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MKL1888:Delirium

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Delirium“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 644645
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Delirium. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 644–645. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Delirium (Version vom 07.06.2021)

[644] Delirium (lat.), Irresein, Phantasieren, Irrereden, eine Erscheinung, welche bei krankhaften Zuständen sehr verschiedener Art vorkommt und darin besteht, daß die Kranken infolge einer Gehirnstörung zu Reden oder Handlungen veranlaßt werden, welche mit den äußern Verhältnissen nicht im Einklang stehen. Das Irrereden im weitern Sinn kommt bei Geistesstörungen sehr häufig vor. Gewöhnlich aber gebraucht man den Ausdruck D. oder Delirieren nur im engern Sinn für das Irresein bei Krankheiten, mit Ausschluß der Geisteskrankheiten. Am häufigsten wird das D. beobachtet bei schweren fieberhaften Krankheiten, namentlich den sogen. Infektionskrankheiten (z. B. bei Typhus, Blattern, Scharlach, Masern), aber auch bei den sogen. entzündlichen Fiebern, z. B. bei Hirnhautentzündung, Lungenentzündung. Nach heftigen Verwundungen, wenn sich Wundfieber einstellt, kommt das Wundfieberdelirium (D. traumaticum) vor. Irrereden ist ferner eine häufige Erscheinung bei akuten Vergiftungen mit narkotischen Giften und anästhetischen Mitteln (Morphium, Belladonna, Chloroform), auch bei den eigentlichen Dyskrasien oder den Blutentmischungskrankheiten (Zurückhaltung der Harn- und Gallenbestandteile im Blut). Seltener wird Irrereden bei fieberlosen Krankheiten, wie bei Hysterie und Epilepsie, und nach großen Blutverlusten und dadurch bedingter Gehirnanämie beobachtet. Das D. ist immer ein Beweis dafür, daß das Gehirn in seinen Verrichtungen gestört ist, und die Ursache dieser Störung liegt teils in einem übermäßigen oder abnorm geringen Zufluß von Blut zum Gehirn, teils darin, daß das im Gehirn zirkulierende Blut durch fremdartige, giftähnlich wirkende Stoffe verunreinigt ist. In Beziehung auf die Heftigkeit und die Art der Äußerung ist das D. sehr verschieden. Zuweilen ist es mehr ein stilles, sanftes Irrereden, die Kranken murmeln nur so vor sich hin, zupfen an der Bettdecke (D. blandum, tranquillum, mussitans, mite), wie dies vorzüglich in den höhern Stadien der nervösen Fieber, wenn bereits eine größere Schwäche eingetreten ist, vorkommt; in andern Fällen herrschen wilde Delirien (D. furibundum, furiosum) vor, wobei die Kranken heftig reden, schreien, fort wollen, aus dem Bett springen oder wenigstens große Unruhe zeigen, fortwährend mit den Armen gestikulieren etc. Können die Kranken aus dem Irresein durch eine bestimmte Anrede, [645] durch Rufen ihres Namens zu lichten Augenblicken erweckt werden, wie dies öfters beim Typhus beobachtet wird, so nennt man die Delirien typhomanische. Das D., welches bei den oben erwähnten Krampfzuständen zeitweilig sich einstellt (D. spasticum, nervosum, periodicum), hat in Bezug auf Gefahr eine sehr geringe Bedeutung, während dagegen namentlich die erste Form des D. eine sehr schwere Erkrankung bezeichnet. Da das D. nicht eine Krankheit für sich, sondern nur ein Symptom und zwar sehr verschiedener Krankheiten ist, so kann es selbstverständlich nicht Gegenstand einer besondern Behandlung sein. In den meisten Fällen ist überhaupt das D. keiner Behandlung zugänglich. Immerhin aber ist es in den Fällen, wo das D. im Verlauf einer fieberhaften Krankheit vorkommt, ganz zweckmäßig, wenn man kalte Umschläge oder einen Eisbeutel auf den Kopf legt, Senfteige an den Waden appliziert und beruhigende Mittel gibt, sofern nicht die Grundkrankheit, z. B. Typhus, derartige Eingriffe widerraten erscheinen läßt.

Eine besondere Art des D. ist das D. tremens (lat., Säuferwahnsinn, Mania potatorum), welches das wesentliche Symptom einer selbständigen, durch Alkoholmißbrauch entstehenden Gehirnkrankheit ausmacht. Es äußert sich teils in Sinnestäuschungen, teils in stillen oder wilden Delirien, wobei gewöhnlich ein starkes Zittern der Glieder und der Zunge vorhanden ist. Die Kranken glauben Mäuse und andre Tiere zu sehen und suchen diese zu erhaschen oder sie zu vertreiben, sie wischen deshalb beständig auf ihrer Haut oder der Bettdecke, um die Tiere, Spukgestalten, Würmer u. dgl. zu entfernen, welche namentlich während der Dunkelheit in Masse auf sie losstürmen, nach ihnen schnappen und sie in jeder Art ängstigen. Zuweilen sind die Delirien wahnsinnartig, die Kranken glauben sich von Feinden umgeben, schreien und toben, schlagen um sich und wollen entfliehen, sich aus dem Fenster stürzen. Andre Kranke sind dagegen stets heiter, lachen und schwatzen beständig. Der Gesichtsausdruck ist bald zornig gereizt, bald ruhig. Die Delirien machen zeitweise Pausen und kehren dann um so heftiger wieder. Die Kranken verlangen fortwährend nach Getränken, besonders geistigen, genießen aber sonst gar nichts. Eine Haupterscheinung dabei ist die vollkommene Schlaflosigkeit. Die Haut schwitzt sehr, die Augenlider sind gerötet, Lippen und Zähne trocken, rußig belegt; der Stuhl ist verstopft, der Urin sparsam, der Puls gewöhnlich nicht beschleunigt. Allmählich werden die Kranken erschöpft, und es stellt sich dann zeitweise Schlaf ein. Zuweilen tritt jedoch auch der Tod ein, nachdem heftiges Toben vorausgegangen und die Kranken zusehends verfallen sind. Als Nachkrankheiten bleiben manchmal Geistesstörungen zurück. Der Ausbruch der Krankheit wird entweder durch starke Exzesse im Branntweintrinken oder durch plötzliche Entziehung desselben bei Gewohnheitstrinkern hervorgerufen; oft wird er durch andre akute Leiden, wie Lungenentzündung, Knochenbrüche, Operationen etc., begünstigt. Am häufigsten kommt das D. im Mannesalter vom 30. bis 50. Lebensjahr vor. Die Dauer desselben ist meist kurz, auf einige Tage beschränkt, selten zieht es sich wochenlang hinaus; jedoch treten später leicht neue Anfälle des D. ein. Das D. tremens ist eine schwere Krankheit, die in 15 Proz. der Fälle mit dem Tod endigt; als anatomische Grundlage der Störung ergibt sich meist eine chronische Entzündung der Hirnhäute, Blutüberfüllung und Ödem des Gehirns. Die Behandlung besteht zunächst darin, daß man Gewohnheitstrinkern nicht plötzlich den Alkohol entzieht und ihnen kräftige Nahrung und Wein verordnet. Als sicherste Mittel gegen das D. galten bisher das Opium und das Morphium, welche man in großen schlafmachenden Dosen reichte. Seit einigen Jahren ist dazu noch das Chloralhydrat gekommen, welches wegen seiner prompten schlafmachenden Wirkung namentlich in solchen Fällen unschätzbar ist, wo das D. durch einen Knochenbruch oder andre schwere Verletzungen zum Ausbruch gekommen ist und der Kranke sich also nicht bewegen darf. Bei drohender Herzschwäche dagegen ist das Chloral durchaus zu vermeiden! Wegen der Gefahr für andre Kranke sind Deliranten zu bewachen und in besondere Zimmer zu legen. Kann man den Kranken herumgehen lassen, ohne befürchten zu müssen, daß er sich Schaden thut, so ist dies deshalb gut, weil derselbe dadurch sich am besten so ermüdet, daß ihn das Bedürfnis des Schlafs überkommt. Man hat deshalb auch in manchen Fällen an D. Erkrankte von zwei kräftigen Männern fassen und so lange umherführen lassen, bis die Ermüdung aufs höchste gesteigert war. Nur völlige Unterlassung des Mißbrauchs geistiger Getränke, namentlich des Branntweins, schützt vor Wiederholung der Anfälle; leider fallen die Kranken aber meist früher oder später in ihre alte Gewohnheit des Trinkens zurück. Vgl. Rose, D. tremens und D. traumaticum (Stuttg. 1884).