MKL1888:Chemische Verwandtschaft
[987] Chemische Verwandtschaft (Affinität), die Ursache der Bildung und des Bestehens chemischer Verbindungen. Alle Elemente zeigen unter bestimmten Verhältnissen ein gewisses Bestreben, sich mit andern Elementen zu verbinden; aber dies Vereinigungstreben ist durchaus nicht bei allen Elementen gleich. Während Kalium sich außerordentlich begierig mit Sauerstoff verbindet, besitzt Gold sehr geringe Verwandtschaft zum Sauerstoff und läßt sich direkt gar nicht mit demselben verbinden. Die ungleichen Grade der Verwandtschaft lassen sich nicht messen; man kann die Kraft, mit welcher die Atome in einer chemischen Verbindung zusammengehalten werden, nicht durch Vergleichung mit einer andern Kraft bestimmen, sondern vermag nur über die relative Größe der Verwandtschaft Betrachtungen anzustellen. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Elemente um so größere Verwandtschaft zu einander besitzen, je mehr sie in ihren Eigenschaften voneinander abweichen. Man spricht von einfacher chemischer Verwandtschaft, wenn sich zwei Elemente direkt miteinander vereinigen, wie Eisen mit Schwefel beim Erwärmen. Wirkt aber Eisen auf Schwefelquecksilber, also auf eine chemische Verbindung von Schwefel mit Quecksilber, so tritt ein Wettstreit ein zwischen den drei Elementen Schwefel, Quecksilber und Eisen, und da Schwefel zum Eisen größere Verwandtschaft besitzt als zum Quecksilber, so wird das Schwefelquecksilber zersetzt, und es entsteht Schwefeleisen, während sich metallisches Quecksilber ausscheidet. Hier „wählt“ gewissermaßen der Schwefel zwischen den beiden Metallen, und man spricht daher von einfacher Wahlverwandtschaft. Treten zwei chemische Verbindungen miteinander in Berührung, so kann auch ein doppelter Austausch stattfinden; aus Jodkalium und Chlorquecksilber wird z. B. Chlorkalium und Jodquecksilber, und dies nennt man eine Zersetzung durch doppelte Wahlverwandtschaft. Übergießt man Zink mit Wasser, so findet keine Einwirkung statt; gießt man aber Schwefelsäure hinzu, so wird Wasser zersetzt, der Wasserstoff desselben entweicht, und der Sauerstoff des Wassers verbindet sich mit dem Zink zu Zinkoxyd, welches sich mit der Schwefelsäure zu schwefelsaurem Zinkoxyd verbindet. Hier waltet prädisponierende Verwandtschaft. Die Verwandtschaft des Zinks zum Sauerstoff ist nicht groß genug, um denselben bei gewöhnlicher Temperatur dem Wasserstoff entreißen zu können. Tritt aber Schwefelsäure hinzu, so wirkt diese prädisponierend wegen ihrer großen Neigung, sich mit einer Base zu verbinden, und nun wird das basische Zinkoxyd gebildet. Diese Vorstellungen haben durch die neuere Chemie nicht unwesentliche Modifikationen erfahren. Zink zersetzt nicht das Wasser, wohl aber die Schwefelsäure, welche aus Wasserstoff, Schwefel und Sauerstoff besteht. Es bildet sich schwefelsaures Zink, indem das Zink an die Stelle des Wasserstoffs tritt, der dadurch frei wird. Soll die ch. V. zur Äußerung gelangen, so ist vor allem innigste Berührung erforderlich. Eine solche innige Berührung gestattet vor allem der flüssige Zustand der Körper, und man hat daher den Satz aufgestellt: Corpora non agunt nisi fluida, „die Körper wirken nur aufeinander, wenn sie flüssig sind“. Man kann trocknes kohlensaures Natron mit trockner Weinsäure als feinstes Pulver sehr innig mischen, ohne daß eine Zersetzung eintritt; sobald man aber das Gemisch mit Wasser übergießt, entwickelt sich alsbald lebhaft Kohlensäure, weil die Weinsäure durch einfache Wahlverwandtschaft das kohlensaure Natron zersetzt. Ferner modifiziert das Licht die ch. V. Ein Gemisch von Wasserstoffgas mit Chlor verändert sich [988] nicht im Dunkeln, bei zerstreutem Tageslicht vereinigen sich dagegen beide Gase allmählich und bei direktem Sonnenlicht momentan unter Explosion zu Chlorwasserstoff. Umgekehrt ist Chlorsilber im Finstern eine sehr beständige Verbindung, während sie durch das Licht sehr schnell geschwärzt und zersetzt wird. Häufig äußert sich die ch. V. erst bei erhöhter Temperatur. Quecksilber hält sich an der Luft unverändert, beim Erhitzen verbindet es sich langsam mit dem Sauerstoff der Luft zu rotem Quecksilberoxyd, und bei noch höherer Temperatur zerfällt letzteres wieder in Quecksilber und Sauerstoff. Quecksilber zeigt also nur innerhalb bestimmter, ziemlich enger Temperaturgrenzen Verwandtschaft zum Sauerstoff. Leitet man über erhitztes Eisen Wasserdampf, so verbindet sich das Eisen mit dem Sauerstoff des Wassers, und der Wasserstoff des letztern entweicht; Eisen hat also bei einer gewissen Temperatur größere Verwandtschaft zum Sauerstoff als der Wasserstoff. Bei einer andern Temperatur verhält es sich umgekehrt, denn wenn man Wasserstoff über erhitztes Eisenoxyd leitet, so entzieht er dem letztern den Sauerstoff, um Wasser zu bilden, und metallisches Eisen bleibt zurück. Eigentümlich und oft sehr stark wird die ch. V. durch Löslichkeits- und Flüchtigkeitsverhältnisse der Körper modifiziert. Kalium hat z. B. zu Sauerstoff bedeutend größere ch. V. als Kupfer; wenn aber eine Lösung von Chlorkupfer mit einer Lösung von Kaliumoxyd (Verbindung von Kalium mit Sauerstoff) gemischt wird, so entstehen Chlorkalium und Kupferoxyd, weil das letztere unlöslich ist und sich daher aus der Lösung ausscheidet. Auf ähnliche Weise können nicht oder weniger flüchtige Körper von schwacher Affinität bei höherer Temperatur flüchtigere Körper von stärkerer Affinität aus Verbindungen ausscheiden. Diese Erscheinungen stehen im Zusammenhang mit der Modifizierung der chemischen Verwandtschaft durch die Mengenverhältnisse der zu einander in Beziehung tretenden Körper, welche bisweilen sehr auffällig hervortritt. Läßt man viel Chlorwasserstoff auf Fluorcalcium einwirken, so entstehen Fluorwasserstoff und Chlorcalcium, während umgekehrt viel Fluorwasserstoff mit Chlorcalcium Chlorwasserstoff und Fluorcalcium bildet. Man nennt solche Vorgänge Zersetzungen durch Massenwirkung, und sie spielen in der Natur eine große Rolle. Vgl. auch Entstehungszustand, Elektrolyse und Katalyse.