MKL1888:Askēse

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Askēse“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 940941
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Askēse. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 940–941. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ask%C4%93se (Version vom 04.11.2021)

[940] Askēse (griech. Askesis; Ascese), eigentlich Übung; insbesondere die enthaltsame, mäßige Lebensweise der griechischen Athleten zur Aneignung und Erhaltung der körperlichen Kraft und Gewandtheit während der Vorbereitung auf die Kampfspiele; auf das sittliche Gebiet übertragen, das zur Erlangung höherer Vollkommenheit auf Entsinnlichung gerichtete Handeln, sowohl die freiwillige Enthaltung von sinnlichen Genüssen als die Ertötung der sinnlichen Empfindungen und des Fleisches überhaupt; im weitern Sinn alles Handeln, welches die Erwerbung sittlicher Fertigkeit rein als solcher zum Zweck hat. Die Asketik bildet als Theorie der A. einen Teil der Ethik. Da das asketische Handeln seinem Begriff nach ein lediglich formales, inhaltloses ist, so ist für dasselbe bei wahrhafter und vollkommener Sittlichkeit kein Raum mehr, und es kann für den gereiften Christen nur noch insofern und insoweit Pflicht werden, als er sich noch unfrei und von der Sinnlichkeit gebunden fühlt. Bei fortschreitender Sittlichkeit wird statt einzelner asketischer Handlungsweisen (Tugendmittel) immer mehr nur eine asketische Tendenz die sittliche Pflichterfüllung begleiten. Als Tugendmittel, durch deren Gebrauch die A. die Erlangung der religiösen und sittlichen Vollkommenheit anstrebt, gelten, was die religiöse Seite betrifft: 1) die Andacht, welche die Meditation und die Kontemplation in sich schließt, und der sich als Hilfsmittel die asketische oder Erbauungslitteratur darbietet, wie auch die religiöse Kunst ihr dienen will; 2) die Bibelforschung; 3) das Gebet, teils als freies, teils als Formulargebet; 4) die gemeinschaftliche Gottesverehrung in den verschiedenen Arten des öffentlichen und des Hausgottesdienstes und der gottesdienstlichen Vereinigungen, Erbauungsstunden und Konventikel; 5) der Gebrauch der Sakramente. Auf der sittlichen Seite stehen: 1) die Selbstprüfung und Selbstbeurteilung, gefördert durch Einsamkeit; 2) der gesellige Umgang, der bei vorsichtigem Gebrauch ebenso die eignen Fehler erkennen und überwinden lehrt, als er uns das sittliche Vermögen andrer zur Nacheiferung reizend hinstellt. Herkömmlicherweise freilich sind es besonders drei Grundformen, in welchen sich die A. in den Dienst der sittlichen Arbeit zu stellen unternimmt: a) die formale Übung der Willenskraft zur Beherrschung unwillkürlicher Empfindungen, z. B. des Ekels oder des Abscheus; b) das Entsagen, dessen bekannteste und natürlichste Art das Fasten ist, ein längeres oder kürzeres Entbehren von Speise und Trank, oder ein freiwilliges Verzichten auf bestimmte Güter; dahin gehören die Ehelosigkeit (Cölibat), die freiwillige Armut und der Gehorsam, das Verzichten auf die eigne Willensbestimmung, in der katholischen Kirche als Consilia evangelica empfohlen; c) die eigentliche Selbstpeinigung. Das Mönchtum, in welchem die katholische Kirche eine höhere Stufe des sittlichen Lebens sieht, ist nichts andres als die durchgeführte entwickelte und organisierte A. in diesem engern Sinn, und das Wort A., asketisches Leben, gilt hier als gleichbedeutend mit Mönchs- und Klosterleben.

Die Rolle, welche die A. in der Geschichte der Religion spielt, entspricht genau der positiven oder negativen Wertung des Lebens, der optimistisch oder pessimistisch gerichteten Grundanschauung, von welcher die einzelnen Religionen beherrscht werden (s. Kasten). Wo das Irdische aufgefaßt wird als der reine, unvermittelte Gegensatz des Göttlichen und die Existenz selbst schon als eine Schranke erscheint (wie im Buddhismus und Brahmanismus), wird der Schmerz gesucht, um durch ihn dahin zu gelangen, an der Existenz wenigstens keinen Genuß mehr zu finden. Und nicht minder resultiert, wo der Gegensatz zwischen Gott und Natur dualistisch gespannt wird, so daß das Materielle das Böse, die Welt das Werk des bösen Geistes wird (wie im Manichäismus, Gnostizismus), A. als die unmittelbarste religiöse und sittliche Pflicht, als die Art und Weise nämlich, wie der Mensch sich seinerseits an dem Kampf gegen das Böse beteiligt und dessen Herrschaft vernichtet. Dagegen ist die Bedeutung der A. eine sehr beschränkte im Mosaismus, insofern sie hier nur formale, symbolische Bedeutung hat und dem Gedanken der levitischen Reinheit, der priesterlichen Aussonderung, der Scheidung des Eigentums Gottes von der Welt dient. Das Nasiräat insonderheit ist nur Steigerung und Verallgemeinerung der priesterlichen Reinheit. Überhaupt nicht religiöser Art endlich ist der Ursprung der asketischen Tendenz in manchen philosophischen Systemen, z. B. in dem der Cyniker, die aus der Verbildung die Rückkehr zu der Einfachheit der Natur suchen. Die Pythagoreische A. in der unmittelbar vorchristlichen Zeit war ohne Zweifel schon für das Judentum, wo ihr im Essäismus ein Seitengänger erstand, von Bedeutung. Unter religiösen Gesichtspunkt trat die philosophische A. des Altertums wieder im Christentum, so daß das kirchliche Leben selbst in der römisch-katholischen Kirche einen wesentlich asketischen Charakter angenommen hat. Insonderheit in der abendländischen Kirche hat sich die A. entwickelt teils im Zusammenhang [941] mit der Bußdisziplin als Genugthuung für begangene Sünden, teils aus der Lehre von einer höhern, nicht allen erreichbaren Vollkommenheit, die durch die Befolgung der Consilia evangelica erzielt werden soll und in dem levitischer Reinheit bedürftigen Mönch- und Priestertum sich darstellt. In der evangelischen Kirche trägt die reformierte Konfession einen asketischen Zug, der ihrem gesetzlichen Wesen und der Spannung des Gegensatzes zwischen der Welt und den Auserwählten entspricht; in der lutherischen Kirche tritt die asketische Richtung hervor im Pietismus als ein Sichzurückziehen vom weltlichen Treiben, das als profan erscheint. Nur allzu reich ist die Geschichte der Kirche wie der einzelnen Konfessionen, Sekten und asketischen Institute an Beispielen davon, daß strenge A. in antinomistisches und libertinistisches Treiben umschlägt; es erklärt sich dies dadurch, daß durch gewisse Selbstpeinigungen das Gefühl erregt und die Phantasie erhitzt wird, während über dem Wahn erreichter Vollkommenheit die Wachsamkeit und Selbstbeobachtung sich mindern, überhaupt aber das sittliche Urteil über den relativen Wert der Güter der Welt da, wo letztere absolut verurteilt werden, sich trüben und gelegentliche gewaltsame Reaktionen befördert werden müssen. Vgl. Zöckler, Kritische Geschichte der A. (Frankf. 1863).