MKL1888:Deutschkatholiken

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Deutschkatholiken“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 798800
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Deutschkatholiken. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 798–800. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deutschkatholiken (Version vom 14.03.2023)

[798] Deutschkatholiken, die Mitglieder der Religionsgesellschaft, welche sich 1844 von der römisch-katholischen Kirche in Deutschland getrennt und neue Glaubensbekenntnisse aufgestellt hat. Die nähere Veranlassung zu dieser Trennung gab die damals vom Bischof Arnoldi angeordnete Ausstellung des heiligen Rockes in Trier, die selbst unter den aufgeklärten Katholiken großen Anstoß erregte, das Signal aber ein Sendschreiben des katholischen Priesters Ronge (s. d.) an den Bischof Arnoldi von Trier, worin jene Ausstellung ein den Aberglauben und Fanatismus beförderndes Götzenfest genannt ward. Schon vorher war in Schneidemühl in der preußischen Provinz Posen eine förmliche Lossagung von der römisch-katholischen Kirche erfolgt, indem der dortige Kaplan Czerski (s. d.) mit einem Teil seiner Gemeinde aus jener ausgetreten war, was dann 19. Okt. zur Gründung einer christlich-apostolisch-katholischen Gemeinde führte. In ihrem bald darauf veröffentlichten Glaubensbekenntnis wurden zwar die spezifisch römischen Lehren als unbiblisch verworfen, dagegen die Heilige Schrift für „die einzig sichere Quelle des christlichen Glaubens“ erklärt und nicht bloß die nicäische Dogmatik, sondern auch die römisch-katholische Lehre von den sieben Sakramenten, insonderheit auch die vom Meßopfer, von der Transsubstantiation und vom Gebet für das Seelenheil der Verstorbenen beibehalten. Mehr noch als Czerski war Ronge der Held des Tags; von vielen Orten her huldigte man ihm mit Dankadressen und Ehrengeschenken; seine Reisen gestalteten sich zu Triumphzügen, und als ihn das Breslauer Domkapitel mit dem Kirchenbann belegte, ward damit der Bewegung nur Vorschub geleistet. In Schlesien, wo die Übergriffe der Hierarchie schon längst Opposition erregt hatten, brach sich der Abfall vom römischen Katholizismus zuerst in weitern Kreisen Bahn. Eine Versammlung von etwa 60 Katholiken zu Breslau 15. Dez. hatte den Erfolg, daß dieselben, geführt von Regenbrecht, Professor des kanonischen Rechts, unter Hinweisung auf die Erfolglosigkeit aller bisherigen Reformbestrebungen innerhalb der Kirche aus der letztern ausschieden. So entstand 4. Febr. 1845 eine Gemeinde, welche sich 9. Febr. d. J. über gewisse „Grundzüge der Glaubenslehre, des Gottesdienstes und der Verfassung“ vereinigte und den Namen einer deutschkatholischen Gemeinde annahm. Ihr Glaubensbekenntnis unterschied sich von dem Schneidemühler durch eine radikalere Färbung. Es forderte als wesentlich nur den Glauben „an Gott den Vater, der durch sein allmächtiges Wort die Welt geschaffen und sie in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe regiert, an Jesum Christum, unsern Heiland, der uns durch seine Lehre, sein Leben und seinen Tod von der Knechtschaft der Sünde erlöst, und an das Walten des Heiligen Geistes auf Erden, eine heilige, allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben“. Es nahm nur zwei Sakramente an, Taufe und Abendmahl, das letztere als Erinnerungsmahl in beiden Gestalten zu empfangen. Christus ward als der alleinige Mittler zwischen Gott und den Menschen hingestellt, daher Anrufung der Heiligen, Verehrung der Bilder und Reliquien, Ablaß und Wallfahrt verworfen. Die Breslauer Gemeinde zählte schon zu Anfang des März 1200 Mitglieder und wählte Ronge zu ihrem Seelsorger. Gleichzeitig fand die Bewegung noch in andern bedeutenden Städten Deutschlands Anklang, so in Berlin, wo ein Glaubensbekenntnis aufgestellt wurde (3. März), welches mit dem Schneidemühler stimmte, in Leipzig (12. Febr.), Dresden (15. Febr.) und Annaberg (20. Febr.), wo man im Gegenteil auf die Seite der rationalistischen Fraktion der neuen Kirchenbildung trat. Im Westen Deutschlands war Elberfeld die erste Stadt, wo eine der Reform huldigende Gemeinde ins Leben trat, und zwar geschah letzteres unter dem Namen einer christlich-katholisch-apostolischen (15. Febr.). Weitere Gemeinden bildeten sich in Offenbach, Worms und Wiesbaden. Aber nur zu Hildesheim und Marienburg in Westpreußen stimmte man noch Czerski bei, und an Berlin schlossen sich noch Potsdam, Nauen und Friesack an. Das Breslauer Bekenntnis dagegen nahm man an in Chemnitz, Braunschweig, Glogau, Liegnitz, Freistadt, Oppeln, Schlawentzitz, Görlitz, Magdeburg, Dahlen und Oschatz, ferner im Anschluß an Breslau zu Landeshut, im Anschluß an Magdeburg zu Genthin, Salzwedel und Nauenburg, im Anschluß an Chemnitz zu Penig und Zschopau. Zwischen Breslau und Schneidemühl vermittelnd, bildete sich im Kreis Hamm in Westfalen eine christlich-apostolisch-katholische Gemeinde.

So weit hatte sich die Bewegung verbreitet, als die erste Kirchenversammlung der D. zu Leipzig gehalten wurde, wo im allgemeinen der Typus Ronges durchdrang. In fünf Sitzungen (23.–26. März) vereinigte man sich über folgende „allgemeine Grundsätze und Bestimmungen der deutschkatholischen Kirche“: Die Grundlage des christlichen Glaubens soll einzig und allein die der Auslegung der Vernunft anheimgegebene Heilige Schrift sein. Als allgemeiner Inhalt der deutschkatholischen Glaubenslehren wird aufgestellt der Glaube an Gott den Vater [799] als Schöpfer und Regenten der Welt; der Glaube an Jesum Christum als den Heiland; der Glaube an den Heiligen Geist, eine heilige allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben. Verworfen werden der Primat des Papstes und die Hierarchie; ferner die Ohrenbeichte, das Cölibat, die Anrufung der Heiligen, die Verehrung von Reliquien und Bildern, der Ablaß, gebotenes Fasten, Wallfahrten etc. Anerkannt als Sakramente werden nur Taufe und Abendmahl. Erste Pflicht des Christen ist, den Glauben durch Werke christlicher Liebe zu bethätigen. Der Gottesdienst besteht wesentlich aus Belehrung und Erbauung; seine äußere Form soll sich nach dem Bedürfnis der Zeit und des Ortes richten. Der Gebrauch der lateinischen Sprache wird abgeschafft. Die Gemeindeverfassung steht auf demokratischer Basis; die Gemeinde gebraucht ihr altes Recht, sich ihre Geistlichen und ihren Vorstand frei zu wählen. Den Geistlichen steht die Verwaltung der geistlichen Verrichtungen, den Ältesten mit dem aus ihrer Mitte auf ein Jahr von ihnen selbst gewählten Vorstand die Verwaltung aller übrigen Gemeindeangelegenheiten zu. Die Beschlüsse der allgemeinen Kirchenversammlungen erlangen nur dann allgemeine Gültigkeit, wenn sie von der Mehrzahl sämtlicher einzelner Gemeinden angenommen worden sind. Nach diesen Leipziger Beschlüssen bildeten sich jetzt in allen Provinzen Preußens deutschkatholische Gemeinden, die zahlreichsten in Schlesien. Um die Mitte Juni berechnete man hier die Zahl der D. schon auf 40–50,000. Auch im Königreich Sachsen entstanden außer den oben genannten noch in Plauen, Bautzen, Strehla und Glauchau Gemeinden, und Ähnliches geschah in den meisten andern Bundesstaaten. Selbst in Bayern wurde ein Versuch dazu in Neustadt a. d. Haardt gemacht, aber von seiten der Regierung unterdrückt. Zu gleich strengen Maßregeln griff die österreichische Regierung, um die ihr mißfällige Bewegung von ihren Grenzen entfernt zu halten; hier und später auch in Bayern wurde der Name D. amtlich verboten und mit dem von Dissidenten vertauscht. Auch das Verhältnis, in welches sich die Staatsgewalten in den übrigen Gebieten zu der deutschkatholischen Bewegung stellten, war meist ein ungünstiges. Im Königreich Sachsen erging unterm 26. März eine Verordnung, wonach die D. hinsichtlich der bei ihnen vorkommenden seelsorgerlichen Handlungen mit Ausschluß der Beichte und des Abendmahls bis auf weiteres an den betreffenden protestantischen Orts- oder Bezirksgeistlichen gewiesen wurden. Nach einem königlichen Reskript in Preußen vom 17. Mai 1845 ward ihnen der Mitgebrauch evangelischer Kirchen verweigert, wie ihre Prediger auch nicht für Geistliche geachtet werden und deren Amtshandlungen keine bürgerliche Gültigkeit besitzen sollten. Aber gerade um der entschiedenen Abneigung willen, welche die Regierungsgewalten der deutschkatholischen Bewegung gegenüber bewiesen, fand diese immer weitere Verbreitung. Ende August 1845 bestanden im ganzen 173 Gemeinden; davon kamen auf Preußen allein 118, von den übrigen auf Sachsen 22, Mecklenburg 7, Braunschweig 1, beide Hessen 15, Nassau 2, Baden 3, Württemberg 2, Frankfurt a. M. 1, Bremen 1, Lübeck 1.

Weit mehr Eintrag als hemmende Regierungsmaßregeln und die Angriffe, welche von der römischen Partei auf die sich bildende Kirche gemacht wurden, that dieser die in ihrem eignen Schoß immer mehr hervortretende Differenz. Abgesehen davon, daß die Gemeinden, welche die Richtung Czerskis teilten, 22.–24. Juli 1846 zu Schneidemühl ein biblisches Glaubensbekenntnis aufstellten, entspannen sich im Schoß einzelner Gemeinden Feindschaften, namentlich in Breslau, wo sich Ronge mit Theiner, welcher gleich anfangs den radikalen Glaubensansichten und lärmenden Triumphreisen des Agitators abgeneigt gewesen war, verfeindete. So geriet der rasche Aufschwung, den die neue Kirche genommen hatte, schon 1847 ins Stocken, und auf dem zweiten Hauptkonzil, welches 70 Abgeordnete von 142 selbständigen Gemeinden 25. Mai 1847 in Berlin abhielten, kam es zur Absonderung der Strenggläubigen von der neuen Kirche.

Die politische Bewegung von 1848 schien für den Deutschkatholizismus eine neue Blütezeit herbeizuführen: die deutschen Grundrechte verkündeten unbeschränkte Religions- und Glaubensfreiheit, Österreich und Bayern öffneten jetzt ihre Grenzen der neuen Bewegung. An andern Orten nahm Ronge seine Thätigkeit wieder auf, aber sein jetzt ganz offen hervortretendes politisches Treiben erregte immer entschiedenern Anstoß; von Leipzig und Darmstadt aus erfolgten förmliche Lossagungen von seiner Person, und die christkatholische Gemeinde in Posen veröffentlichte 1849 einen Protest gegen Dowiat, welcher die neue Kirchengemeinschaft zu einem politischen Klub herabwürdigte und in demselben die Realisierung der sogen. sozialdemokratischen Republik anstrebte. Gleichwohl wendete sich die Reaktion auch gegen die neuen Gemeinden. In Österreich wurden sie schon 1849 wieder verboten, in Bayern ihnen 1850 nur eine beschränkte Duldung gewährt. Auch wo von seiten der Staatsregierungen nicht hemmend eingegriffen wurde, lösten sich an manchen Orten die Gemeinden auf; an andern erfolgten Rücktritte zur katholischen Kirche, an noch andern, z. B. in Dresden, traten die angesehensten Mitglieder der neuen Kirche zur protestantischen über. In Breslau trat mit dem Professor Regenbrecht eine gewichtige Autorität ab. Ronge wandte sich nach Frankreich und England. Die meisten der fortbestehenden deutschkatholischen Gemeinden gaben ihre Sympathien mit den seit 1848 zahlreicher gewordenen „freien Gemeinden“ immer unverhohlener kund, und auf einer Versammlung zu Darmstadt 20. Febr. 1850, an der 20–30 Abgeordnete aus dem südwestlichen Deutschland teilnahmen, wurde der Wunsch nach voller Vereinigung ausgesprochen. Dieselbe wirklich durchzuführen, war die Aufgabe des zweiten Leipziger Konzils; welches 22. Mai 1850 zusammentrat, seine Sitzungen aber wegen polizeilicher Maßnahmen nach Köthen verlegen mußte. Hier wurde nach längern Debatten ein Bund verabredet, welcher den Namen „Religionsgesellschaft freier Gemeinden“ führen sollte. In der neuern Zeit hat sich die öffentliche Meinung in Bezug auf den Deutschkatholizismus immer entschiedener dahin ausgesprochen, daß er die Hoffnungen, die sich an sein Entstehen knüpften (vgl. Gervinus, Die Mission der D., Heidelb. 1846), nicht erfüllt hat. Dagegen hat der sogen. Altkatholizismus (s. d.) seit 1870 Gelegenheit gehabt, von den Fehlern, welche die D. insbesondere durch Hereinziehung der gesamten dogmatischen Debatte begingen, zu lernen. Über dieser neuern, reifern Bewegung ist die frühere zurückgetreten. Die meisten deutschkatholischen Gemeinden haben sich wieder aufgelöst, die zu Schneidemühl 1857. In Preußen betrug die Anzahl der D. 1861: 6395, 1867: 10,920; im Königreich Sachsen 1849: 1772, 1871: 3015. Vgl. Edwin Bauer, Geschichte der Gründung und Fortbildung der deutschkatholischen Kirche (Meißen 1845); Kampe, Das Wesen des [800] Deutschkatholizismus (Tübing. 1850); Derselbe, Geschichte des Deutschkatholizismus (Leipz. 1860).