MKL1888:Cavour

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Cavour“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 3 (1886), Seite 877879
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Cavour. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 877–879. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Cavour (Version vom 07.12.2022)

[877] Cavour (spr. -wuhr), Flecken in der ital. Provinz Turin, Kreis Pinerolo, am Fuß eines isolierten, 410 m hohen Bergs, auf welchem das alte Caburrum angelegt wurde, und am Pellice, mit (1881) 1921 Einw., welche Seidenspinnerei und Leinweberei treiben. In der Nähe die 1010 gegründete, einst sehr reiche Benediktinerabtei Santa Maria di C.

Cavour (spr. -wuhr), Graf Camillo Benso di, ital. Staatsmann, geb. 10. Aug. 1810 zu Turin aus altadliger, reicher Familie, erwarb sich, als jüngerer Sohn zum Militär bestimmt, in der Militärakademie zu Turin besonders in der Mathematik ausgezeichnete Kenntnisse und wurde dann als Genieleutnant bei den Fortifikationsarbeiten in den Alpenpässen verwendet. Doch nahm er, da seine liberalen Ansichten sich mit dem Militärdienst nicht befreunden konnten, 1831 seinen Abschied und widmete sich dem Studium der Nationalökonomie und der Bewirtschaftung seiner ausgedehnten Güter in der Lomellina, erweiterte auch seine wirtschaftlichen und politischen Kenntnisse durch wiederholte Reisen, besonders nach England und Frankreich. Das konstitutionelle System, wie er es in England durchgeführt fand, nebst der ausschließlichen, aber unbedingten Herrschaft des Gesetzes blieb das Ideal seiner Politik. Nachdem er sich zu Haus anfangs mit Gründung gemeinnütziger Anstalten zur Hebung der ökonomischen und sozialen Zustände (z. B. von Kinderasylen und 1842 der Landwirtschaftlichen Gesellschaft) beschäftigt hatte, begründete er infolge der Reformbewegungen, die 1846 in verschiedenen Teilen Italiens, besonders im Kirchenstaat, begannen, mit dem Grafen Cesare Balbo u. a. das Journal „Il Risorgimento“, für welches er namentlich nationalökonomische Artikel schrieb. Seine politische Bedeutung begann mit dem Jahr 1848. [878] Durch die Verkündigung der sardinischen Verfassung vom 5. März 1848 wurde einer seiner heißesten Wünsche erfüllt. Gleichzeitig unternahm der König Karl Albert die politische Einigung Italiens. Doch billigte C. es nicht, daß der König mit den Worten „Italia farà da se“ dies allein unternahm, sondern hielt von Anfang an Allianzen für durchaus notwendig und schließlich die französische Allianz allein für erreichbar. In der Kammer, in welcher er durch eiserne Willensstärke und unermüdliche Ausdauer auch nach und nach eine bedeutende Rednergabe entwickelte, zeigte er einen sehr gemäßigten Liberalismus, welcher die Linke keineswegs befriedigte, und erklärte sich energisch gegen alle revolutionären Ausschreitungen. So unterstützte er auch 1849 nach Beendigung des Kriegs das Ministerium Azeglio, in welchem er nach dem Tod Santa Rosas das Portefeuille des Handels und Ackerbaues und im April 1850 das der Finanzen übernahm. Er schaffte nun Ordnung in den durch den Krieg zerrütteten Finanzen, schloß Handelsverträge mit mehreren auswärtigen Staaten, sorgte für Herstellung von Straßen und Eisenbahnen, für Befreiung des Besitzes von feudalen Lasten u. dgl., beherrschte überhaupt mehr und mehr die ganze Regierung und suchte in der Kammer eine Stütze des Ministeriums dadurch, daß sich dasselbe dem linken Zentrum (unter Ratazzi) näherte, um die klerikal-revolutionären Elemente zurückzudrängen. Gerade hierdurch aber trat er in einen Gegensatz zu mehreren andern Mitgliedern des Kabinetts, besonders zu Azeglio, und sah sich daher im Mai 1852 zum Rücktritt veranlaßt. Doch schon 4. Nov. d. J. wurde er (nachdem das Ministerium Azeglio wegen Differenzen mit dem päpstlichen Stuhl betreffs der Zivilehe hatte zurücktreten müssen) aus Paris, wo er sich in der Zwischenzeit meist aufgehalten hatte, an die Spitze der Regierung berufen. Er übernahm in dem von ihm gebildeten neuen Kabinett neben dem Präsidium die Finanzen, Handel und Landwirtschaft; vorübergehend hatte er auch das Departement des Auswärtigen und des Innern. Von der (durch Vollzug jener Annäherung an das linke Zentrum hergestellten) kompakten Majorität in der Kammer unterstützt, befolgte er mit Konsequenz eine liberale Politik nach den Grundsätzen der 1848 verliehenen Verfassung. Am weitern Ausbau derselben arbeitend, geriet er in heftige Kollision mit dem Klerus, setzte aber trotz der Gegenbestrebungen desselben den Verkauf der Besitzungen der Toten Hand durch und entzog den religiösen Körperschaften das Monopol des Unterrichts. Selbst als der Papst den König und seine liberalen Minister mit dem Kirchenbann bedrohte, ließ sich C. nicht von der Durchführung dieser Reformen abschrecken, wiewohl er deren weitere Konsequenzen, wie die Einführung der Zivilehe und die vollständige Befreiung des Volkes von der Herrschaft der Kirche, vertagen mußte. Nachdem er durch seine freisinnige und erfolgreiche Verwaltung sich das Vertrauen nicht bloß der Piemontesen, sondern auch aller liberal und national gesinnten Italiener sowie die Gunst der öffentlichen Meinung in Frankreich und England erworben hatte, durfte C. es wagen, das Banner der Einheit und Unabhängigkeit Italiens zu erheben.

Um seinen nationalen Bestrebungen die Unterstützung der englischen und der französischen Regierung zu verschaffen, bewog er zunächst den König und die Kammern, sich 1854–55 dem Bündnis der Westmächte gegen Rußland anzuschließen und trotz der enormen Kosten am Krimkrieg aktiv teilzunehmen. Nach Beendigung desselben gelang es ihm, auf dem Pariser Kongreß 1856 trotz alles Widerstandes von seiten Österreichs die „italienische Frage“ zur Verhandlung zu bringen und die Mißstände der Okkupation italienischer Staaten durch fremde Armeen einerseits und die Schwäche der betreffenden italienischen Regierungen, vor allen der weltlichen Regierung des Papstes, anderseits in hellstes Licht zu setzen, um dadurch die Reformbedürftigkeit der italienischen Zustände als eine unleugbare Thatsache festzustellen. Es kam ihm vor allem darauf an, Österreich zu isolieren, weswegen er 1858 auf den Wunsch Rußlands nach dem Besitz des Hafens Villafranca bereitwilligst einging, und sich den Beistand Frankreichs zu sichern. Hierbei war ihm von großem Nutzen, daß Napoleon III., dessen persönliche Bekanntschaft er schon 1852 gemacht hatte, sich namentlich seit dem Orsinischen Attentat (14. Jan. 1858) aus dynastischen und persönlichen Gründen die Verdrängung Österreichs aus Italien und die Begründung des französischen Einflusses auf der Halbinsel durch Begünstigung der nationalen Bestrebungen zum Ziel seiner Politik gesetzt hatte. Im Sommer 1858 hatte C. mit Napoleon eine geheime Zusammenkunft, auf welcher die französisch-sardinische Allianz, die Erwerbung des Lombardisch-Venezianischen Königreichs wie Parmas und Modenas für Sardinien und die Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich verabredet wurden. Napoleon begann den diplomatischen Feldzug gegen Österreich mit dem Neujahrsempfang 1. Jan. 1859, dem die italienische Thronrede vom 10. Jan. 1859 folgte, in welcher Viktor Emanuel auf den „Schmerzensschrei Italiens“ hören zu müssen erklärte. C. begann sofort zu rüsten, geriet aber durch die englischen und russischen Friedensvermittelungen, welche nur die Beseitigung der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien erstrebten, in nicht geringe Verlegenheit, aus der ihn zu seinem Glück das österreichische Ultimatum vom 19. April und der Beginn des Kriegs mit dem Einrücken der Österreicher in Piemont befreiten. Jetzt erschien Österreich als der den Krieg beginnende Teil und stand allein.

Der Krieg nahm einen für die Verbündeten günstigen Verlauf. Um so unerwarteter und überaus schmerzlich überraschend traf C. die Nachricht von dem Abschluß der Friedenspräliminarien von Villafranca (11. Juli 1859). Er gab alsbald seine Entlassung ein und verzweifelte momentan an allem. Bald aber schöpfte er neue Hoffnung. Zunächst wirkte er im Verein mit maßgebenden politischen Freunden auf die friedliche, durch Volksabstimmungen zu bewirkende Annexion nicht nur von Mittelitalien, einschließlich des ganzen Kirchenstaats und Toscanas, sondern auch von Süditalien hin. Zu Anfang des Jahrs 1860 übernahm er aber auch wieder das Ministerium und suchte nun auf amtlichem Weg zu vollenden, was er außeramtlich begonnen hatte. Ohne Rücksicht auf die Bestimmungen des Züricher Friedens und die Proteste Österreichs, auch ohne die Genehmigung Napoleons abzuwarten, acceptierte er den durch Volksabstimmung beschlossenen Anschluß Parmas, Modenas, Toscanas und der Romagna an Sardinien und beschwichtigte Frankreich durch die Abtretung von Savoyen und Nizza, deren Genehmigung er im Parlament durchsetzte. Die Unternehmung Garibaldis gegen Sizilien unterstützte er im geheimen und ließ, als dieselbe im wesentlichen geglückt war, die neapolitanische Armee aber noch am Volturno Widerstand leistete, zur rechten Zeit sardinische Truppen in den Kirchenstaat einrücken, welche die Marken und Umbrien durch den Sieg bei Castelfidardo [879] (18. Sept. 1860) eroberten und den Rest des südlichen Königreichs besetzten, das nun auch mit Sardinien vereinigt wurde. Mehrere Mächte erhoben gegen dieses revolutionäre Vorgehen heftigen Protest, auch Frankreich rief seinen Gesandten von Turin ab. Allein C. ließ sich nicht mehr beirren. Auf den 18. Febr. 1861 ward das italienische Parlament zusammenberufen, einige Tage darauf Viktor Emanuel als König von Italien proklamiert. Nur Rom und Venedig fehlten dem neuen Reich noch. Über das erstere, welches von der nationalen Partei als Hauptstadt des Königreichs verlangt wurde, sprach sich C. 26. März in den Kammern aus, gab seiner Hoffnung auf friedliche Auseinandersetzung mit dem Papst Ausdruck und ermahnte zu Geduld und Mäßigung. Er vertraute auf den Sieg des Grundsatzes, den er noch auf dem Sterbebett aussprach: „Freie Kirche im freien Staat“. Nicht lange darauf erkrankte er und starb 6. Juni 1861, von Piemont und ganz Italien aufs tiefste betrauert. Er war der größte Staatsmann Italiens seit Jahrhunderten. Das Werk, das sein Genie geschaffen, überdauerte seinen Tod und erreichte wenige Jahre nachher seine Vollendung in seinem Sinn, ein Beweis für den Scharfblick, die Staatskunst und die Schöpferkraft seines Gründers. In Turin wurde ihm auf der Piazza Carlo Emanuele 1873 ein großes Monument von Duprés Meisterhand (fünf Marmorstatuen und Bronzereliefs enthaltend) errichtet; auch in Rom wird ihm ein Denkmal gesetzt. Die „Discorsi parlamentari del conte Camillo di C.“ gab Massari heraus (Turin 1863 ff., 12 Bde.); „Lettere edite ed inedite del conte C. 1821–61“ veröffentlichte L. Chiala (das. 1883–84, 4 Bde.; deutsch, Leipz. 1884 ff.), bisher unbekannte Briefe Cavours an Emanuel d’Azeglio aus den Jahren 1852–61 Bianchi (1885). Vgl. die Biographien Cavours von Massari (deutsch von E. Bezold, Leipz. 1874) und Mazade (Par. 1877).