MKL1888:Chaucer

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Chaucer“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Chaucer“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 3 (1886), Seite 969970
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: Geoffrey Chaucer
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Geoffrey Chaucer
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Chaucer. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 969–970. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Chaucer (Version vom 11.04.2021)

[969] Chaucer (spr. tschahßʹr), Geoffrey, „der Morgenstern der englischen Dichtkunst“, ward nach neuester Forschung um 1340 zu London als Sohn eines Weinhändlers geboren und studierte in Oxford oder Cambridge, wie es scheint, keine Fachwissenschaft, sondern hauptsächlich die bekanntern Schriftsteller des klassischen Altertums. Nachdem er unter Eduard III. 1359 in die Armee getreten und gegen Frankreich gekämpft, auch ein Jahr in französischer Gefangenschaft zugebracht, kam er als Edelknappe (valet) an den Hof Eduards III., wo er sich durch Kenntnisse und staatsmännisches Talent hervorthat, verheiratete sich mit einer Niederländerin aus vornehmem Geschlecht (Ehrendame der Königin Philippa) und ward dann zum königlichen Squire (Schildhalter) ernannt und in dieser Eigenschaft 1372 mit einer diplomatischen Mission nach Genua betraut. Einen sehr beträchtlichen Zuwachs erhielten seine Einnahmen durch seine 1374 erfolgte Ernennung zum Steuerkontrolleur über die Abgaben von Wolle, Fellen und Wein im Londoner Hafen. Sowohl bei Eduard als dessen Nachfolger Richard II. stand er in großer Gunst und wurde mehrfach mit Missionen nach Frankreich und Italien betraut, verlor jedoch, wahrscheinlich 1387, plötzlich Ehren und Einkünfte, vorgeblich wegen Beteiligung an politischen Vereinen, in Wirklichkeit, weil er, obwohl Mitglied des stürmischen Parlaments von 1386, welches die Minister der Krone in Anklagestand versetzte und dem König selbst für ein Jahr einen Verwaltungsrat aufnötigte, doch an der Hofpartei festhielt, für die siegende Partei Gloucesters genug, um ihn ihrer Rache zu opfern. Erst als John von Lancasters Sohn Heinrich Bolingbroke 1399 den Thron bestieg, wurde Chaucers kleinem Jahrgehalt von 20 Mark, den man ihm gelassen, die erhebliche Summe von 40 Mark zugelegt. Er starb aber nach Angabe einer allerdings erst später verfaßten, doch glaubwürdigen Grabschrift schon 25. Okt. 1400 und wurde, der erste Dichter Englands, in dem Teil der Westminsterabtei beigesetzt, der seitdem den Namen des „Poetenwinkels“ erhalten hat. C. verdankt seine dichterische Bedeutung und Eigentümlichkeit nächst der Naturanlage seines Genius vorzugsweise den Zeitverhältnissen, seiner Lebensstellung und dem eigentümlichen Gang seiner Bildung, weniger also den Büchern als dem Leben. Namentlich übten seine Reisen wichtigen Einfluß auf seine Kunst. In Italien lernte er die berühmtesten Dichtungen jener Zeit kennen und schulte an ihnen seine Technik; ja, selbst viele seiner Stoffe entnahm er den Italienern (vorzugsweise Boccaccio) wie anderseits den Schätzen der altfranzösischen Litteratur. Die chronologische Ordnung seiner Hauptwerke läßt sich nur annähernd feststellen. Der Jugendzeit des Dichters gehören an: „The romaunt of the rose“, eine Bearbeitung des altfranzösischen Romans von der Rose; „The book of the duchess“ (um 1369) und „Life of St. Cecil“, das später in den „Canterbury tales“ Aufnahme fand. Nach der italienischen Reise entstand das Epos „Troilus and Cressida“, eine Nachahmung des „Filostrato“ des Boccaccio, in der die Figur des Pandarus jedoch originale Schöpfung Chaucers ist; Shakespeares gleichnamiges Drama gründet sich auf dieses Gedicht. In dieselbe Zeit fallen: eine Prosaübersetzung von Boethius’ Schrift „De consolatione philosophiae“; „The parliament of birds“, eine Dichtung, die sich auf König Richards II. Vermählung mit Anna von Böhmen bezieht; „The house of fame“, eine unvollendete Nachahmung der „Göttlichen Komödie“, und „Legend of good women“, gleichfalls unvollendet und meist Ovid nachgebildet. Diese Werke, durch Frische und Wärme der Phantasie ausgezeichnet, fanden großen Beifall; dauernden Ruhm aber trugen dem Dichter die „Canterbury tales“ (frühstens 1393, unvollendet) ein, in denen seine Vorzüge nach allen Seiten hin entwickelt und gereift erscheinen. In dieser Dichtung, bei der C. der Rahmen von Boccaccios „Decamerone“ vorschwebte, bringt er einen bunten Haufen allerhand „sündhaften Volkes“ zusammen, das, auf einer Wallfahrt nach Canterbury zum Grab des heil. Thomas begriffen, sich der Reihe nach Geschichten erzählt, deren Details ein lebendiges und interessantes Gemälde bilden. Besonders kunstvoll sind die Lebensart und die Eigentümlichkeiten der Pilger (im ganzen 29 Personen) in der Haupteinleitung geschildert; jede einzelne Erzählung ist ein Zeugnis genauester Kenntnis der menschlichen Natur und ein wahrer Schatz von Humor, wie denn letzterer bei C. unter allen Dichtern der Welt zuerst zur klaren Entfaltung gekommen ist. Das protestantische Selbstgefühl des Dichters regt sich sehr lebhaft in der Ironie, mit welcher er den Ablaßkrämer darstellt, der mit allerlei Seltenheiten handelt. Der Oxforder Geistliche erzählt nach Boccaccio die Geschichte der Griseldis, und der Ritter, dessen Erzählung die erste und längste ist, gibt eine freie Bearbeitung von dessen „Theseide“. Ein großer Teil des Stoffs ist französischen Contes und Fabliaux entnommen, und die Erzählungen gehen daher auch wohl ins Burleske und Schmutzige über. Die trüben Zeiten seines Lebensabends veranlaßten C. zu dem Gedicht „Complaint to his purse“. Bei der damals auch in England herrschenden Vorliebe für fremde Sprachen mußte C. gewissermaßen diejenige erst schaffen, in der er schrieb. So wurde er etwa für das Englische, was Luther für die deutsche Sprache ist. Die Versifikation machte er natürlicher und gedrängter, indem er den unregelmäßigen Alexandriner in eine kunstgerechte Form brachte. Sein Versmaß, die zehn- und achtsilbige Zeile, ist fast von allen englischen Dichtern, von Spenser bis Byron, beibehalten worden. Chaucers Werke sind in verschiedenen Handschriften aufbewahrt und häufig gedruckt worden. Eins der ersten Produkte von Caxtons Presse war eine Ausgabe der „Canterbury tales“ (1478–83). Eine kritische Ausgabe derselben mit Glossar besorgte Tyrrwhitt (Lond. 1798, 2 Bde.; neue Ausg., das. 1852); von den spätern Ausgaben sind die von Wright (das. 1847–51, 3 Bde.; neue Ausg. 1867) und Furnivalls „Six-text edition“ (das. 1868) hervorzuheben. Die sämtlichen „Poetical works“ gaben Nicolas (1845, 6 Bde.; 1870, 8 Bde.) und R. Bell (mit „Preliminary essay“ von Skeat, 1878, 4 Bde.) heraus. Die 1867 von Furnivall gegründete Chaucer Society in London veranstaltet Abdrücke von Handschriften der Werke Chaucers und veröffentlicht auf letztere bezügliche Abhandlungen. Überhaupt ist die Spezialforschung über C. sehr rege. Ausgewählte Canterbury-Erzählungen übersetzte Kannegießer (Zwickau 1827, 2 Bde.); nach ihm begann Fiedler eine Übersetzung derselben (Dessau 1844), die aber bei Vers 5560 abbricht. Die einzig vollständige Übertragung sämtlicher Erzählungen, zugleich die gelungenste, ist die von Hertzberg (Hildburgh. 1866), der zugleich in einer umfangreichen Einleitung über Zeitalter, Leben und schriftstellerischen Charakter des Dichters bedeutsame Aufschlüsse erteilt und die frühern unkritischen Biographien berichtigt. John Koch übersetzte ausgewählte kleinere Dichtungen Chaucers (Leipz. 1880); eine neue Übersetzung von Chaucers Werken begann [970] A. v. Düring (Straßb. 1883–85, Bd. 1 und 2). Vgl. Pauli, Bilder aus Altengland (Gotha 1860); Kissner, C. in seinen Beziehungen zur italienischen Litteratur (Bonn 1867); B. ten Brink, C., Studien zur Geschichte seiner Entwickelung und zur Chronologie seiner Schriften, Bd. 1 (Münster 1870); Derselbe, Chaucers Sprache und Verskunst (Straßb. 1884); Mamroth, Geoffrey C., seine Zeit und seine Abhängigkeit von Boccaccio (Berl. 1872); Ward, Geoffrey C. (Lond. 1879).