MKL1888:Bibliothekwissenschaft
[892] Bibliothekwissenschaft, im weitern Sinn der systematisch geordnete Inbegriff aller wissenschaftlichen und technischen Erfahrungen auf dem Gebiet des Bibliothekwesens. Sie zerfällt in die beiden einander gleichstehenden, koordinierten Teile der Bibliothekenlehre und der Bibliothekenkunde, von denen keiner als untergeordneter Bestandteil zu gelten hat. Die Bibliothekenkunde (Bibliothekographie) beschäftigt sich mit der Geschichte und Beschreibung der einzelnen Bibliotheken älterer und neuerer Zeit (vgl. Bibliothek). Insofern sie dabei statistisch zu Werke geht, wird sie zur Bibliothekstatistik. Die Bibliothekenlehre (Bibliothekonomie, Bibliothektechnik, auch B. im engern Sinn) handelt von der Einrichtung und Verwaltung einer Bibliothek überhaupt.
Die Litteratur der B. hat sich meistens auf die B. im engern Sinn beschränkt oder die Bearbeitung beider Teile getrennt gehalten. Das neueste und umfassendste Werk, welches beide Teile der B. gleichmäßig berücksichtigt, sind Edwards’ „Memoirs of libraries, including a handbook of library economy“ (Lond. 1859, 2 Bde.), neben denen das durch litterarische Angaben ausgezeichnete „Handbuch der B., der Litteratur- und Bücherkunde“ von J. A. F. Schmidt (Weim. 1840) vielfach als veraltet erscheint. Die lediglich bibliothekographischen Schriften sind in dem Artikel „Bibliothek“ zusammengestellt. Eine wissenschaftliche Begründung der B. im engern Sinn unternahm zuerst Schrettinger in seinem „Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der B.“ (Münch. 1808–29, 2 Bde.), dem er später ein „Handbuch der B., besonders zum Gebrauch der Nichtbibliothekare“ (Wien 1834) folgen ließ. Gleichzeitig mit ihm trat F. A. Ebert auf in den beiden gehaltvollen Schriften: „Über öffentliche Bibliotheken“ (Freiberg 1811) und „Die Bildung des Bibliothekars“ (2. Ausg., Leipz. 1820). Hieran reiht sich das hervorragende Buch des Dänen Ch. Molbech, „Om offentlige Bibliotheker“ (2. Abdr., Kopenh. 1829; deutsch von Ratjen, Leipz. 1833). Auf Ebert stützen sich P. Namurs „Manuel du bibliothécaire“ (Brüss. 1834) und P. A. Budiks „Vorbereitungsstudien für den angehenden Bibliothekar“ (Wien 1834) sowie dessen „Vorschule für bibliothekarisches Geschäftsleben“ (Münch. 1848). Die Anordnung der Bibliotheken behandelte speziell in selbständiger und ideenreicher Weise J. Ch. Friedrich („Kritische Erörterungen zum übereinstimmenden Ordnen und Verzeichnen öffentlicher Bibliotheken“, Leipz. 1835). Eine neue wissenschaftliche Begründung versuchte E. Zoller („Die B. im Umriß“, Stuttg. 1846), besonders aber A. A. E. Schleiermacher („Bibliographisches System der gesamten Wissenschaftskunde mit einer Anleitung zum Ordnen von Bibliotheken“, Braunschw. 1852, 2 Tle.). Das beste Lehrbuch für Anfänger ist J. Petzholdts „Katechismus der Bibliothekenlehre“ (Leipz. 1856, 3. Aufl. 1877). Nicht zu empfehlen sind Seizingers „Bibliothekstechnik“ (Leipz. 1855) und „Theorie und Praxis der B.“ (Dresd. 1863). Von den in Deutschland 1840 begonnenen bibliothekwissenschaftlichen Zeitschriften, mit reichen Beiträgen auch zur Bibliothekographie, ist R. Naumanns „Serapeum“ (Leipz. 1840–70, 31. Jahrg.) eingegangen, während Petzholdts „Anzeiger für Litteratur der B.“, unter verschiedenen Titeln fortgesetzt, noch fort erscheint als „Neuer Anzeiger für Bibliographie und B.“ Dazu kam 1884 das „Zentralblatt für Bibliothekswesen“, welches mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums von O. Hartwig und K. Schulz in Leipzig herausgegeben wird. Seit 1876 erscheint in New York und London „The Library Journal“ als offizielles Organ der Vereinigung amerikanischer und englischer Bibliothekare.
Nach der oben gegebenen Definition umfaßt die B. im engern Sinn die Einrichtungslehre und die Verwaltungslehre. Zur Einrichtung einer Bibliothek gehören das Bibliotheklokal, die Aufstellung und Anordnung der Bücher, die Katalogisierung, die Bezeichnung (Signatur) und Numerierung. Was zunächst das Bibliotheklokal betrifft, so kommt das Bibliothekgebäude als solches und die innere Einrichtung desselben, namentlich die Ausstattung mit Repositorien, in Betracht. Für das Bibliothekgebäude schreibt die bibliothekarische Architektonik vor: Trockenheit des Untergrundes, eine von allen Seiten freie (isolierte), womöglich etwas erhabene Lage fern vom Geräusch und Staub der Straßen, jedoch nicht zu entlegen, damit die Benutzbarkeit nicht leide, Möglichkeit künftiger Erweiterung. Die Beschaffenheit des Gebäudes selbst muß derartig sein, daß es gegen Nässe und Feuchtigkeit wie gegen Feuerschaden gesichert ist. Zum Zweck der Feuersicherheit ist auf Dachkonstruktionen von Eisen mit Kupfer- oder Zinkbeleg Bedacht zu nehmen. Gegen Gewitterschäden dienen Blitzableiter und nicht zu große Höhe des Gebäudes. Wegen etwaniger Feuersgefahr ist für Löschgeräte und Wasserhähne im Innern zu sorgen. Zur Erwärmung auch der Bücherräume wendet man neuerdings Zentral-Luftheizung an, wogegen Wasserheizung mit Rücksicht auf die damit verbundene Überschwemmungsgefahr entschieden zu widerraten ist. Ein Hauptaugenmerk ist auf helle und gleichförmige Beleuchtung zu richten. Bei Seitenlicht sind die schädlichen Wirkungen der einfallenden Sonnenstrahlen durch Rollvorhänge oder Schiebegardinen von hellem Zeug abzuwenden, nicht durch matt geschliffene Glasscheiben, welche die volle Klarheit des Lichts beeinträchtigen. Für die Räumlichkeiten im Innern ist Hauptbedingung schnelle und bequeme Kommunikation, Vermeidung zu großer Ausdehnung und Winkelhaftigkeit. Bei größern Baulichkeiten empfiehlt sich die Gruppierung um Höfe, die aber weit genug sein müssen, damit Licht und Luft freien Zutritt erhalten. Die Größe der einzelnen Räume sei nach dem Zweck verschieden. Kleiner seien die mit gewölbten Decken zu versehenden Räume für Handschriften und andre Kostbarkeiten (Cimelien), für Karten und Kupferwerke, für Kataloge und Archivalien, die Geschäfts- und Arbeitszimmer der Beamten, der Raum für die Bücherausgabe. Die Größe des Lesesaals hat sich nach dem Bedürfnis, d. h. der Stärke der Benutzung, zu richten. Zur Aufstellung der gewöhnlichen Büchermassen bringt man in den modernen Bibliothekbauten jetzt allgemein im Interesse möglichster Raumausnutzung das sogen. Magazinierungssystem in Anwendung, welches darin besteht, daß ein einziger, durch alle Stockwerke durchgehender Hauptraum (Büchermagazin) vermittelst durchbrochener eiserner Zwischendecken in Höhe von je 2,40–2,50 m in Halbetagen geteilt und durch Treppen verbunden wird. Man vermeidet dadurch die lästigen und gefährlichen Bücherleitern, da in jeder Halbetage die Bücher vom Fußboden aus mit Hilfe von Auftrittstangen erreicht werden können. Die Bücherrepositorien, mit verstellbaren Querbrettern und Stellstiften, werden in senkrechter Richtung zu den Hauptwänden einander parallel und in Abständen von 1 m unter Freilassung eines Mittelganges placiert und müssen die erforderliche Tiefe besitzen, um in jeder Halbetage in den untern Reihen die Unterbringung der Folianten zu ermöglichen. Der Transport der Bücher aus den obern [893] nach den untern Etagen und umgekehrt wird durch Bücheraufzüge erleichtert.
Die Aufstellung der Bücher in äußerlicher Beziehung, welche von ihrer innern Anordnung zu unterscheiden ist, bestimmt sich nach den drei (nicht vier) Formatklassen: Folio, Quart, Oktav einschließlich der kleinern Formate und zwar in der Weise, daß die Folianten zu unterst, darüber die Quartanten, zuletzt die Oktavbände zu stehen kommen, und daß ebenso in jeder Formatklasse die Reihenfolge von unten nach oben aufsteigt. In horizontaler Richtung hat die Aufstellung stets von der Linken zur Rechten zu laufen. Bei nebeneinander stehenden Repositorien lasse man die Aufstellung in jedem Repositorium für sich säulenartig emporsteigen. Bände übermäßiger Größe verlangen einen abgesonderten Platz. Hinsichtlich der Anordnung der Bücher hat es schon im Mittelalter nicht an Versuchen gefehlt, eine sachliche Ordnung durchzuführen. Später kam die von Schrettinger und Budik vertretene alphabetische Anordnungsmethode in Aufnahme, welche als unwissenschaftlich ihren Zweck durchaus verfehlt, weil die Bibliothek als eine Repräsentantin der Wissenschaften in ihrer Entwickelung sich darstellen soll. Auch das von Franke-Ebert befolgte „historische Prinzip“ widerstreitet dem Begriff der Wissenschaft. Dasjenige System, welchem alleinige Brauchbarkeit zukommt, ist das streng wissenschaftliche oder systematisch-chronologische. Hier werden die einleitenden Schriften und die Geschichte jederzeit vorausgeschickt, dann die Teile der betreffenden Wissenschaft, wie sie sich aus dem allgemeinen Begriff derselben entwickeln, aufgeführt und die einzelnen Schriften in chronologischer oder historischer Ordnung verzeichnet und gestellt. Dabei ist es eine unerläßliche Forderung, daß auch die hinzutretenden Bände bei jeder wissenschaftlichen Abteilung nicht etwa hinten angehängt werden, sondern dem System entsprechend in allen Fällen an der zugehörigen Stelle einzureihen sind.
Für die Zwecke der Katalogisierung sind hauptsächlich zwei Arten von Katalogen notwendig: 1) ein alphabetischer Generalkatalog nach den Namen der Verfasser oder bei anonymen Schriften nach den Stichworten; 2) wissenschaftliche oder systematische Kataloge über die einzelnen Disziplinen. In beiden Gattungen von Katalogen wird auf die Trennung der drei Formatklassen keine Rücksicht genommen. Besondere Standkataloge erweisen sich bei wissenschaftlich geordneten Bibliotheken als überflüssig; eigentliche Realkataloge, welche die Büchertitel nach den behandelten Gegenständen ordnen und mit den systematischen Katalogen nicht verwechselt werden dürfen, sind zwar nützlich, aber in größern Bibliotheken nicht ausführbar. Über die Handschriften werden in der Regel besondere Kataloge geführt. Der Accessionskatalog, welcher die Zugänge in der natürlichen Reihenfolge mit fortlaufenden Nummern und mit Notizen über Preis und Bezugsquelle aufführt, dient Rechnungszwecken. Für alle Kataloge, abgesehen von dem Accessionskatalog, ist an der Bandform und an der Einrichtung als Blattkataloge festzuhalten, dergestalt, daß jederzeit nach Bedarf neue Blätter ohne Störung der Ordnung eingelegt werden können. Die in neuerer Zeit beliebten Zettelkataloge sind als Vorarbeit zur Anlegung neuer Kataloge verwendbar, für die definitive Katalogführung aber wie für die Benutzung nicht praktisch und bieten mehr Nachteile als Vorteile. Ihre Vorteile werden mit Beseitigung der Nachteile durch Blattkataloge in Bandform aufgewogen.
Sind die Bücher in die Kataloge eingetragen, so müssen sie vor ihrer Einstellung in die Bibliothek mit Signatur und Nummer bezeichnet werden, was sowohl im Innern der Bücher als auch äußerlich sichtbar auf dem Rücken (Etikettierung) zu geschehen hat. Die Bezeichnung des Faches (Signatur) wird am besten nicht durch Buchstaben, sondern durch den abgekürzten Namen der Wissenschaft in lateinischer Sprache ausgedrückt. Die Numerierung geht durch alle Formate durch, um Doppelsignaturen zu vermeiden; noch praktischer ist es, die Zählung nicht nach der Reihenfolge der Formatklassen laufen zu lassen, sondern, wie dies Förstemann in der Wernigeroder Bibliothek durchgeführt hat, ohne Rücksicht auf das Format, nur nach der Ordnung im wissenschaftlichen Katalog, weil man sonst zum Zweck der Nummerngebung den Standkatalog nicht entbehren kann. Die zweckmäßigste und bequemste Art der Numerierung ist die relative mit der Pagina des wissenschaftlichen Katalogs, wobei an geeigneten Stellen für später hinzukommende Werke und neu einzulegende Blätter in der Paginierung Platz offen zu halten ist. Einschaltungsnummern vermittelt man durch Buchstabenexponenten.
Kürzer zu fassen ist die Verwaltungslehre. Sie betrifft die Bewahrung der Bibliothek, wohin auch das Einbinden der Bücher zu rechnen ist, die Vermehrung und Anschaffung, die Benutzung, das Bibliothekpersonal. Die Mittel zur Bewahrung der Bibliothek sind außer der Instandhaltung der Lokalitäten haltbare und dauerhafte Einbände mit der Maßgabe, daß kein Buch ungebunden in die Bibliothek eingestellt werden darf, die Stempelung der Bücher (auf der Rückseite des Titelblattes, wo ohne Beschädigung der Stempel nicht zu tilgen ist), das Scheuern der Geschäftszimmer und Bücherräume mindestens zweimal im Jahr, das Ausstäuben der Bücher und Repositorien während der Sommermonate, die Revision des Bücherbestandes an der Hand der vorhandenen Kataloge, die Vorsorge gegen schädliche Tiere. In letzter Hinsicht sind Saffian- und Juchtenbände sowie thunlichste Fernhaltung der Holzbände von Wirksamkeit. Die Vermehrung der Bibliothek erfolgt teils auf dem Weg der Anschaffung durch Kauf, teils durch Geschenke, teils durch Tausch. Für die Anschaffung ist in erster Linie der Zweck einer Bibliothek maßgebend. Bei Universitäts- und Zentralbibliotheken sind alle Wissenschaften gleichmäßig zu bedenken, während Spezialbibliotheken einzelne Fächer der Litteratur zu bevorzugen haben. Hauptsache einer methodischen und rationellen Anschaffung bleibt ausgebreitetste Litteraturkenntnis und Vertrautheit mit der Litterärgeschichte, Handschriftenkunde und Bibliographie. Dubletten werden der Regel nach ausgeschieden und anderweitig verwertet, sofern nicht ein besonderes Bedürfnis vorliegt, mehr als ein Exemplar zu behalten. Dagegen würde die Entfernung bloß veralteter Schriften, welche nicht den Charakter von Dubletten haben, in hohem Grad bedenklich sein, weil sich niemals vorausbestimmen läßt, ob dergleichen Schriften nicht früher oder später zur Benutzung verlangt werden können.
Der vornehmste Zweck einer jeden Bibliothek ist die Benutzung. Sie ist mit größtmöglicher Liberalität zu handhaben, soweit die Grundsätze der Ordnung und Erhaltung es irgend zulassen. Man wird deshalb die Grenze der nicht auszuleihenden Bücher auf das geringste Maß einschränken müssen und nur solche Nachschlagewerke, welche jeden Augenblick präsent sein sollen, nicht ausleihen dürfen. Besondere [894] Vorsicht ist bei der Benutzung von Handschriften und kostbaren Werken von nöten, aber ihre Ausleihung und Versendung nicht unbedingt auszuschließen. Die Versendung von Büchern nach auswärts hat auf die Interessen der Benutzer am Ort Rücksicht zu nehmen, so daß häufig benutzte Bücher nicht zu versenden sind. Von dem Eintritt in die Bücherräume sind Personen, welche ernsten wissenschaftlichen Studien nachgehen, nicht ängstlich fern zu halten. Unterhaltungsschriften werden außer zu wissenschaftlichen Zwecken nicht ausgeliehen. Zeitlich ist die Entleihung an Fristen gebunden, nach deren Ablauf Prolongation stattfinden kann, die jedoch nicht ins Ungemessene bewilligt werden darf. Die Ordnung fordert eine halbjährliche allgemeine Rücklieferung sämtlicher ausgeliehener Bücher, wobei die zur Revision präsentierten Bücher gegen neue Empfangscheine sofort zurückgenommen werden können. Ohne Empfangschein darf kein Buch ausgeliehen werden. Über die ausgeliehenen und versandten Bücher ist ein Journal zu führen, in welches die Büchertitel, die Entleiher, Datum der Ausleihung und der Rückgabe eingetragen werden. – Was schließlich das Personal der Bibliothek angeht, so ist darauf zu sehen, daß das gesamte Personal, vom Chef bis zu den untergebenen Beamten, ein technisch geschultes und ausreichend besoldetes sei. Es handelt sich mit Einem Wort um die erst in den letzten Jahren zu allgemeiner Anerkennung und Geltung gelangte „Selbständigkeit des bibliothekarischen Berufs“, worüber die gleichnamige anonyme Schrift von Klette (Leipz. 1871) beachtenswerte Winke bietet.