MKL1888:Dimension, vierte

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Dimension, vierte“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 980981
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Dimension, vierte. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 980–981. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Dimension,_vierte (Version vom 12.01.2023)

[980] Dimension, vierte. Nimmt man als Element im Raum nicht den Punkt, wie es gewöhnlich geschieht, um die drei Dimensionen des Raums, Länge, Breite und Höhe, zu demonstrieren, sondern, was den Mathematikern längst geläufig ist, eine beliebige Linie oder Fläche an, so gelangt man zu wesentlich andern Ergebnissen. Benutzt man z. B. die gerade Linie als Element, so erscheint der Punkt als zusammengesetztes Gebilde, als Schnittpunkt zweier Geraden. Die sämtlichen Geraden einer Ebene, die durch einen Punkt gehen, bilden dann eine einfach-unendliche Mannigfaltigkeit. Nun erhält man aber jedenfalls alle geraden Linien einer Ebene, wenn man von jedem der Punkte einer geraden Linie (in der Ebene) aus alle in der Ebene möglichen Geraden zieht. Da die Punkte einer Geraden eine einfach-unendliche Mannigfaltigkeit bilden, so erscheint die Ebene, als Gesamtheit der in ihr liegenden Geraden betrachtet, zweifach-unendlich mannigfaltig. Um ferner alle Geraden im Raum zu erhalten, genügt es, zwei Ebenen anzunehmen und von jedem Punkte der einen eine gerade Linie nach jedem Punkte der andern zu ziehen. Da nun die Punkte einer Ebene eine zweifach-unendliche Mannigfaltigkeit bilden, so bilden die sämtlichen von einem Punkte der einen Ebene ausgehenden Geraden eine ebensolche Mannigfaltigkeit, und die sämtlichen Geraden im Raum bilden eine (2 + 2 oder) vierfach-unendliche Mannigfaltigkeit. Der Raum, als von geraden Linien erfüllt gedacht, hat demnach vier Dimensionen. Ebenso erscheint der Raum als sechsfach-unendliche Mannigfaltigkeit, wenn man die Kreislinie als räumliches Elementargebilde betrachtet. Da man nämlich in einer Ebene um jeden Punkt unendlich viele Kreise schlagen kann, und da die Punkte der Ebene eine zweifache Mannigfaltigkeit bilden, so erscheint die Ebene als dreifach-unendliche Mannigfaltigkeit. Denken wir uns nun alle Ebenen im Raum, die wieder eine dreifache Mannigfaltigkeit bilden, und in jeder alle Kreise, so erhält man alle im Raum denkbaren Kreise, die hiernach eine (3 + 3 oder) sechsfach-unendliche Mannigfaltigkeit bilden. Aus diesen Beispielen, die man natürlich noch vermehren könnte, ersieht man, daß es nur von der Wahl des Elementargebildes abhängt, ob man die Ebene als eine Mannigfaltigkeit von zwei oder mehr Dimensionen, den Raum als eine solche von drei oder mehr Dimensionen auffassen will. Jede solche Auffassung ist eine zufällige Ansicht, die unsre Vorstellung über das Wesen des Raums nicht ändert. Nun haben aber einzelne die Ansicht geäußert, daß der Raum, im ersten Sinn aufgefaßt, mehr als drei Dimensionen besitze, daß also zur Länge, Breite und Höhe in dem uns allen geläufigen Sinn vielleicht noch eine v. D. hinzukomme, die wir allerdings wegen der Beschränktheit unsers menschlichen Geistes nicht zu erkennen oder uns vorzustellen vermögen. Diese Vorstellung findet sich schon in dem „Enchiridium metaphysicum“ von Henry More (1671), der den Geistern vier Dimensionen zuschreibt, sodann bei dem protestantischen Pfarrer Fricker (1729–61), bei Kant, Gauß und neuerdings bei den Physikern Mach und Zöllner. Gauß betrachtete die drei Dimensionen des Raums als eine spezifische Eigentümlichkeit der menschlichen Seele. Wir könnten uns, sagte er, etwa in Wesen hineindenken, die sich nur zweier Dimensionen bewußt sind; höher über uns Stehende würden vielleicht in ähnlicher Weise auf uns herabblicken. Einem solchen

Fig. 1.

Wesen, das sich nur zweier Dimensionen bewußt ist, würde manches unmöglich scheinen, was uns, die wir uns dreier Dimensionen bewußt sind, nicht die mindeste Schwierigkeit macht. In beistehender Fig. 1 sind z. B. die gleichnamigen Seiten und Winkel der drei Dreiecke I, II und III gleich groß. Die Dreiecke [981] I und II kann man auch leicht zur Deckung bringen, wenn man das eine in der Ebene verschiebt. Bei I und III ist aber durch bloße Verschiebung in der Ebene keine Deckung möglich; ein Wesen, das sich nur zwei Dimensionen vorzustellen vermag, würde es also für unmöglich halten, die beiden Dreiecke überhaupt zur Deckung zu bringen. Nun wissen wir aber, daß dies wohl möglich ist, wenn wir nur das eine Dreieck, etwa III, aus der Ebene herausdrehen, indem wir beispielsweise die Seite AB ruhig liegen lassen, die Spitze C aber in die Höhe heben und einen Halbkreis beschreiben lassen, worauf das Dreieck wieder in die Ebene fällt und nun bloß noch gehörig verschoben werden muß. In derselben Verlegenheit wie unsre hypothetischen zweidimensionalen Wesen gegenüber den beiden symmetrischen Dreiecken I und III befinden

Fig. 2.

wir selbst uns angesichts symmetrischer räumlicher Objekte, z. B. der beiden unregelmäßigen symmetrischen Tetraeder der Fig. 2: obwohl dieselben in allen Stücken übereinstimmen, können wir sie doch nicht zur Deckung bringen, sowenig wie wir den linken Handschuh an die rechte Hand anziehen können. Könnten wir die Gegenstände aus dem Raum von drei Dimensionen in den von vier Dimensionen bringen, so würde dies nach dem Zurückbringen in den dreidimensionalen Raum wohl möglich sein. Auch könnte es als Beweis für die reale Existenz der vierten Dimension des Raums gelten, wenn irgend eine Operation, die nur im vierdimensionalen Raum ausführbar ist, wirklich ausgeführt würde. In neuerer Zeit sind diese Dinge im Zusammenhang mit dem Spiritismus vielfach besprochen worden. Zöllner hielt den Beweis für die reale Existenz der vierten Dimension durch den Amerikaner Slade für erbracht, während andre die Leistungen Slades in das Gebiet der Taschenspielerei verwiesen. Vgl. Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1–3 (Leipz. 1878–79); Wundt, Der Spiritismus, eine sogen. wissenschaftliche Frage (das. 1879).