MKL1888:Delphi

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Delphi“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 650651
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Delphi. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 650–651. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Delphi (Version vom 27.05.2023)

[650] Delphi (griech. Delphoi), kleine, aber wegen ihres berühmten Orakels wichtige Stadt Griechenlands, in Phokis am Parnaß, lag in einer Höhe von 700 m auf einer halbkreisförmigen Berglehne unterhalb zweier steil abstürzender Felswände (Phädriaden und Hyampeia genannt), ringsum von einer großartigen, feierlich-ernsten Natur umgeben. Am Fuß der Hyampeia entspringt die Kastalische Quelle, die im Altertum einen Lorbeerhain tränkte und dann durch D. zum Fluß Plistos herunterfloß. Der oberste Teil der amphitheatralisch aufsteigenden Stadt enthielt innerhalb einer Umfassungsmauer den großen Apollontempel, den eigentlichen Sitz des Orakels, nebst mehreren kleinern Tempeln, Priesterwohnungen, Thesauren (Schatzhäusern zur Aufbewahrung der Weihgeschenke) etc. Auch das Theater, die Lesche der Knidier, eine Art Herberge, geschmückt mit berühmten Wandgemälden des Polygnot (Darstellungen aus dem trojanischen Sagenkreis), ferner das Grabmal des Neoptolemos, die Stoa der Athener, das Buleuterion (Rathaus) u. a. befanden sich hier. Der älteste Name von D., der schon bei Homer vorkommt, war Pytho, weil Apollon dort den Drachen Python erlegt und dadurch den Anbau möglich gemacht hatte. Vor Apollon wurden andre Götter (Gäa, Themis, Poseidon) hier verehrt. Der Apollontempel selbst war, nachdem ein älterer Bau 548 v. Chr. abgebrannt war, durch den Baumeister Spintharos aus Korinth besonders auf Kosten des reichen athenischen Geschlechts der Alkmäoniden prachtvoller denn zuvor aufgebaut und 478 vollendet worden. Er war im dorischen Stil aufgeführt und auf allen Seiten mit Bildwerken reich verziert. Am Eingang fiel der Blick auf Sprüche der sieben Weisen, als: „Erkenne dich selbst“, „Nichts zu sehr“ u. a. Die Cella des Tempels umschloß außer einer Apollonstatue den Omphalos (Erdnabel), einen kegelförmigen Block von weißem Marmor, der als der Mittelpunkt der Erde galt; dahinter, im Opisthodom, befand sich die eigentliche Orakelstätte, ein Erdschlund, aus welchem ein kalter, angeblich begeisternder Luftzug emporstieg. Über demselben stand ein kolossaler eherner Dreifuß mit einem Sitz für die Priesterin (Pythia). Die Oberleitung des Orakels befand sich in den Händen von fünf Hauptpriestern, die durchs Los aus gewissen Familien Delphis auf Lebenszeit gewählt wurden und großen Einfluß auf die Orakelsprüche hatten. Die Pythia mußte über 50 Jahre alt, von ehrlicher Herkunft und in ihrem Lebenswandel unbescholten sein; auch trug sie jungfräuliche Kleidung. Übrigens durften nur Männer das Orakel befragen, und jeglicher mußte vorher beten und opfern. Durch Fasten, einen Trunk aus der Quelle Kassotis und Kauen von Lorbeerblättern vorbereitet, begab sich sodann die Pythia ins Adyton und bestieg nach mancherlei geistaufregenden Vorbereitungen den lorbeergeschmückten Dreifuß. Allmählich brachte sie der aufsteigende Luftzug in Ekstase, und unter krampfhaften Zuckungen stieß sie einzelne Worte aus, welche der neben ihr stehende Priester (der Prophetes) auffing und, zu einem Spruch ausgeführt, dem Fragenden verkündete. Die Orakelsprüche waren, wie das in der Natur der Sache lag, meist rätselhaft und verschiedener Auslegung fähig. In älterer Zeit wurden sie in poetischer Form gegeben, später mußte Prosa genügen. Übrigens war die ganze Umgebung der Stadt voll von geweihten Stätten und Erinnerungen und dem Volk ein Heiligtum sowie der Schauplatz hoher Feste (die pythischen Agonen). In zahlloser Menge prangten hier unter dem Schutz des Gottes die Meisterwerke der Kunst, die Kostbarkeiten und frommen Weihgeschenke der Völker, der Städte und der Könige.

Als Entdecker des delphischen Orakels nennt die Sage den Hirten Koretas, der, durch seine Ziegen aufmerksam gemacht, in den Erdschlund sah. Die erste Gründung eines Heiligtums zu D. wird auf die benachbarte Stadt Krisa, eine kretische Kolonie, zurückgeführt, unter deren Oberherrschaft D. in der Folge stand. Da es eine dorische Gründung war, so breitete sich sein Ansehen besonders durch die dorische Wanderung (1104 v. Chr.) aus. Mittelpunkt einer großen hellenischen Amphiktyonie, welche besonders nord- und mittelgriechische Staaten umfaßte, und deren Vertreter (Hieromnemonen) jährlich zweimal sich versammelten, ward das delphische Heiligtum ein Hauptfaktor der Entwickelung und Verbreitung des Hellenismus. Lange Zeit hindurch wirkte es fast bei jedem wichtigen Ereignis, bei jedem Unternehmen von höherer Bedeutung mit; die Wirren des öffentlichen und privaten Lebens, die Anordnungen der Gesetzgeber und die gottesdienstlichen Einrichtungen unterlagen seiner Entscheidung. Auch die Wiederherstellung und feste Einrichtung der Olympischen Spiele durch Lykurg und Iphitos wurde unter delphischen Auspizien vorgenommen. Die Pythia war [651] eine religiös-politische und selbst sittlich-wirksame Macht, von der die größten Dichter, namentlich Pindar, Äschylos und Sophokles, mit hoher Ehrfurcht sprechen, und an welche von allen Seiten feierliche Gesandtschaften abgingen, Rat, Aufklärung und Verhaltungsmaßregeln begehrend. Schon die Alten sammelten die Sprüche des Orakels, und noch jetzt besitzen wir deren genug, um die vielseitige Wirksamkeit des Instituts zu erkennen. Aber auch im Ausland war das delphische Heiligtum ein mächtiges Organ für die Verbreitung des Hellenismus, teils durch die zahlreichen Kolonien, welche auf des Gottes Befehl die Griechen nach Kleinasien, Italien, Sizilien, Afrika etc. sandten, teils durch die Verbindung, in welche fremde Völker und Herrscher (Gyges, Krösos, Tarquinius Superbus) mit dem Orakel traten. Die Oberherrschaft Krisas über die Stadt und das Heiligtum dauerte noch lange nach der dorischen Wanderung fort, bis der Mißbrauch derselben zu einem Kriege gegen die Krisäer führte, der 586 mit der Zerstörung der Stadt endigte. Das Gebiet derselben ward eingezogen und dem Gott als Eigentum gegeben, die Einwohnerschaft zu Tempelsklaven gemacht. D. wurde dadurch selbständiger; der dortige Rat bestand aus den Mitgliedern der delphischen Adelsfamilien. Doch hatte D. öfters mit den Phokern Streitigkeiten, so 447, wo Perikles die Phoker unterstützte, während D. von Sparta Hilfe erhielt. Hatte noch zur Zeit der Perserkriege das Orakel den wohlthätigsten Einfluß auf das Zusammenhalten der Griechen gegen den Nationalfeind geübt, so begann mit dem Peloponnesischen Krieg, mit der wachsenden Aufklärung und dem religiösen Indifferentismus sein Verfall. Die Delphier selbst übervorteilten die zuströmenden Fremden und dienten in den politischen Wirren der die meisten Vorteile versprechenden Partei, meist die Zerwürfnisse fördernd, statt zu versöhnen und zu vereinigen. Im Peloponnesischen Krieg finden wir den pythischen Apollon auf der Seite der Peloponnesier als der Kontinentalmacht, weshalb Perikles die Athener gegen ihn einzunehmen suchte. Später war aus einem ähnlichen Grund Epaminondas des Gottes Gegner. Die Eingriffe der Phoker in die Rechte der Stadt und des Heiligtums, die darauf folgenden Heiligen Kriege mit der Plünderung des Tempels durch die phokischen Feldherren Philomelos, Onomarchos und Phaläkos (355–346) beschleunigten das Sinken Delphis und boten zugleich dem König Philipp von Makedonien eine willkommene Veranlassung, sich in die Amphiktyonie einzudrängen und das Patronat des Orakels an sich zu reißen. Ein neuer Glücksstern schien für D. aufzugehen, nachdem 279 wie durch ein Wunder die Macht der Gallier unter Brennus in der unmittelbaren Nähe des Heiligtums (wie 480 die der Perser) zurückgescheucht worden war. Sulla und Nero durften jedoch später ungestraft die damals noch vorhandenen delphischen Kunstschätze wegschleppen. Erst seit Hadrian begann mit der neubelebten Achtung vor Griechenlands Kunst, Religion und Litteratur auch wieder eine bessere Zeit für D., eine zweite und letzte Blüte, deren beredter Zeuge Plutarch ist. Mit dem Untergang des hellenischen Heidentums schließt dann auch die Geschichte Delphis. Von den Kirchenvätern angegriffen, von den Neuplatonikern verteidigt, von Konstantin d. Gr. für sein Konstantinopel geplündert, zuletzt noch von Julianus vor seinem Zug nach Persien befragt, wurde das Orakel von Theodosius d. Gr. gegen Ende des 4. Jahrh. für erloschen erklärt und geschlossen. An der Stelle des alten D. liegt jetzt ein ärmliches, von Albanesen bewohntes Dorf, Kastri. Von dem prachtvollen, oftmals geplünderten Apollontempel sind noch Reste des Unterbaues vorhanden, auch sonst zahlreiche Trümmer: Mosaikfußboden, Säulenreste, Sarkophage etc.; am besten erhalten ist eine halb in Felsen gehauene Rennbahn. Die Kastalische Quelle sprudelt noch immer in ihr altes Bassin. Vgl. Hüllmann, Würdigung des delphischen Orakels (Bonn 1837); Götte, Das delphische Orakel in seinem politisch-religiösen und sittlichen Einfluß auf die Alte Welt (Leipz. 1839); Döhler, Die Orakel (Berl. 1862); A. Mommsen, Delphika (Leipz. 1878).