MKL1888:Arkadĭen
[822] Arkadĭen, das von den Dichtern hochgefeierte Hirten- und Schäferland in der Mitte des Peloponnes, ein in sich und gegen außen abgeschlossenes Hochland, die natürliche Festung der Halbinsel. Am höchsten steigen die A. einschließenden Gebirge im N. auf, wo der Kyllene (jetzt Zyria) 2374 m Höhe erreicht. An ihn schließt sich westlich das Aroanische Gebirge (Chelmos, 2375 m), dann der Erymanthos (Olonos, 2225 m), alle durch Einschnitte voneinander getrennt. Weniger hoch sind die Gebirge an der Ostgrenze Arkadiens, welche nur eine Höhe von 1400–1600 m erreichen, während die Pässe 800 m nicht überschreiten. Darum war und ist der Verkehr nach O. viel bedeutender als nach N. In dieser Kette liegt, schon auf lakonischem Gebiet, der 1957 m hohe Parnon (Malevo), dessen Namen man auf die ganze Kette übertragen hat. Von S. und besonders von W. her ist A. leicht zugänglich, denn nach W. bahnen sich die Ströme Arkadiens, im Alpheios (Ruphia) vereinigt, ihren Weg zum Sizilischen Meer. Der genannte Fluß entspringt im S. des Landes, beschreibt einen großen Bogen nach W. und N., in dessen Mitte Megalopolis lag; dann verengert sich sein Thal zur Schlucht, bis er bei Heräa seine bedeutendsten Zuflüsse, den Ladon und Erymanthos, von N. her aufnimmt und auf elisches Gebiet übertritt. Auf arkadischem Gebiet entspringen auch der Eurotas, der Hauptfluß Lakoniens, und der Neda im SW. Das Innere Arkadiens ist ein wechselndes Berg- und Thalland, unter dessen Erhebungen der 1850 m hohe Mänalos und der 1608 m hohe Thaumasion die bedeutendsten sind. In Südarkadien, wo der Helisson sich mit dem Alpheios vereinigt, befindet sich ein fruchtbares Becken (alter Seeboden), wo alle Feldfrüchte, Wein und Oliven in Fülle gedeihen. Die von der Ostkette herabkommenden Bäche sind von kurzem Lauf und haben die Eigentümlichkeit, daß sie im Frühjahr oft plötzlich das Land überschwemmen, im Sommer aber in Katabothren (unterirdischen Höhlen) verschwinden, aus denen sie mitunter nach meilenlangem Lauf plötzlich wieder hervorbrechen. Größere Seen hat A. nur zwei, den von Pheneos (Phonia) und den von Stymphalos, der in der Heraklessage eine Rolle spielt, beide im NO. Im Altertum waren sie zur Winterzeit mit Wasser angefüllt, im Sommer wurde ihr Grund bebaut; auch noch heute kommt es vor, daß Fischer und Ackerbauer hier mit ihrer Arbeit wechseln, je nachdem Erdbeben die unterirdischen Abzüge verdämmen oder sie frei machen. Die griechischen Bewohner des alten A. waren äolischen Stammes, Hirten und Jäger, daher Pan, der Hirtengott, als dessen Lieblingsaufenthalt der Mänalosberg galt, und Artemis von ihnen besonders verehrt wurden. Der Name des ersten Königs, Elatos, des Fichtenheros, deutet auf die ausgedehnten wildreichen Wälder des Landes. Die Arkadier waren von urkräftiger Natur, in Sitten und Gewohnheiten einfach und genügsam, gastfrei und freiheitsliebend, aber ziemlich derb und unzivilisiert. Die Musik pflegten sie wie kein andrer griechischer Stamm. Außer Pan, dem Erfinder der Hirtenflöte, soll auch Hermes, der Erfinder der siebensaitigen Laute, auf dem Kyllene in A. geboren sein. Als Folge der Übervölkerung des Landes, welches keine eignen Kolonien wie die andern griechischen Staaten aussandte, finden wir bei den Arkadiern, ähnlich wie bei andern Gebirgsvölkern, die Sitte des „Reislaufens“. Aber die alte unverdorbene Sitte und mit ihr Kraft, Wohlsein und Frohsinn erhielten sich und herrschten noch in A., als das übrige Griechenland bereits moralisch untergegangen war. So kam es, daß die Dichter A. als das Land der Unschuld und des stillen Friedens priesen, nur daß der moderne Begriff von „arkadischen Schäfern“ dem wahren Wesen des Volks sehr wenig entspricht. Die bedeutendsten Gemeinwesen des alten A. finden wir in den Beckenebenen des Ostens, so das reiche aristokratische Tegea, die demokratische Handelsstadt Mantineia, das hoch gelegene Orchomenos, Stymphalos und Pheneos. Im W. war die einzige wichtigere Stadt Heräa. Das Zentrum ist ohne historisches Interesse und war nur von Dörfern besetzt. Im obern, fruchtbaren Alpheiosthal gründeten die Thebaner später die Bundesstadt Megalopolis.
Die Arkadier zählten zu den ältesten Völkern Griechenlands. Pausanias nennt sie Autochthonen, andre Schriftsteller machen sie sogar zu Proselenen, d. h. älter als der Mond. Die heimischen Sagen des Volks reichten bis über die Deukalionische Flut, bei welcher das Gebirge Kyllene als der Rettungsort des Menschengeschlechts erscheint. Als erster arkadischer König gilt Pelasgos, der Anführer pelasgischer Einwanderer aus Nordgriechenland, von dem das Land Pelasgia hieß. Mit den dorischen Einwanderern (s. Dorische Wanderung) traten die Arkadier in freundschaftliche Verhältnisse, wußten aber ihr gebirgiges, schwer zugängliches Land von denselben frei zu erhalten. Der letzte arkadische König war Aristokrates II., Sohn des Hiketas, zur Zeit des zweiten Messenischen Kriegs. Sein Verrat lieferte die Messenier, die Bundesgenossen der Arkadier, in die Gewalt der Lakedämonier; darüber entrüstet, steinigten ihn die eignen Unterthanen und warfen seinen Leichnam über die Grenze. A. zerfiel jetzt in eine Menge kleiner Freistaaten, die alle, voran die beiden bedeutendsten, Tegea und Mantineia, meist isoliert und eifersüchtig einander gegenüberstanden und sich dadurch zum Anschluß an den Peloponnesischen Bund und zur Unterordnung unter die Hegemonie Spartas genötigt sahen. Die Gegner Spartas, namentlich Alkibiades und Epaminondas, versuchten, die arkadischen Städte zu einem peloponnesischen Gegenbund zu vereinigen, zu dessen Hauptstadt Epaminondas 370 v. Chr. das neugegründete Megalopolis bestimmte. Indessen hatten diese Versuche, eine politische Machtstellung Arkadiens zu begründen, keinen dauernden Erfolg. Die Arkadier mußten wie die übrigen Griechen unter den innern Kämpfen, welche die Zeit des Verfalls der griechischen Macht kennzeichnen, schwer leiden. Ihr Land hat sich von seiner Verwilderung und Entvölkerung auch unter der römischen Herrschaft nicht erholt.
Gegenwärtig bildet A., mit der Landschaft Tsakonia am Ägeischen Meer vereinigt, einen Nomos des Königreichs Griechenland, welcher 4346 qkm (nach Strelbitskys Berechnung 4301 qkm = 78 QM.) umfaßt. Noch heute ist A. vorzugsweise ein Hirtenland, das auf seinen ausgedehnten, zum Teil mit Gestrüpp bewachsenen Weiden zahlreiche Herden von Ziegen und grobwolligen Schafen ernährt, zugleich [823] aber die am besten angebauten Gefilde, die blühendsten Thäler und die schönsten Wälder von ganz Griechenland enthält. Das Klima ist wegen der hohen Lage des Landes mild. Die Wälder gehören zumeist dem westlichen Teil an und bestehen aus Eichen und Tannen; in ihnen ist heute noch wie im Altertum der Wolf häufig. Bäche und Flüsse sind mit Platanen besetzt. Rindvieh wird in der Regel nur zur Zucht von Zugtieren für den Ackerbau gehalten. Die Bevölkerung betrug 1879: 148,905 Seelen. Die heutigen Arkadier sind ein kräftiger Menschenschlag von mittlerer Größe, lebhafter Miene und Gebärde. Von rauher, einfacher Lebensweise, lieben sie wie ihre Vorfahren Musik und Tanz leidenschaftlich und haben sich die gleiche Liebe zur Freiheit und Lust am Kampf bewahrt. Von Industrie sind kaum Anfänge vorhanden. A. zerfällt in die Eparchien Mantinia, Kinuria, Gortinia und Megalopolis. Hauptstadt ist Tripolitsa, mit 8000 Einw., unfern des alten Tegea.