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MKL1888:Diderot

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Diderot“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 945947
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Diderot. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 945–947. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Diderot (Version vom 20.05.2024)

[945] Diderot (spr. did’ro), Denis, die Seele der französischen Encyklopädisten und einer der einflußreichsten Schriftsteller der revolutionären Aufklärungsperiode des 18. Jahrh., wurde 5. Okt. 1713 zu Langres in der Champagne als Sohn eines Messerschmieds geboren. Von den Jesuiten erzogen, soll er in seiner Jugend Neigung zum geistlichen Stand gefaßt haben; auf den Wunsch seines Vaters widmete er sich aber den Rechtsstudien. In Paris lernte er Philosophie, Mathematik und Physik, die schönen Wissenschaften und die tonangebenden Schöngeister der Zeit kennen, verlor, weil er seine Berufsstudien vernachlässigte, die Unterstützung seitens seines Vaters und wurde Schriftsteller. Unter den Schriftstellern seiner Nation hatte der Skeptiker Bayle den größten Einfluß auf ihn ausgeübt; in den Schriften der englischen Sensualisten und Freidenker begegnete ihm ein verwandtes Element. Er begann mit Übersetzungen: 1743 erschien die Übersetzung der Geschichte Griechenlands von Stanyan und 1745 sein „Essai sur le mérite et la vertu“ (frei nach dem gleichnamigen Werk von Shaftesbury). Seine Neigung zur Opposition verriet sich hier in dem Umstand, daß er dem Verkünder der natürlichen Vernunftreligion gegenüber auf die Seite der Offenbarung trat und deren Möglichkeit verteidigte. Der in Frankreich herrschenden Gläubigkeit gegenüber kehrte er schon in den „Pensées philosophiques“ (Haag 1746) und noch mehr in der 1747 geschriebenen, aber vor dem Druck mit Beschlag belegten „Promenade d’un sceptique“ die entgegengesetzte Seite heraus. Erstere Schrift, in welcher das Parlament einen Angriff auf das Christentum erblickte, wurde auf dessen Befehl vom Scharfrichter verbrannt und erregte ebendarum außerordentliches Aufsehen. Letztere ist erst lange nach Diderots Tod in dem vierten Band seiner „Mémoires, correspondance et ouvrages inédits“ (Par. 1830) veröffentlicht worden. Der Zweifel, den er darin dem Theismus vom deistischen Standpunkt aus entgegensetzt, macht schon in den rasch darauf gefolgten Schriften: „Introduction aux grands principes, ou réception d’un philosophe“, „Lettre sur les aveugles, à l’usage de ceux qui voient“ (Lond. 1749) und „Lettre sur les sourds et muets“ (1751) dem Zweifel am Deismus selber Platz, der indes in dem von 1751 ab publizierten Hauptwerk Diderots, der „Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, etc.“ (Par. 1751–65, 17 Bde. und 2 Bde. Kupferstiche; Nachdruck z. B. Genf 1781, 37 Bde.), äußerlich noch festgehalten wird. Die meisterhafte Einleitung, welche nach Bacons Vorbild eine systematische [946] Übersicht aller Wissenschaften enthält, hat d’Alembert verfaßt; dagegen rühren nicht bloß sämtliche auf Technik und Gewerbe bezügliche, sondern auch einige philosophische, ja selbst viele physikalische und chemische Artikel von D. her, dessen schlagfertige Polyhistorie ihm erlaubte, überall einzuspringen, wo das Werk von einem der zahlreichen Mitarbeiter, zu denen außer dem zweiten Vater desselben, d’Alembert, die klangvollsten Namen und geistreichsten Köpfe Frankreichs zählten, im Stiche gelassen wurde. Seine Grundansicht über die Weltordnung legte er in der Schrift „Interprétation de la nature“ (1754) nieder, in welcher er nach Bekämpfung der teleologischen Ansichten zu einem System, einer Art Atomenlehre, gelangt, welches voll von Widersprüchen und Inkonsequenzen ist. Am klarsten und offensten entwickelt er seine Ansichten in den bereits 1769 verfaßten, aber erst 1831 im vierten Bande der „Mémoires“ erschienenen, philosophisch am gründlichsten durchgebildeten Schriften: „Entretien entre d’Alembert et D.“ und „Le rève de d’Alembert“. Seine Theorien über das Theater, welches er dem abstrakten klassischen Regelzwang und der Unnatur entreißen und zur Wirklichkeit und Natürlichkeit zurückführen wollte, bethätigte er praktisch in seinen beiden Dramen: „Le fils naturel“ (1757) und „Le père de famille“ (1758). Diese beiden Stücke (übersetzt von Lessing, 1760), die weniger freie Dichtungen als Musterbeispiele sein sollten und die wegen ihrer Rührseligkeit und pedantischen Moral vollständig durchfielen, inaugurierten das sogen. bürgerliche Drama; sie fanden übrigens in Deutschland mehr Nachahmung als in Frankreich. Von der Vielseitigkeit Diderots legen ein vortreffliches Zeugnis ab die „Salons“, Berichte über die Ausstellungen der Pariser Akademie von 1765 bis 1767, in denen er in liebenswürdiger, geistreicher Plauderei die Naturwahrheit als Hauptforderung aufstellt; auch für diese Art der Kunstkritik kann D. als Begründer gelten. Die Mehrzahl seiner Erzählungen und Romane ist außer den „Bijoux indiscrets“ (1748), einem unsaubern und faden Produkt, erst nach seinem Tod gedruckt worden. Von diesen ist am schwächsten „Jacques le fataliste“, besser trotz des zum Teil empörenden Naturalismus der Roman „La Religieuse“, am berühmtesten aber „Le neveu de Rameau“, der zuerst in Deutschland durch Goethes Übersetzung (1805) bekannt wurde, dann zurückübersetzt und erst 1821 nach dem Original gedruckt wurde, ein köstliches Spiegelbild der Genußsucht und Blasiertheit der Zeit mit bewunderungswürdiger Kunst der Zeichnung und Darstellung. Wahre Perlen liebenswürdigen Humors und geistreichen Erzählungstalents sind die kleinen Genrebilder, die er mit dem Namen „Petits papiers“ bezeichnete; sie legen Zeugnis ab von dem vortrefflichen Charakter Diderots, seiner natürlichen Herzensgüte, seinem Freimut und seiner Liebenswürdigkeit. Diese Eigenschaften halfen ihm die vielen Widerwärtigkeiten und erbitterten Kämpfe ertragen, die er sein ganzes Leben hindurch zu bestehen hatte. Schon 1743 hatte er gegen den Willen seines Vaters aus Liebe ein armes Mädchen geheiratet, das aber durch Beschränktheit und Bigotterie sich den Gatten bald entfremdete, besonders als nach Geburt mehrerer Kinder die drückendsten Nahrungssorgen auf ihm lasteten. D. fiel bald darauf in die Netze einer berüchtigten, herzlosen Kokette, Madame de Puisieux, die ihn zehn Jahre lang aufs schmählichste betrogen und ausgesogen hat. Dann schloß er eine enge Verbindung mit der geist- und gemütvollen Sophie Volland, welche bis an deren Lebensende dauerte. Die zahlreichen Briefe, welche D. seiner Freundin schrieb, sind für die Kenntnis der innern Beziehungen jener geistig bewegten Zeit sowie für das Verständnis der ganzen Persönlichkeit Diderots von der größten Wichtigkeit. Der pekuniäre Gewinn aus seinen Schriften, selbst aus der „Encyclopédie“, war nur ein geringer, und er dachte schon daran, seine Bibliothek zu verkaufen, um seine Tochter aussteuern zu können, als seine enthusiastische Bewunderin, die Kaiserin Katharina I. von Rußland, ihn auf edle, schonende Art seinen Verlegenheiten entriß: sie kaufte ihm seine Bibliothek für 15,000 Livres ab mit der Bedingung, dieselbe, solange er lebe, zu behalten und für 1000 Livres jährlichen Gehalt zu verwalten, und ließ ihm den Gehalt auf 50 Jahre vorausbezahlen; dann lud sie ihn nach Petersburg ein und lebte mit ihm einen Winter hindurch in vertraulichem Umgang, bis seine durch das rauhe Klima noch mehr geschwächte Gesundheit die Rückkehr in die Heimat verlangte. Eine Einladung Friedrichs d. Gr., über Berlin zu reisen, schlug er aus und reiste über Holland; seine Eindrücke über Land und Leute legte er in der Schrift „Voyage de Hollande“ nieder. Nach Paris zurückgekehrt und bis an sein Lebensende unermüdlich thätig, starb er, wie er gelebt hatte, als Philosoph 30. Juli 1784 und wurde in der Kirche St.-Roch begraben. D. war, nach Goethes Urteil, ein Schriftsteller, der mehr die Absicht hatte, die Freunde des Alten zu beunruhigen und eine Revolution zu veranlassen, als ein neues Gebäude zu errichten. Nach allen Richtungen anregend, ist er nach keiner erschöpfend; er selbst hat von sich gesagt, daß er nur „Seiten“ schreiben könne. Ohne in Journale zu schreiben, war er der erste Journalist seiner Zeit, ein Virtuose des Wortes in Rede und Schrift, der die Lebendigkeit des Gesprächs, in welchem er Meister war, in seine Schriftstellerei übertrug und daher die Form des Briefs oder des Dialogs jeder andern vorzog. Fast alle seine Schriften sind Gelegenheitsschriften, entweder an bestimmte Personen gerichtet, oder durch solche veranlaßt, selbst seine philosophischen. Sein Stil gewinnt dadurch einen Zauber, den Goethe „hinreißend“ nennt; auch seine tiefsinnigsten metaphysischen Abhandlungen, wie sein „Gespräch mit d’Alembert“ und des letztern „Traum“, hat er durch Klarheit und Schwung zu rhetorischen Kunstwerken geformt. Als Philosoph hat er eine Reihe von Metamorphosen durchgemacht, die ihn vom Theismus zum Deismus, von diesem zum Atheismus und Materialismus führten. Wenigstens legt er in jenen Schriften, welche den reifsten Ausdruck seiner metaphysischen Überzeugungen darbieten, aller Materie Empfindung bei und verklärt sie dadurch selbst zu geistiger Natur. An die Stelle der Monaden des Leibniz setzt er Atome, in welchen, wie in jenen schlummernde Vorstellungen, so gebundene Empfindungen liegen. Dieselben werden bewußt im animalischen Organismus; aus den Empfindungen aber erwächst das Denken. Sein Atheismus beschränkt sich auf die Bemerkung gegen die Annahme eines persönlichen Gottes: dieselbe bedenke nicht, daß das große musikalische Instrument, welches wir Welt nennen, sich selbst spiele. Dagegen erkennt er in dem Naturgesetz und in der Wahrheit, Schönheit und Güte die Gottheit. – Seine Werke sind so zahlreich und so weit zerstreut worden, daß auch jetzt noch keine vollständige Ausgabe vorliegt; die beste und vollständigste ist von Assézat und Tourneux herausgegeben (1875 bis 1877, 20 Bde.). Seine philosophischen Schriften erschienen zuerst Amsterdam 1772, 6 Bde., in lückenhafter [947] Gestalt und mit Fremdem vermischt. Seine litterarische Korrespondenz mit Grimm erschien 1829–31, 16 Bde., und 1878, 10 Bde.; seine Korrespondenz mit Sophie Volland ist enthalten in den „Mémoires, correspondance et ouvrages inédits“ (1841, 2 Bde.). Seine einzige Tochter, Madame de Vandeul, hat „Mémoires pour servir à l’histoire de la vie et des ouvrages de D.“ (1830) herausgegeben (abgedruckt an der Spitze der „Ouvrages inédits“). Vgl. Fr. Raumer, D. und seine Werke (Berl. 1843); Rosenkranz, Diderots Leben und Werke (Leipz. 1866, 2 Bde.); Sainte-Beuve, Portraits littéraires, Bd. 1 (neue Ausg., Par. 1869); Hettner, Geschichte der französischen Litteratur im 18. Jahrhundert (4. Aufl., Braunschw. 1881); Avezac-Lavigne, D. et la société du baron Holbach (Par. 1875); J. Morley, D. and the Encyclopaedists (Lond. 1878, 2 Bde.); E. Scherer, D., étude (Par. 1880).