle Materie, bedürftig, sondern auch ohne einen solchen, der mit dem Begriff eines ersten Bewegers unvereinbar ist, kein Leiden denkbar wäre. Er ist unbeweglich, obgleich er andres bewegt; denn er bewegt nur, wie es das Schöne thut und das sonst als liebenswürdig Anziehende, welches den nach ihm Begehrenden in Bewegung versetzt, ohne selbst in solcher zu sein, d. h. Gott bewegt als Ideal, dem das der Gestaltung (durch die Form) Bedürftige (die Materie) zustrebt. Er ist Einer, denn das der Zahl nach Viele hat Materie; rein [818] Form (ohne Stoff, Seele und Leib), von allem Seienden das einzige, dessen Thun nicht Gestalten materiellen, sondern selbst geistigen Stoffs, nicht (praktisches) Handeln, sondern (theoretisches) Denken ist, keinen Zweck außer sich hat, sondern selbst Zweck ist, dem alle Materie durch Unterwerfung unter die Form sich zu nahen die Bestimmung hat. In Gott ist das Denken sich selbst Gegenstand; er ist Denken des Denkens; sein Thun, da er sich selbst genügend, keines von ihm verschiedenen Dinges bedürftig ist, die angenehmste und seligste Beschäftigung. Gott (die stofflose Form) und die Materie (der formlose Stoff) stellen entgegengesetzte Endpunkte dar, zwischen welchen näher dem einen oder dem andern stufenförmig geordnet alle andern aus Form und Stoff gemischten wirklichen Dinge gelegen sind. Bei denen, welche dem materiellen Weltstoff näherstehen, überwiegt der Stoff die Form, bei denen dagegen, welche dem ersten Beweger näherstehen, die Form den Stoff. Jene machen die leblose, diese die lebendige Natur und zwar in der Art aus, daß das roheste und formloseste Produkt der elementarischen Natur die unterste, der Mensch dagegen die oberste Stufe der Reihenfolge bildet. In der leblosen Natur wird das Wirken einer Seele noch nicht, in der lebendigen hingegen zuerst als bloß ernährendes (im Pflanzenreich), als empfindendes (im Tierreich) und zu beiden vorhergehenden Verrichtungen hinzukommend als denkendes Wirken im Menschen sichtbar. Jede dieser drei Stufen der lebendigen Natur setzt die frühern, die lebendige Natur selbst die leblose und diese wieder die allgemeinen Bedingungen alles natürlichen Daseins, Raum, Zeit und Bewegung, voraus, deren letzte ihren Grund in Gott als letztem Beweger hat. Die Zeit ist unbegrenzt, der Raum dagegen begrenzt; denn da dieser nichts andres ist als die Grenze eines einschließenden Körpers, so müßte es, falls er unbegrenzt sein sollte, einen unbegrenzten Körper geben, was ein Widerspruch wäre. Auch folgt aus dem Begriff des Raums, daß dessen Leere unmöglich ist. Die Bewegung, die entweder (quantitative) Zu- oder Abnahme, oder (qualitatives) Anderswerden, oder bloße Ortsveränderung ist, schließt als anfangs- und endlos sowohl das Entstehen aus dem Nichts als das Vergehen ins Nichts aus; alles wird aus einem Seienden und zu einem solchen; Stoff und Bewegung sind so ewig wie der erste Beweger, die Welt so ungeschaffen und so unvergänglich wie Gott selbst. Da letzterer nur Einer, so ist auch die erstere nur Eine; nicht zusammenhangslos wie eine schlechte, sondern in sich nach Grund und Folge motiviert wie eine gute Tragödie, ein ineinander greifendes System von Bewegungen, und da der Beweger der vollkommenste ist, so ist auch das Bewegte seiner Gestalt nach vollendet und abgeschlossen. Das Universum denkt Aristoteles unter dem Bild einer Kugel, deren in stetem, gleichmäßigem, kreisförmigem Umschwung nach der besten Seite (von links nach rechts) begriffene äußerste Schale der Fixsternhimmel, deren ruhender Mittelpunkt die gleichfalls kugelförmige Erde ist, zwischen welchen konzentrisch die mit ungleichmäßiger Bewegung in schiefen Bahnen nach der schlechten Seite hin (von rechts nach links) laufenden sieben Planetensphären (Sonne und Mond inbegriffen) gelagert sind. Jener macht den vollkommensten, weil dem ersten Beweger nächsten, die Erde den unvollkommensten, weil demselben fernsten Teil des Weltalls aus, daher auf der letztern anstatt der Wandellosigkeit der Gestirnwelt unaufhörlicher Wechsel herrscht. Die Zu- und Abnahme des Irdischen wird durch die stete Ungleichmäßigkeit der Planetenbewegungen (besonders der ihr bald näher-, bald fernerstehenden Sonne) bewirkt; die Gleichmäßigkeit der Himmelsbewegung ihrerseits spiegelt sich in der Gleichmäßigkeit ab, mit welcher jene Ungleichmäßigkeit der planetarischen Einwirkungen (z. B. der Jahreszeiten) periodisch wiederkehrt. Folge dieser Mischung des beharrenden und wandelbaren im Jenseits (Himmel über dem Monde) ist im Diesseits (Erde unter dem Monde) die, mit der Einförmigkeit der Himmelserscheinungen verglichen, unendlich größere Mannigfaltigkeit von Formen und Gestalten der irdischen Phänomene, insbesondere der organischen (pflanzlichen, tierischen, menschlichen) Natur unter dem Einfluß der Himmelskörper. An derselben tritt, da sie dem ersten Beweger so fern steht, um so mehr das Bedürfnis eines eignen innern Bewegungsprinzips, der Seele, hervor, wodurch sie als Sitz einer von ihr selbst (wenigstens relativ) ausgehenden Bewegung anderseits dem ersten Beweger (als absolutem Quell aller Bewegung) wieder ähnlich wird. Dasselbe tritt auf der untersten Stufe des organischen Lebens (in der Pflanze) ohne sichtbaren Lebensmittelpunkt, gleichsam durch den ganzen Organismus ergossen, nur als ernährende, auf der mittlern Stufe (im Tier) zugleich als empfindende mit einem Mittelpunkt des leiblichen (Herz) und zugleich einer Einheit des wahrnehmenden, Lust und Unlust fühlenden, begehrenden und verabscheuenden psychischen Lebens, mit Geschlechtsgegensatz, willkürlicher Bewegung, Gedächtnis und Einbildungskraft auf. Im Menschen, dem vollkommensten Tier, kommt zu beiden genannten als höchste Stufe die denkende, von den beiden frühern unterschiedene Seele (die Vernunft, der Geist, griech. nūs), die nicht aus der Natur stammt, sondern etwas „Göttliches“ oder doch Gottähnliches ist, „von außen“ hinzu. Dem allgemeinen Grundgedanken der Entwickelung des Wirklichen aus dem Möglichen entsprechend, erscheint die Seele auf jeder der genannten Stufen zuerst als bloße Anlage (organischer Keim der Pflanze oder des Tiers; Samenkorn, Ei, Embryo), welche, um zur vollendeten Auswickelung zu gelangen, des von außen kommenden Reizes, der Sollizitation, sowohl zur Ernährung als zur sinnlichen Empfindung (und Begehrung) und zum vernünftigen Denken bedarf. Jener geht von den innern Zuständen des leiblichen Organismus (Nahrungsmangel), der Reiz zur sinnlichen Empfindung und Begehrung von den äußern Gegenständen (dem Sicht-, Hör- und Schmeckbaren etc.), der Anreiz zur Entwickelung der Vernunftanlage dagegen von dem (nicht materiellen) Gegenstand des Denkens, dem Denken selbst aus, welches in diesem Betracht als thätige, zur Vernunftthätigkeit anregende Vernunft (nus poietikos, thätiger Geist) von der leidenden Vernunft (der Anlage zur Vernunftthätigkeit, nus pathetikos, leidender Geist) sich unterscheidet. Im Menschen, der alle drei Arten der Seele (wie? bleibt dunkel) in sich vereinigt, gleicht die denkende Seele ursprünglich einer unbeschriebenen Wachstafel, die zwar der Möglichkeit, nicht aber der Wirklichkeit nach ein Buch ist, die erst durch die Sollizitation des thätigen Geistes das wird, was sie (als leidender Geist) der Anlage nach ist, und zu der sich demnach jener gerade so verhält wie der erste Beweger zur (im bewegungslosen Stoff der Anlage nach [819] schlummernden) Welt. Daher ist der thätige Geist auch nur einer für alle, während der Geist als leidender jedem für sich eigen ist; weshalb unter den Schülern des Aristoteles Streit darüber entstehen konnte, ob er die menschliche Seele für sterblich oder für unsterblich erklärt habe. Als leidender Geist nämlich ist sie der Entwickelung (aus bloßer Anlage zur Vollendung) unterworfen, folglich (da alle Entwickelung Materialität voraussetzt) nicht immateriell, also auch nicht unvergänglich; als thätiger Geist aber kommt sie „von außen“ an den natürlichen Menschen und ist trennbar von ihm, also zwar unvergänglich, aber nicht mit dem Individuum Eins, sondern eine für alle, wie der Beweger einer für die gesamten Bewegungen. Indem die denkende Seele im Menschen infolge der Erregung durch den thätigen Geist aus bloßer Vernunftanlage zur wirklichen Vernünftigkeit sich erhebt, wird sie der Gottheit, die ganz Vernunft ist, ähnlich, aber nicht gleich, da sie im Menschen noch mit der tierischen und pflanzlichen Seele verbunden ist, die sie nicht abzustreifen vermag; der Philosoph, dessen denkende Seele am stärksten entwickelt ist, ist der Gottheit am ähnlichsten. Der ganze Mensch, der neben der „göttlichen“ auch noch die sinnliche (tierische und pflanzliche) Seele besitzt, ist daher weder (wie das Tier) ein bloßes Sinnenwesen noch (wie Gott) ein reines Vernunftwesen, sondern aus beiden gemischt ein sinnlich-vernünftiges Wesen nicht nur seiner Anlage, sondern, da er als Entelechie seinen Zweck in derselben vorgezeichnet trägt, auch seiner Bestimmung nach, welche darin besteht, diese seine Anlage zur Wirklichkeit herauszubilden. Auch er birgt die Tugend (nach dem überall wiederkehrenden Grundgedanken des Systems), die er werden soll, bereits im Keim in sich, wie das Ei das Huhn und das Samenkorn die Pflanze. Sollizitierend wirkt dabei der von außen kommende Reiz von seinesgleichen, Erziehung und Beispiel, da er als „geselliges Tier“ nicht nur in Gesellung mit andern lebt, sondern in dieser Anlage zur Geselligkeit zugleich den Keim der künftigen vernünftigen Gemeinschaft, des Staats, trägt. Dabei verhält sich der physische zu dem vernünftigen Bestandteil der sittlichen Anlage des Menschen wie Materie zur Form (in jedem Wirklichen) und ist die aus dieser sich entwickelnde wirkliche Sittlichkeit desto vollkommener, je mehr die bloße natürliche Beschaffenheit (Materie der Sittlichkeit) von der vernünftigen (Form der Sittlichkeit, sittliche Einsicht) gelenkt und durchdrungen wird. Wie aber nach des Aristoteles der organischen Naturbeobachtung entlehntem Grundsatz alles organische Wachstum allmählich durch Nahrung und Pflege, so erfolgt auch die Ausreifung der sittlichen Anlage zu wirklicher Sittlichkeit nur langsam durch Übung und Gewohnheit, wenn die letztere wirklich zum bleibenden Charakter, zur andern Natur (hexis) werden soll. In dieser aber, welche die vollkommene Erfüllung der tugendhaften Anlage, die tugendhafte Thätigkeit der Seele selbst ist, besteht auch deren Glückseligkeit oder das höchste Gut, welches allerdings leibliche und äußere Güter als Stützen und Förderungsmittel vernünftiger Thätigkeit (z. B. Gesundheit, Vermögen, Ansehen etc.) nicht aus-, sondern einschließt. Wohlbefinden, Lust, ist dabei nicht sowohl Zweck als vielmehr natürliche unausbleibliche Folge, weil Rückwirkung jeder naturgemäßen Thätigkeit auf den Thätigen selbst. Naturgemäß aber ist nur jene Thätigkeit, die weder ein Zuviel noch ein Zuwenig in sich schließt, daher Aristoteles die Tugend als das Mittlere zwischen zwei Gegensätzen (z. B. Sparsamkeit als die richtige Mitte zwischen Geiz und Verschwendung) definiert. Derselbe Gedanke liegt auch seiner „Poetik“, wo er das Schöne als das weder zu Große noch zu Kleine, wie seiner „Politik“ zu Grunde, in der er die mittlere Verfassung, d. h. die Herrschaft des Mittelstands, für die beste erklärt. In beiden kehrt auch der Aristotelische Hauptgedanke, der Gegensatz zwischen Anlage und Vollendung und dessen Vermittelung durch die Entwickelung der erstern, wieder und zwar in der Lehre von der dramatischen Dichtkunst, in welcher er den Nachdruck auf die Beschaffenheit der Fabel und der handelnden Charaktere als der Anlage der künftigen dramatischen Handlung legt, in der Verfassungslehre, indem er auf die historisch, geographisch und ethnographisch gegebenen Umstände und Voraussetzungen der Staatenbildung als Anlage der künftigen Staatsverfassung hinweist. Gleicher Denkrichtung entsprang des Aristoteles „Logik“, die er als Schlußlehre auffaßt, indem in den Vordersätzen der Schlußsatz der Anlage nach bereits gegeben und der wirkliche Schlußsatz nur die Entfaltung des in den Vordersätzen keimartig Enthaltenen durch wirkliches Folgern sei; sowie anderseits wieder die Beweisgründe das zu Beweisende unausgewickelt in sich tragen, wie die verursachende Bewegung die von ihr verursachte, und auf einen selbst unbeweisbaren Anfang alles Beweisens (Grundsatz, Axiom, Prinzip) wie jene auf den selbst unbewegten Anfang aller Bewegung zurückdeuten. Die Identität des (Einen) thätigen Geistes, des Urhebers alles wirklichen (aus dem Schlummer geweckten) Denkens und des ersten Bewegers als der (Einen) Ursache aller wirklichen (aus dem bloßen Vermögen in That übergegangenen) Bewegung, in Gott schließt den gewaltigen Ring, der von der Gottheit zum Fixsternhimmel, von diesem durch die planetarische Region zur Erde hinab und durch die aufsteigende Stufenfolge der unorganischen und organischen Natur durch Stern, Pflanze, Tier und Mensch von des letztgenannten leidender zur thätigen Vernunft, d. h. wieder zur Gottheit, emporführt.

[Geschichte der Aristotelischen Philosophie.] Die Philosophie des Aristoteles wurde zunächst durch dessen Schule, welche die peripatetische hieß und ihren Sitz im Lykeion hatte, fortgepflanzt; der Einfluß derselben aber erstreckt sich durch das gesamte nacharistotelische Altertum, das Mittelalter und bis auf die neueste Zeit herab, wo sie namentlich von Trendelenburg in erneuerter Gestalt wieder aufgenommen worden ist. Unter den unmittelbaren Schülern des Aristoteles waren Theophrastos von Eresos auf der Insel Lesbos, Eudemos von Rhodus, Aristoxenos, welcher die Aristotelische Lehre von der Erkenntnis auf die Musik anwandte, und Dikäarchos von Messene, welcher die Geographie in den wissenschaftlichen Kreis des Peripatetismus einführte, die bedeutendsten. Der Schüler und Nachfolger des Theophrast, Straton von Lampsakos, sonderte zuerst die Erfahrungswissenschaften über die Natur von der Philosophie ab und faßte jene als das Material, diese als die Ergebnisse der Erfahrung wissenschaftlich auf. Neben ihm ist Demetrios aus Phaleron bei Athen zu nennen. Die Nachfolger des Straton im Lykeion waren der Reihe nach: Lykon aus Troas, Ariston von Keos, Kritolaos aus Phaselis, der zu der rein Aristotelischen Lehre zurückkehrte, und Diodoros von Tyros, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh. [820] v. Chr. Unter ihnen hat die peripatetische Schule die Richtung auf die Ethik genommen, welche durch den Einfluß der das Praktische bevorzugenden Römer gefördert wurde. Trotzdem konnte die peripatetische Schule neben der epikureischen und stoischen Lehre und der der neuen Akademie in Rom nicht zur Anerkennung gelangen. Die gelehrte Beschäftigung mit den Aristotelischen Schriften, wie sie durch die von Andronikos von Rhodus und dem Grammatiker Tyrannion veranstaltete neue Herausgabe und Revision des Textes derselben veranlaßt wurde, und die zahlreichen Kommentatoren, unter welchen Alexander von Aphrodisias (im 2. Jahrh. n. Chr.) hervorzuheben ist, unterdrückten das originelle Denken in der peripatetischen Schule. Der um sich greifende Eklektizismus verschmolz die Aristotelische mit der Platonischen und stoischen Philosophie. Dieselbe erhielt sich nach dem Ausgang der Alten Welt bis zu den Byzantinern, von welchen sie nach dem Fall Konstantinopels ins Abendland zurückkam, ging durch Boetius, der die logischen Schriften des Aristoteles übersetzte, auf die Schulen des christlichen Mittelalters und durch die arabischen Übersetzungen, welche seit Al Mansur die Kalifen durch nestorianische Christen anfertigen ließen, auf das islamitische Morgenland über, von wo sie nach Spanien verpflanzt und, nachdem sie daselbst jene neue Blüte (durch Averrhoes) erlangt hatte, unter jüdischer Vermittelung (Maimonides) in das Abendland gebracht wurde. Die scholastische Philosophie des 13. und 14. Jahrh., deren Häupter Albertus Magnus und Thomas von Aquino waren, stand ganz unter dem Einfluß des Aristoteles, von dessen Werken um 1270 eine neue lateinische Übersetzung, die sogen. „Translatio vetus“, veranstaltet wurde. Mit der Wiedererweckung der klassischen Litteratur im 15. Jahrh. begann ein allgemeiner Kampf wider die Scholastik im Westen von Europa, der sich anfänglich nur gegen den entstellten Text des Aristoteles, an dessen Stelle man den echten Peripatetismus zu setzen suchte, dann aber gegen dessen Philosophie selbst kehrte. In ersterer Hinsicht bemerkenswert sind die beiden Parteien der sogen. Alexandristen (die an Alexander von Aphrodisias) und Averrhoisten (die an Averrhoes sich hielten), welche in Bezug auf die von den einen als Aristotelisch behauptete, von den andern geleugnete Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sich heftig befehdeten. In letzterer Hinsicht sind einerseits die Mystiker und (meist pantheistischen) Naturphilosophen, welche der Metaphysik und Physik, anderseits die sogen. Ramisten (Anhänger des in der Bartholomäusnacht umgebrachten Petrus Ramus) und die Verteidiger der Methode der Erfahrungswissenschaften (Bacon), welche der Logik des Aristoteles entgegentraten, zu nennen. Mit dem Aufkommen der Cartesianischen Philosophie, gegen welche die Jesuiten den Peripatetismus eifrig in Schutz genommen hatten, erlosch derselbe allmählich auf den Universitäten. – Vgl. über die Philosophie von Aristoteles außer den im vorhergehenden Artikel angegebenen Werken: Biese, Die Philosophie des Aristoteles (Berl. 1835–42, 2 Bde.); Brandis, Übersicht über das Aristotelische Lehrgebäude („Geschichte der griechisch-römischen Philosophie“, Bd. 3, Abteil. 1, Berl. 1860); Zeller, A. und die alten Peripatetiker („Geschichte der griechischen Philosophie“, Bd. 3, Abteil. 1, 3. Aufl., Leipz. 1878); Schwegler, Geschichte der griechischen Philosophie (3. Aufl., Freiburg 1881).