MKL1888:Descartes

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Descartes“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 700701
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Descartes. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 700–701. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Descartes (Version vom 22.11.2023)

[700] Descartes (spr. däkart), René, gewöhnlich Renatus Cartesius genannt, der Begründer der neuern Philosophie und der scharfsinnigste Denker der Franzosen, geb. 31. März 1596 zu La Haye in Touraine als Sohn eines Parlamentsrats, zeigte früh eine ungemeine Lebhaftigkeit des Geistes, kam im achten Jahr ins Jesuitenkollegium zu La Flèche, wo ihm die Mathematik die meiste Befriedigung gewährte. Um Erfahrungen zu sammeln, nahm er, 21 Jahre alt, Kriegsdienste und machte unter Moritz von Oranien und Tilly Kriegszüge in Holland und Deutschland mit, focht in der Schlacht am Weißen Berg (8. Nov. 1620) unter Buquoy gegen die Böhmen und unter demselben Heerführer in Ungarn gegen die Türken, beschäftigte sich aber im stillen eifrigst mit wissenschaftlichen Arbeiten, deren erste, „De musica“, vor Breda verfaßt ward. Den Entschluß aber, allen Vorurteilen zu entsagen und auf sichern und unzweifelhaften Grundlagen alles von neuem durch selbständige Forschung aufzubauen, faßte er in dem einsamen Winterlager vor Neuburg (1619). Nachdem er zu diesem Zweck 1624 seinen Abschied genommen, widmete er sich eine Zeitlang in Paris mathematischen Studien, die ihm bald Ruf verschafften, ging aber, um völlige Muße zur Ausarbeitung seines Systems zu finden, 1629 nach Holland, wo er 20 Jahre in Verborgenheit und beständig seinen Aufenthaltsort wechselnd, mit Ausnahme kurzer Reisen nach Deutschland, England und Dänemark, fast ununterbrochen verweilte. Während dieser Zeit verfaßte er die meisten und bedeutendsten seiner Werke, von denen er jedoch diejenigen, durch welche er mit der Geistlichkeit in Konflikt gekommen, wie die Schrift „De mundo“, lange zurückhielt, fand alsbald Anhänger und erbitterte Gegner, wurde von dem auf ihn aufmerksam gewordenen Kardinal Richelieu nach Frankreich, von der gelehrten Königin Christine (1649) nach Schweden eingeladen, um ihr bei dem Plan der Stiftung einer Akademie der Wissenschaften behilflich zu sein. Letztern Ruf nahm er an, starb aber an den Folgen des ungewohnten nordischen Klimas schon 11. Febr. 1650 in Stockholm, von wo seine Leiche 1661 nach Paris gebracht und in der Kirche Ste.-Geneviève du Mont beigesetzt wurde.

Ungeachtet D. durch seine mathematischen und physikalischen Entdeckungen, insbesondere durch das von ihm aufgestellte Gesetz der Trägheit, einer der Väter der neuern Physik geworden ist, so galt ihm doch nicht, wie seinem Zeitgenossen Bacon, die äußere, sondern die innere Erfahrung als der Ausgangspunkt unsers Wissens. Die Ergebnisse der sinnlichen Erfahrung sind, wie die Thatsache der Sinnestäuschungen lehrt, dem Zweifel unterworfen; der Anfang der Forschung aber kann nach ihm nur ein Unbezweifelbares und zwar ein solches, aus dem sich ein weiteres folgern läßt, d. h. ein wirkliches Prinzip, sein. Ein solches aber ist der Satz: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum); denn an der Thatsache, daß ich zweifle, d. h. denke, wäre auch dann kein Zweifel möglich, wenn alles, was ich denke, zweifelhaft wäre; aus dieser Thatsache aber folgt unmittelbar und ohne Schatten von Ungewißheit, daß ich bin, d. h. als denkendes Wesen bin; ob auch noch als körperliches etc., bleibt vorläufig dahingestellt. Das einzige Sein, dessen ich völlig gewiß bin, ist mein eignes, d. h. das Sein meines Geistes und seiner Gedanken, während das Sein der gesamten Körperwelt (auch meines eignen Leibes) ungewiß bleibt. Daß letztere ist, kann ich nur wissen, indem ich sie denke, d. h. eine Vorstellung von ihr habe; ob diese aber Erkenntnis oder bloße Einbildung sei, hängt von dem Grade der Verläßlichkeit ab, der meinen Gedanken selbst innewohnt. Fände sich unter den letztern eine Vorstellung, die ihrer ganzen Beschaffenheit nach so geartet ist, daß ich sie mir nicht selbst gegeben oder gemacht haben kann, sondern daß sie notwendig mir gegeben, d. h. von mir empfangen (bei der Geburt schon mitgebracht), worden sein muß, so wäre die Existenz dieses Gebers ebenso notwendig gewiß wie meine eigne. Eine solche aber ist die Idee Gottes, d. h. eines vollkommensten Wesens, eines unbeschränkten Seins, welche, da ein solches dem Gefühl der Beschränktheit meines eignen Seins gerade entgegengesetzt ist, nicht von mir selbst herrühren kann und, da sie sich in meinem Bewußtsein findet, demselben angeboren sein, d. h. von Gott selbst in mir verursacht, deren Existenz in mir daher der unumstößliche Beweis für die Existenz ihres Gegenstandes (der Gottheit) außer mir sein muß. Durch diese dem D. eigentümliche Wendung des ursprünglich von Anselmus von Canterbury gebrauchten ontologischen Beweises für das Dasein Gottes ist neben meinem eignen das Sein Gottes, durch dieses aber sofort auch das Sein der von meinem Geist verschiedenen Körperwelt für mich gewiß. Denn da die Vorstellung der letztern; d. h. der äußern Welt und Natur, in meinem Geist vorhanden und zwar so unvermeidlich vorhanden ist, daß ich, auch wenn ich wollte, mich derselben nicht zu entschlagen vermöchte, so könnte dieselbe, wenn sie trotzdem nur Täuschung sein sollte, nur das Werk eines überlegenen, absichtlich täuschen wollenden Dämons sein, d. h. die Gottheit selbst müßte Urheberin dieser absichtsvollen Täuschung sein. Da eine solche mit der Idee eines vollkommensten, also durchaus wahrheitsliebenden Wesens unvereinbar ist, so folgt, daß die äußere Welt, d. h. daß alles dasjenige wirklich existiert, was wir nach Anleitung unsrer Sinne als das Ausgedehnte mit Klarheit und Deutlichkeit uns vorstellen, und daß es die Eigentümlichkeiten wirklich besitzt, welche wir in solchen Vorstellungen an ihm erkennen. Dieses Ausgedehnte heißt Körper oder Materie. Bei sorgfältiger Reflexion über den Begriff des Körpers finden wir, daß die Natur der Materie nicht in der Härte, Schwere, Färbung oder sonst in einer sinnenfälligen Eigenschaft besteht, da jede solche Eigenschaft von dem Körper hinweggedacht werden kann, ohne daß hierdurch sein Wesen für unser Vorstellen zerstört wird, sondern lediglich in der Ausdehnung. Diese allein, die als solche der Rechnung unterworfen werden kann, bildet nicht nur die Grundlage der Geometrie, sondern auch der Physik. Dadurch, daß der Körper Ausdehnung hat, die Seele aber keine, ist zwischen beiden eine diametrale Differenz gesetzt, die zur Folge hat, daß, während der Körper zerstört werden kann, die Seele unverwüstlich, d. h. unsterblich, ist. Beide Substanzen, Körper und Seele, deren Sitz D. in die Zirbeldrüse als das einzige unpaarige Organ im Gehirn verlegte, würden nun aber als direkt einander entgegengesetzt völlig beziehungslos aufeinander bleiben, die Seele würde nicht auf den Körper, dieser nicht auf jene einwirken, wenn nicht Gott, von dem beide unbedingt abhängig sind, auch beide durchdränge und so die angemessene Übereinstimmung zwischen ihnen herstellte, immer schaffend und vermittelnd, eine Behauptung, welche seinen Schüler Geulings (s. d.) auf die Hypothese des Okkasionalismus (s. d.) leitete. Da D. das Wesen der Seele bloß im sich selbst bewußten Denken erkannte, so sprach er den Tieren eine solche ab und bezeichnete sie als belebte Maschinen, ein Wort, das häufig ganz grobsinnlich mißverstanden worden ist. D. vollzog eine entscheidende [701] That, indem er als erste Bedingung von Philosophie aussprach, daß sie alle gegebene Erkenntnis, jede Voraussetzung von sich zu weisen habe (Cartesianischer Zweifel), um aus dem schlechthin Gewissen durch Denken die Welt der Wahrheit völlig neu sich aufzubauen und nichts gelten zu lassen, als was in diesem Wiederherstellungsprozeß die Probe gehalten habe. Von dem festen Punkte, den ihm das Selbstbewußtsein gewährt, ausgehend, ist er Vater der nachfolgenden Philosophien geworden und hat durch die Originalität und Selbständigkeit, durch die Klarheit und Einfachheit seines Gedankenganges und durch die Leichtigkeit und Natürlichkeit seiner Darstellung großen Einfluß geübt. Sein System erregte lebhaften Widerspruch bei Philosophen, insbesondere aber bei Theologen. Hobbes, Gassendi, Huet, Daniel Voetius, Schook, der Jesuit Valois u. a. traten als D.’ Gegner auf, verfolgten ihn zum Teil fanatisch, klagten ihn des Skeptizismus und Atheismus an und erwirkten sogar in manchen Ländern, wie in Italien 1643, in Holland durch die Dordrechter Synode 1656, Verbote gegen seine Philosophie als eine gefährliche. Dagegen fand D. Anhänger in Holland und Frankreich (besonders unter den Jansenisten von Port-Royal und den Mitgliedern der Congrégation de l’Oratoire). Vornehmlich suchten De la Forge, Clerselier, Rochault, Regis, Arnauld, Pascal, Malebranche, Geulings u. a. sein System zu verbessern und weiter zu entwickeln.

Um die physiologische und psychologische Anthropologie hat sich D. trotz mehrerer Irrtümer manche Verdienste erworben; doch größerer und dauernderer Ruhm gebührt ihm als Mathematiker, als welcher er sich auch selbst seinen philosophischen und theologischen Gegnern gegenüber stets in einer ehrfurchtgebietenden Superiorität behauptete. Er ward der Schöpfer der analytischen Geometrie, erkannte zuerst die wahre Bedeutung der negativen Wurzeln der Gleichungen, fand die Anzahl der positiven und der negativen Wurzeln in den Abwechselungen der Zeichen für die Glieder jeder Gleichung, gab eine neue und sinnreiche Auflösung der Gleichungen des vierten Grades, führte zuerst die Exponenten ein und legte dadurch den Grund zur Rechnung mit Potenzen, lehrte, wie man an jeden Punkt einer geometrischen Kurve, mit Ausnahme der mechanischen oder transcendenten, Tangenten und Normalen ziehen kann, und zeigte, was vielleicht sein Hauptverdienst ist, wie man die Natur und Eigenschaft jeder Kurve durch eine Gleichung zwischen zwei veränderlichen Koordinaten ausdrücken kann, wodurch er der Geometrie eine neue Bahn eröffnete, auf der die schönsten Entdeckungen gemacht worden sind. Seine „Géométrie“ (1637), welche Schooten mit einem trefflichen Kommentar begleitete (Leid. 1649), und seine „Dioptrique“ (1639), welche zuerst das von Snellius entdeckte Gesetz der Brechung der Lichtstrahlen, die aus einem Mittel in ein andres übergehen, darlegte und die großen Entdeckungen von Newton und Leibniz vorbereitete, sind ein bleibendes Denkmal des großen Verdienstes, welches er sich um die physikalischen Wissenschaften erworben hat. Die nach ihm benannten Cartesianischen Teufel sind, gegen jene Entdeckungen gehalten, in der That nur Spielereien zu nennen. In seinen kosmogonischen Versuchen wollte er, ähnlich wie Demokrit und dessen atomistische Nachfolger, die Bewegung der Himmelskörper durch Wirbel erklären, welche in Strömungen des das Weltall erfüllenden Äthers bestehen sollten, eine Theorie, die, so großes Aufsehen sie auch im 17. Jahrh. machte, jetzt unter die Kuriosa gezählt wird. D.’ Hauptschriften sind: „Discours de la méthode pour bien conduire la raison et chercher la vérité dans les sciences“ (zugleich mit seinen Abhandlungen über die Dioptrik, die Meteore und die Geometrie, Leid. 1637; lat. 1644); „Meditationes de prima philosophia etc.“ (Amsterd. 1641; hrsg. von Barach, Wien 1862); „Principia philosophiae“ (Amsterd. 1644); „Traité des passions“ (das. 1650; lat., das. 1656); „Traité de l’homme et de la formation du foetus“ (das. 1668, lat. 1677). In mehrfacher Hinsicht lehrreich ist auch die Sammlung seiner Briefe (Frankf. a. M. 1692). Eine Ausgabe seiner sämtlichen Werke in lateinischer Sprache erschien zuerst Amsterdam 1670 bis 1683 und daselbst 1692–1701; in französischer Sprache herausgegeben von V. Cousin (Par. 1824–1826, 11 Bde.) und von Aimé-Martin in 1 Band (1881). Von Foucher de Careil sind „Œuvres inédites de D.“ (Par. 1859–60) und „D., la princesse Élisabeth et la reine Christine, d’après des lettres inédites“ (1879) veröffentlicht worden. Seine nur beiläufig in seinen Schriften (besonders in dem nicht bloß von den Affekten und Leidenschaften, sondern von jeder Gattung Gefühle, Neigungen und Empfindungen handelnden Buch „De passionibus“) geäußerten Ideen über die praktische Philosophie haben mehrere seiner Schüler in besondern Werken gesammelt. Das vorzüglichste darunter ist: „Ethica cartesiana s. ars bene beateque vivendi ad clarissimas rationes et sanae mentis ideas ac solidissima Ren. Cartes. principia formata“ (Halle 1719, franz. 1692). Deutsche Übersetzungen von philosophischen Hauptschriften des D. haben K. Fischer (Mannh. 1863) und v. Kirchmann (Berl. 1870, 4 Tle.) veranstaltet. Sein Leben beschrieben Tepelius (Nürnb. 1674), Bayle (Amsterd. 1681) und Baillet (Par. 1691). Vgl. außer der anziehenden Schilderung Kuno Fischers in seiner „Geschichte der neuern Philosophie“, Bd. 1 (3. Aufl., Münch. 1878): Millet, D., sa vie, ses travaux, ses découvertes avant 1637 (das. 1867); Derselbe, D. etc. depuis 1637 (das. 1871); Bouillier, Histoire et critique du Cartésianisme (das. 1842); Derselbe, Histoire de la philosophie cartésienne (3. Aufl., das. 1868); Hock, Cartesius und seine Gegner (Wien 1835); Löwe, Das System des D. (das. 1867); Schmid aus Schwarzenberg, René D. und seine Reform der Philosophie (Nördling. 1859); Bertrand de Saint-Germain, D. considéré comme physiologiste et comme médecin (Par. 1869); Koch, Die Psychologie D.’ (Münch. 1881); Natorp, D.’ Erkenntnistheorie (Marb. 1882).