MKL1888:Epistŏlae obscurōrum virōrum
[706] Epistŏlae obscurōrum virōrum (Briefe der Dunkelmänner), Titel einer Sammlung satirischer Briefe aus dem Anfang des 16. Jahrh., die, in sogen. Küchenlatein abgefaßt, das Wesen und Treiben des damaligen Pfaffentums geißeln, eins der merkwürdigsten Erzeugnisse deutschen Witzes. Die nächste Veranlassung zum Erscheinen der E. gab der Streit Reuchlins mit den Kölnern. Ein 1506 getaufter Kölner Jude, Johann Pfefferkorn, der sich des Schutzes der Kölner Dominikaner erfreute, suchte, von seinen frühern Glaubensgenossen angefeindet, aus Rache beim Kaiser Maximilian ein Mandat zur Verbrennung aller jüdischen Bücher, die Bibel ausgenommen, auszuwirken. Reuchlin, mit andern vom Kaiser um sein Gutachten über diesen Vorschlag befragt, sprach sich entschieden gegen denselben aus. Pfefferkorn veröffentlichte darauf 1511 eine Schmähschrift gegen Reuchlin: „Der Handspiegel“, und dieser antwortete in dem „Augenspiegel“. Da aber die Kölner Theologen und Dominikaner, der Ketzermeister Jakob Hoogstraten an der Spitze, sich zu gunsten Pfefferkorns in den Streit mischten, so gruppierten sich um Reuchlin die zahlreichen Freunde der anbrechenden Aufklärung. Reuchlin appellierte an den Papst, und dieser erteilte darauf dem Bischof von Speier den Auftrag, die Sache zu untersuchen. Obwohl letzterer für Reuchlin entschied, kam doch auf Veranlassung Hoogstratens die Sache 1514 nochmals vor den päpstlichen Hof und war hier mehrere Jahre anhängig. In dieser Zeit erschienen nun die E. Der Titel und wohl der ganze Gedanke der Schrift ist als Gegenstück zu den (nicht fingierten) „Epistolae clarorum virorum“ an Reuchlin entstanden, die 1514 von ihm veröffentlicht worden waren, um in dem Streit mit den Kölnern ein Gewicht in seine Wagschale zu werfen; ihnen wurde in den E. ein erdichteter Briefwechsel aus dem Kreise seiner Widersacher entgegengestellt. Die Haupttendenz derselben war, der bereits in der öffentlichen Meinung sehr gesunkenen Sache des Mönchtums eine Hauptniederlage beizubringen, den gesamten Obskurantismus in seiner Ohnmacht hinzustellen und der freien Wissenschaft das ihr gebührende Stimmrecht bei den Fragen des Zeitalters zu sichern. Es ist darin die derb-satirische volksmäßige Richtung der Opposition in ihrer Vereinigung mit der humanistischen zu ihrer Vollendung durchgedrungen. Die Briefe der Dunkelmänner sind schlagend, treffend, vernichtend und, obwohl mit den gröbsten Waffen fechtend, doch in ihrer Art durchaus vollendet. Die Briefe sind nämlich angeblich von Anhängern des alten Systems an einen gewissen Ortuinus Gratius, Professor der scholastischen Theologie in Köln, den lateinischen Handlanger und poetischen Schildhalter der dortigen Obskuranten, gerichtet, und jene sprechen sich hier ganz offen in ihrer krassen Unwissenheit aus; zugleich aber berichten sie von den Ansichten der Reuchlinisten und müssen so selbst der Wissenschaft das Wort reden. In Bezug auf die Ausdrucksweise mag im einzelnen die schlechte Latinität der alten Theologen und Scholastiker etwas übertrieben sein, aber im allgemeinen ist sie durchaus charakteristisch, an vielen Stellen sogar unübertrefflich. Ganz adäquat der Form ist der Inhalt der Sendschreiben. Die Briefsteller unterhalten sich am liebsten über Speisen und Getränke, vorzüglich aber über die Freuden der Liebe. Nicht minder als die Üppigkeit werden der Dünkel und die Titelsucht der geistlichen Herren mitgenommen. Natürlich ist aber der Kampf zwischen Reuchlin und den Humanisten auf der einen und den Scholastikern und Pfaffen auf der andern Seite der Hauptgegenstand der Korrespondenz. Diese erregte gleich bei ihrem Erscheinen das größte Aufsehen, obgleich anfänglich auch die Pfaffenpartei, die Satire nicht verstehend, sich die Briefe zu ihren gunsten auslegte. Männer von anerkannter Mäßigung, wie Erasmus und Thomas Morus, äußerten ihr Entzücken darüber; Luther dagegen, dem, damals wenigstens, der Humor zur richtigen Auffassung eines solchen Werkes fehlte, fand die Briefe frech und nannte den Verfasser einen Hanswurst. Umsonst erwirkte die angegriffene Partei mit schweren Summen die Verdammung der Urheber und Leser des Buches durch ein päpstliches Breve; es trug nur noch mehr zur Verbreitung wie zur Nachahmung desselben bei, wenn auch keine von allen dadurch hervorgerufenen Satiren an Frische und Kraft das Original erreichte. Die allgemeine Meinung hielt anfangs Reuchlin für den Urheber, später erklärte sie sich für drei Verfasser: Reuchlin, Erasmus und Hutten. Nachdem die beiden erstern die Ehre abgelehnt, blieb Hutten als Haupturheber stehen; doch gesellte man ihm nach und nach noch einige seiner geistesverwandten Freunde bei. Nach einer Untersuchung Kampschultes („De Croto [707] Rubiano“, Bonn 1862; vgl. auch Strauß in seinem „Ulrich von Hutten“, 4. Aufl., Leipz. 1878) war Crotus Rubianus wohl der bedeutendste Mitarbeiter, wenn nicht der Urheber; doch dürften namentlich die ernstern Stücke des zweiten Teils, insbesondere das „Schlauraffsche Reisegedicht“, ein Prachtstück der ganzen Sammlung, auf Hutten zurückzuführen sein. Die E. erschienen in zwei Teilen an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Titeln und bestehen, wie sie jetzt vorliegen, 1) aus den 41 Briefen der ersten und zweiten Ausgabe, die angeblich in Venedig bei Minutius (absichtlich statt Manutius), in der That aber zu Hagenau bei W. Angst im Herbst 1515 und Anfang 1516 erschienen; 2) aus dem zur dritten Ausgabe (auch noch von 1516) hinzugekommenen Anhang von 7 Briefen; 3) aus dem 1517 bei Froben in Basel erschienenen zweiten Teil mit 62 Briefen, wozu 4) in der zweiten Ausgabe nochmals ein Anhang von 8 Briefen kam. Ein sogen. dritter Teil der E. (zuerst 1689 gedruckt) ist eine Sammlung vermeintlicher Seitenstücke dazu aus verschiedener Zeit und hat mit dem ursprünglichen Buch nichts mehr zu schaffen. Unter den zahlreichen Gesamtausgaben sind die zu Frankfurt (1643), die Londoner Duodezausgabe ohne Jahreszahl, die von Maittaire (Lond. 1710), Münch (Leipz. 1827), von Rotermund (Hannov. 1827, 2 Bde.) und die anonym erschienene von Böcking (Leipz. 1858, 2. Aufl. 1869) hervorzuheben. Mit Kommentar und eingehenden bibliographischen Nachweisen finden sie sich in Böckings Ausgabe von „Hutteni opera“ (Supplement, Leipz. 1864–69, 2 Bde). Eine Übersetzung ins Deutsche lieferte Binder (Stuttg. 1875). Eine Verteidigungsschrift Pfefferkorns 1516 sowie die „Lamentationes obscurorum virorum“ (Köln 1518) vermochten den E. nur lahme und gezwungene Witze entgegenzustellen.
Die „Epistolae novae obscurorum virorum ex Francofurto Moenano ad Dr. Arnoldum Rugium rubrum nec non abstractissimum datae“ von G. Schwetschke (Frankf. 1849; neu hrsg. mit Erläuterungen, Halle 1875) behandelten die innern Angelegenheiten des deutschen Reichsparlaments in witziger Weise, ebenso die „Epistolae obscurorum virorum“ (Leipz. 1872) das vatikanische Konzil.