Zum Inhalt springen

MKL1888:Geschichte

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Geschichte“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Geschichte“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 7 (1887), Seite 203207
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: Geschichte
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Geschichte
Wiktionary-Logo
Wiktionary: Geschichte
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Geschichte. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 203–207. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Geschichte (Version vom 23.12.2021)

[203] Geschichte (lat. Historia), ein viel umfassender Ausdruck, mit dem im gewöhnlichen Leben (seiner Abstammung von „geschehen“ entsprechend) jede nach irgend welchen Gesichtspunkten zu einer Einheit zusammengefaßte Summe von in der Zeit sich vollziehenden Begebenheiten bezeichnet wird. Allein für den technisch-wissenschaftlichen Gebrauch erhält das Wort eine viel tiefere Bedeutung. Hier steht im Gegensatz zu der G. die Natur, und mit den beiden Worten Natur und G. umfassen wir die Gesamtheit aller Erscheinungen. Diese beiden Ausdrücke aber verhalten sich zu einander wie die umfassendsten unserm Geist eigentümlichen Formen unsrer Anschauung, wie Raum und Zeit. In der einen Reihe von Erscheinungen tritt unserm Geiste das Moment des Nebeneinanderseins, das Räumliche, in einer andern das des Nacheinanderseins, das Zeitliche, näher. Ersteres ist bei den Erscheinungen der Natur der Fall, wo die Bewegung sich in stetigem Wechsel, in periodischer Wiederkehr vollzieht, wo, wie bei den Umläufen der Himmelskörper, die gleiche Bewegung sich immer aufs neue wiederholt; letzteres da, wo in der Bewegung ein kontinuierlicher Fortschritt hervortritt. Ein solcher vollzieht sich aber (unserm Geist erkennbar) nur in den Erscheinungen des Menschenlebens; nur von ihnen, nur von der menschlich-sittlichen Welt wird deshalb der Ausdruck G. in seinem wissenschaftlichen Sinn gebraucht. Dieses Werden und Sichentwickeln der sittlichen Welt forschend zu verstehen, die Vergangenheit zu begreifen aus dem, was in der Gegenwart von ihr noch unvergangen ist, das ist die Aufgabe der Wissenschaft der G.

Einteilung und Nutzen der Geschichte.

Je nach dem Umfang des Gewordenen, das die Geschichtsforschung zu verstehen sucht, kann man die G. äußerlich einteilen in Spezial-, Partikular- und Universal- oder Weltgeschichte. Die Spezialgeschichte oder Monographie stellt danach eine einzelne geschichtliche Erscheinung ihren Ursachen, ihrem Verlauf, ihrer Stellung zu andern oder zu einer Gesamtheit solcher und ihrer Bedeutung nach dar. Sie ist Biographie oder Lebensbeschreibung, wenn sie das Leben eines Einzelnen in seiner Entwickelung, seinem Thun und Leiden und seiner Wechselbeziehung zur Zeit schildert. Die Partikulargeschichte führt uns die für einen engern oder weitern Lebenskreis, eine Stadt, eine Landschaft, ein Volk, einen Staat, wichtigen und folgenreichen Begebenheiten vor Augen. [204] Die Universal- oder Weltgeschichte verarbeitet die in den Spezial- und Partikulargeschichten gewonnenen Ergebnisse zu einem nach räumlichen und zeitlichen Verhältnissen wohlgeordneten Ganzen. Sie soll uns die Zustände des gesamten menschlichen Geschlechts, wie sie sich im Lauf der Zeiten gestaltet haben, nach ihren wichtigsten Beziehungen und bedeutungsvollsten Erscheinungen kennen lehren und so gleichsam die Krone bilden, in welcher alle Strahlen geschichtlicher Darstellung zusammenfließen. Die Weltgeschichte ist hierdurch schon auf eine philosophische Betrachtungsweise hingewiesen, ja sie kann sich zu einer Philosophie der G. entwickeln, welche in der G. eine aufsteigende Entwickelungslinie nach einem bestimmten Ziel zu erkennen strebt. Diese teleologische Auffassung, als deren bedeutendste Vertreter Herder, Kant, Fichte, W. v. Humboldt, Hegel u. a. zu nennen sind, wird freilich von denen bekämpft, welche, wie schon Machiavelli, dann Hellwald, Schopenhauer, Hartmann u. a., die G. nur als einen im ewigen Kreislauf sich bewegenden Naturprozeß, als ein Spiel blinder Naturkräfte betrachten, während die religiöse Geschichtsbetrachtung in der G. nur Veranstaltungen Gottes sieht, um den Einzelnen zum Heil oder die Menschheit unter der Leitung der Kirche zur Einigung mit Gott zu führen. Eine neuere Richtung der Geschichtsphilosophie strebt danach, die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Erscheinungen aufzusuchen und ihren Mechanismus zu studieren. Die Vertreter dieser letztern sind in Deutschland Herbart und Lazarus, in Frankreich Quételet und Comte, in England Stuart Mill und Buckle. Diese wissenschaftlichen Studien sind freilich noch in ihren Anfängen (s. unten Litteratur).

Schon aus dem Zweck der Universalgeschichte ergibt sich, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der uns erhaltenen Nachrichten den Stoff der Weltgeschichte bilden kann; denn die Weltgeschichte hat nur von denjenigen Thatsachen Notiz zu nehmen, welche aus dem Kulturleben der Menschheit entweder direkt hervorgegangen sind, oder dasselbe unmittelbar betroffen, oder wenigstens mittelbar in günstiger oder ungünstiger Weise beeinflußt haben. Man pflegt diejenigen Völker, welche das Kulturleben der Menschheit vorzugsweise repräsentieren, im engern Sinn des Wortes geschichtliche Völker zu nennen. Soll nun die Weltgeschichte ein Bild der Menschheit vor uns aufrollen, so wird sie nicht umhin können, bei der besondern Entwickelung der Hauptvölker, solange sie Träger der menschlichen Kultur sind, zu verweilen und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in dem Kulturleben der Völker zur Darstellung zu bringen. Die Universalgeschichte zerfällt aber in zwei Hälften, in die alte und die neue. Der Grenzpunkt zwischen beiden, der natürlich nicht auf ein Jahr zurückgeführt werden kann, ist da zu suchen, wo das Christentum unter den die damalige Kultur repräsentierenden Völkern zur Herrschaft gelangt und damit die Entwickelung dieser Völker nach allen Beziehungen eine wesentlich andre Richtung erhält. Die neue G. teilt sich wieder in zwei Hälften, in die mittlere und in die neuere G. im engern Sinn, deren Scheidepunkt das Ende des 15. und der Anfang des 16. Jahrh. mit den damals eintretenden, die bestehenden Verhältnisse erschütternden und zum Teil umgestaltenden großen Weltbegebenheiten bildet. Keine dieser Perioden der G. bildet aber in dem Sinn ein für sich abgeschlossenes Ganze, daß die eine etwa ohne die Kenntnis der andern verstanden werden könnte; vielmehr ist die G. des menschlichen Geschlechts ihrer Natur nach nur eine einheitliche, jede Epoche derselben wird durch die ihr vorangehenden ebenso bestimmt, wie sie selbst die ihr folgenden bedingt. Die Einteilung der G. in Perioden hat daher eben nur den Zweck, die erdrückende Fülle des Stoffes in leichter zu übersehende, weil einen kleinern Zeitraum umfassende Gruppen zu sondern.

Die Bedeutung der G. für das praktische Leben leuchtet ein. Wie für den einzelnen Menschen, so ist nicht minder für jede Gesamtheit von solchen (für das Volk, den Staat, das Heer, die Kirche etc.) Selbsterkenntnis die erste Bedingung gedeihlicher Thätigkeit. Ein richtiges Bild ihrer selbst aber erlangt jede solche Gemeinschaft nur in dem Spiegel, den ihr die G. vorhält. Darum ist es das Studium der G., dessen vor allem der Staatsmann bedarf, den man mit Recht den praktischen Historiker genannt hat. Nicht in dem äußerlichen Sinn freilich darf der Staatsmann die G. studieren, um daraus Analogien zu ziehen, um unter gewissen gegebenen Verhältnissen etwa ebenso zu verfahren, wie man unter äußerlich ähnlichen (ihrem Wesen nach aber vielleicht grundverschiedenen Verhältnissen) einst mit Glück verfahren ist: das würde zu schädlichem Doktrinarismus in der Politik führen. Vielmehr ist für den Politiker das Verständnis der Gegenwart die erste Vorbedingung ersprießlicher Wirksamkeit, und ebendarum bedarf er der G., denn nur sie vermag ihm dies Verständnis zu gewähren.

Methode der Geschichtsforschung.

Die Thätigkeit des Geschichtsforschers beginnt mit der Herbeischaffung des historischen Materials, welches uns ermöglicht, die Vergangenheit zu verstehen. Dieses Material läßt sich in zwei große Klassen teilen. Entweder es ist aus jener Vergangenheit, mit welcher der Forscher sich beschäftigt, unmittelbar erhalten, ohne daß es in der Absicht geschaffen wurde, von dieser Vergangenheit spätern Geschlechtern Kunde zu geben (Überreste), oder es verdankt seine Entstehung der ausgesprochenen Absicht, der Nachwelt eine Überlieferung von dem Geschehenen zu geben (Quellen). Zwischen diesen beiden Klassen in der Mitte stehen die Denkmäler, welche Überreste und Quellen zugleich sind. Die Überreste können sehr mannigfaltiger Art sein. Zu ihnen gehören die Ruinen geschichtlich merkwürdiger Städte, wie die von Palmyra, Theben, Pompeji, die erhaltenen Kunstwerke alter Zeiten, die in Gräbern und an andern Orten gefundenen Waffen und Geräte, dann auch Gesetze, Volksrechte, Beschlüsse von Versammlungen und Behörden, ja alle aus der Vorzeit stammenden Sitten und Gebräuche eines Volkes als Produkte seines staatlichen und sozialen Lebens; ferner das, was uns von dem geistigen Leben eines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion und seiner Litteratur erhalten ist. Und von welcher Bedeutung für die Erkenntnis des Kulturlebens einer Nation die Beschäftigung mit seiner Litteratur ist, das bedarf kaum einer weitern Ausführung. Daß zu den Überresten endlich auch die in den Archiven aufbewahrten Akten, Korrespondenzen, Gesandtschaftsberichte, Rechnungen etc. gehören, versteht sich von selbst. Allen diesen Überresten ist eins gemeinsam: sind sie überhaupt echt, so bedürfen sie nur des richtigen Verständnisses, um unmittelbar verwertbare, objektive Zeugnisse für die Vergangenheit zu sein, der sie entstammen.

Gerade dadurch unterscheiden sie sich von den Quellen, welche nicht die Dinge selbst, sondern nur eine subjektive, durch das Medium menschlicher Auffassung gehende und von ihm getrübte Überlieferung von den Dingen geben. Ob die Quellen mündlich oder schriftlich überliefert sind, ist kein prinzipieller Unterschied. [205] Stets, wenigstens zu Anfang, durch mündliche Tradition überliefert sind die Sagen des Volkes und seine Lieder. Sie sind unter allen Quellen die subjektivsten, d. h. diejenigen, in denen die Auffassung der Menschen die Darstellung des Geschehenen am meisten beeinflußt hat. Ebenfalls subjektiv, aber in der Weise, daß die Verfasser sich ihrer Subjektivität vollkommen bewußt sind, daß sie die Absicht haben, ihren persönlichen Standpunkt bei der Darstellung von Ereignissen der Vergangenheit hervortreten zu lassen und die letztere durch den erstern zu beeinflussen, sind die politischen, kirchlichen und sozialen Reden, die Broschüren, Pamphlete, Streitschriften etc. und die seit dem 16. Jahrh. immer massenhafter auftretenden Zeitungen: dies alles nicht zu entbehrende, aber nur mit äußerster Vorsicht zu benutzende Geschichtsquellen. Ihrer Natur und Bestimmung nach weit objektiver sind die eigentlichen historischen Schriften, von deren einzelnen Arten unten geredet werden wird; sie sind von allen Quellen geschichtlicher Erkenntnis die am reichhaltigsten fließende.

Zwischen den früher besprochenen Überresten und den zuletzt erwähnten Quellen in der Mitte stehen, wie schon bemerkt ist, die Denkmäler oder Monumente; sie gehören den erstern an, insofern sie aus der Vergangenheit, von der sie Kunde geben, unmittelbar in die Gegenwart hineinragen, den letztern, insofern sie den Zweck haben, eine bestimmte Auffassung von den Geschehnissen ebendieser Vergangenheit der Nachwelt zu überliefern. Zu ihnen sind einmal alle Inschriften zu rechnen, welche für die Kenntnis des Altertums, zumal der orientalischen Völker, der Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser etc., äußerst wertvoll sind; ferner die Medaillen, die Münzen, die Wappen, die Siegel u. dgl. Für die Zeiten des Mittelalters gehören ebendahin die so sehr wichtigen Urkunden, d. h. schriftliche Aufzeichnungen über abgeschlossene Rechtsgeschäfte.

Das so außerordentlich reichhaltige und mannigfache historische Material zu sichten, sein Verhältnis zu den Vorgängen, von denen es absichtlich oder unabsichtlich Kunde gibt, und demgemäß seinen Wert für unsre Erkenntnis derselben zu bestimmen, ist die Aufgabe der Kritik. Sie hat zunächst aus der Gesamtmasse des vorhandenen Materials dasjenige auszuscheiden, was falsch und unecht, d. h. in Wirklichkeit nicht das ist, wofür es gehalten werden will. Solcher irre führenden Fälschungen hat es zu allen Zeiten gegeben; aus sehr verschiedenen Motiven hervorgegangen, erstrecken sie sich über alle Arten unsers historischen Materials. Lediglich gewinnsüchtige Absichten waren es, welche schon im Altertum die vielen Münzfälschungen, im Mittelalter einen großen Teil der Urkundenfälschungen hervorriefen. Andre Trugwerke verdanken politischen oder kirchlichen Bestrebungen der verschiedensten Art ihren Ursprung; dahin gehört z. B. die in Frankreich in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. zusammengestellte Sammlung von zum Teil gefälschten päpstlichen Schreiben und Konzilienbeschlüssen, die unter dem Namen der pseudoisidorischen Dekretalien bekannt ist, dahin gehören aber auch die vielen erfundenen Depeschen, Gesandtschaftsberichte etc. Andre Fälschungen alter und neuerer Zeit endlich sind aus dem Bestreben hervorgegangen, einem Geschlecht, einer Stadt, einem Volk eine möglichst weit zurückreichende historische Erinnerung zu verschaffen. Oft ist übrigens nicht das ganze der Prüfung unterzogene Stück eine trügerische Erfindung, vielmehr kann auch ein echtes Dokument oft genug durch Weglassungen oder Zusätze (Interpolationen) entstellt sein. Gelingt es, die Zeit der Fälschung, ihre Motive, ihre Urheber nachzuweisen, so kann in diesem Fall auch die Fälschung selbst ein wertvolles historisches Zeugnis für die Zeit werden, in der sie entstanden ist.

Auf diese erste Untersuchung, welche erweist, ob das historische Zeugnis das ist, wofür es gehalten werden will, folgt sodann die Kritik des Richtigen, welche zu untersuchen hat, ob das uns Überlieferte seinem Ursprung und seinen Bedingungen nach richtig sein kann oder nicht; ihrer Natur nach kommt diese Kritik nur den Quellen und Denkmälern, aber nicht den Überresten gegenüber zur Anwendung. Sie sucht den Parteistandpunkt des Überliefernden, seine Anschauungen und Tendenzen und den Grad seiner Bildung im allgemeinen sowie der besondern Kenntnisse zu bestimmen, welche er von den Thatsachen haben konnte, die er berichtete. Ihr fällt endlich auch die Aufgabe zu, bei den sogen. abgeleiteten Quellen, d. h. denjenigen, welche selbst aus andern Quellen schöpfen und denselben mehr oder minder getreu folgen, den Prozeß der Auflösung in ihre Bestandteile vorzunehmen.

Des so kritisch gesichteten und nach möglichst mannigfachen Gesichtspunkten geordneten Materials bemächtigt sich sodann die Interpretation, deren Bestreben es ist, dasselbe zu verstehen. Sie sucht den Kausalnexus, das Verhältnis von Grund und Folge in den Dingen, zu erkennen; sie ist bemüht, das unbekannte, fehlende Mittelglied durch Analogie und Hypothese zu ergänzen; sie will das Geschehene aus der Einwirkung der räumlichen, zeitlichen und sachlichen Bedingungen, unter denen es geschah, erklären; sie fragt bei den Thatsachen nach den psychologischen Motiven der handelnden Personen; sie will endlich das, was in den Einzelerscheinungen unklar und unverständlich bleibt, aus den zu Grunde liegenden, den Einzelwillen beherrschenden und treibenden allgemeinen Ideen erfassen. Die Interpretation ist vielleicht die schwerste Aufgabe des Historikers: die Kritik kann rein verstandesmäßig erlernt und geübt werden, sie ist mehr handwerksmäßige als künstlerische Arbeit; erst in der Interpretation offenbart sich das Genie des Geschichtsforschers.

[Historische Hilfswissenschaften.] Bei dieser Thätigkeit des Sammelns, Beurteilens und Interpretierens des historischen Materials bedarf der Geschichtsforscher einer Reihe von Kenntnissen und Fertigkeiten, die auch als besondere Disziplinen sich entwickelt haben, und die man, soweit sie im Dienste der Geschichtsforschung stehen, als historische Hilfswissenschaften bezeichnet hat. Dahin gehört zunächst die Geographie, welche uns über die räumlichen Bedingungen aufklärt, unter denen die geschichtlichen Vorgänge sich abspielen. Weiter kommen unter demselben Gesichtspunkt die Ethnographie oder Völkerkunde, besonders die Völkerpsychologie, und die Statistik in Betracht. Nicht minder wichtig ist die Wissenschaft von der Teilung und Messung der Zeit, die Chronologie.

Diesen mehr allgemeinen Disziplinen, deren der Geschichtsforscher fast bei jedem Schritt auf seinem Weg bedarf, reihen sich andre an, die ihm für das Verständnis gewisser Gattungen des historischen Materials unentbehrlich sind. Die Paläographie lehrt ihn die anscheinend rätselhaften, nicht zu entwirrenden Schriftzüge entziffern, in denen ein großer Teil dessen aufgezeichnet ist, was ihm zur wichtigen Erkenntnisquelle wird. Die Archäologie zeigt ihm, wie die aus der Vergangenheit übriggebliebenen [206] Kunstdenkmäler als solche zu würdigen und zu geschichtlichen Zwecken zu verwerten sind. Die Heraldik überliefert die Lehre von den Wappen, die Numismatik die von den Münzen, die Epigraphik die von den Inschriften. Die Diplomatik endlich enthält die Regeln über die Kritik und Interpretation der Urkunden; nur ein Zweig von ihr ist die Sphragistik oder die Lehre von den Siegeln, welche neben andern eins der wesentlichsten Mittel zur Beglaubigung der Urkunden waren. Durch die auch auf dem Felde der Geschichtsforschung immer mehr Platz greifende Teilung der Arbeit mag sich die Zahl dieser Spezialdisziplinen leicht noch erhöhen.

Arten und Entwickelung der Geschichtschreibung.

Dem Geschichtsforscher bleibt nun noch übrig, das gesicherte Ergebnis seiner Forschungen, das bis dahin nur für ihn existiert, auch andern zugänglich zu machen, und das geschieht durch die Darstellung. Hat der Historiker zunächst nur die Absicht, die Resultate seiner Studien seinen Fachgenossen vorzulegen und zur Nachprüfung zu unterbreiten, so wird er sich mit Vorteil der untersuchenden Form der Darstellung bedienen können. Wendet sich aber der Historiker an ein größeres Publikum als das der Fachgenossen, spricht er zu den Gebildeten seines Volkes und aller Völker, so wird er sich besser der erzählenden Form der Darstellung bedienen, indem er das Erforschte seinem Sachverlauf nach zu einem genetischen Bild „rekonstruiert“. In dieser Form ist eine große Verschiedenheit denkbar, je nachdem der Historiker nur erzählt, was er gesehen und erlebt oder als Geschehenes aus dem Material ermittelt hat, oder eine bestimmte Entwickelung im Zusammenhang verfolgt oder gewisse historische Ideen, die sich ihm aus der Betrachtung des Stoffes ergeben haben, nach ihrem Werden und Erscheinen, ihrem allmählichen Wachstum, ihrer Ausbreitung, ihrer Herrschaft und ihrem Hinsinken betrachtet und aus der Fülle der Thatsachen diejenigen, welche jene Prozesse anschaulich machten, zu einer geschichtlichen Darstellung vereinigt, bis schließlich in der geschichtsphilosophischen Darstellung (s. oben) die erzählende Form durch die demonstrative verdrängt wird. In der erzählenden Form der Darstellung kommt ferner die künstlerische Begabung des Historikers zur Geltung, die sich in der Intuition, dem Erkennen der wahren Gestalt der Vorgänge und Personen, in der nachahmenden Schilderung, dem Herausfinden des Notwendigen, dem Absondern des Zufälligen äußert.

So entstanden verschiedene Arten von erzählenden Geschichtswerken, in deren Aufeinanderfolge sich auch eine fortschreitende Entwickelung der G. kundgibt. Der Ausgangspunkt für alle historische Litteratur ist das Bedürfnis nach einer festen und gesicherten Zeitrechnung. Zu diesem Zweck legte man sich entweder Verzeichnisse der Vorsteher des Staats an (so im Orient, in Ägypten wie in Ninive, Babylon und sonst, der Könige; in Rom der Konsuln, der Stadtpräfekten etc.), oder man entwarf Kalender, welche über die Gerichtstage, die öffentlichen Spiele, die Feste u. dgl. Auskunft gaben. Diesen Namen- und Tageslisten fügte man dann bald anfangs kurze, später ausführlichere Notizen über denkwürdige Ereignisse des Natur- und Menschenlebens hinzu, und so entstanden aus ihnen die Annalen (Jahrbücher) und Chroniken, denen das gemeinsam ist, daß die zeitliche Aufeinanderfolge der für sie vorzugsweise maßgebende Gesichtspunkt ist. Es ist eine durchaus seltene Ausnahme, wenn die Chronisten oder Annalisten sich über diesen äußerlichen Gesichtspunkt der zeitlichen Aufeinanderfolge erheben, wenn sie den Stoff zu beherrschen sich bemühen und nach gewissen von ihnen selbst ausgehenden Grundgedanken verarbeiten. Als Annalen bezeichnet man gewöhnlich Aufzeichnungen, bei denen die Aufeinanderfolge der Kalenderjahre das Gerüst der chronologischen Anordnung bildet, während bei den Chroniken dasselbe zumeist durch die Regierungsperioden der Könige, Päpste, Bischöfe etc. gebildet wird. Von Geschichtswerken dieser Art aus dem Altertum, deren es bei den Römern besonders viele gab, sind uns nur Fragmente erhalten, wenn man nicht die der sinkenden Klassizität angehörigen annalenartigen Auszüge aus größern Geschichtswerken, wie Florus, Eutropius u. a., dazu rechnen will. Zahllos aber sind die Annalen und Chroniken des Mittelalters, die meist im Anschluß an eine Weltchronik nur die Geschichte eines bestimmten Zeitraums oder einer beschränkten Örtlichkeit selbständig behandeln.

Eine zweite Gattung keimender Historiographie, die aber erst bei fortgeschrittener Kultur möglich wird, sind die Denkwürdigkeiten oder Memoiren (s. d.), Aufzeichnungen einer mehr oder minder hervorragenden Persönlichkeit über ihre Zeit und ihr Leben, über das, was sie selbst gesehen und gehört hat. Namentlich hat Frankreich eine sehr reiche Memoirenlitteratur aufzuweisen. Nicht wesentlich von diesen Memoiren verschieden sind diejenigen Aufzeichnungen, welche die Alten Historiae nannten, d. h. nach der Definition des Gellius Erzählungen von geschichtlichen Vorgängen, denen der Erzähler selbst beigewohnt, an denen er wohl gar mitgewirkt hat; sie streifen um so mehr den memoirenhaften Charakter ab, je weniger der Verfasser seine eigne Person zum Mittelpunkt der Darstellung macht, und je mehr er das persönliche Moment hinter dem sachlichen zurücktreten läßt, und sie sind um so wichtiger, eine je hervorragendere Rolle ihr Verfasser zu seiner Zeit gespielt hat. Die Kommentarien Cäsars bei den Römern, die letzten ihre Zeit behandelnden Bücher vieler mittelalterlicher Chronisten, z. B. Gregors von Tours, Thietmars von Merseburg, Froissarts und Comines’, die von Karl V. begonnene Arbeit über die G. seiner Zeit, die „Histoire de mon temps“ Friedrichs d. Gr. mögen als hervorragendste Beispiele dieser Art von Geschichtswerken genannt werden. Endlich gibt es auch geschichtliche Werke, deren Verfassern die Schönheit der Form und des Stils die Hauptsache war, während es ihnen auf die Sachen selbst, die sie darstellten, weniger ankam. Solche Erzählungen, die man treffend als rhetorische Geschichtswerke bezeichnet hat, treten zuerst bei den Griechen, dann auch bei den Römern auf; manche mit Unrecht hochgeschätzte Werke, wie z. B. die des Italieners Guicciardini, Voltaires G. Karls XII. von Schweden u. a., gehören in diese Kategorie, deren Entartung zuletzt der historische Roman wird.

Als der Vater der Geschichtschreibung im eigentlichen Sinn wurde schon von den Alten Herodot bezeichnet, der den gewaltigen Zusammenstoß des Orients mit dem Hellenentum sich zum Gegenstand seiner Darstellung wählte und in der Kunst der Schilderung sich als Meister zeigte. Nach ihm schritt Thukydides zur pragmatischen, d. h. sachgemäßen, Geschichtschreibung fort; die mit sinnvoller Kürze der Darstellung historische Kritik, politische Reflexion und weltgeschichtliche Auffassung verbindet. Dasselbe Ziel verfolgte Xenophon, wenn auch nicht mit gleichem Erfolg, und auch nach dem Verfall Griechenlands hat seine Litteratur in Polybios noch einen Meister der Geschichtschreibung aufzuweisen. Bei den Römern entwickelte [207] sich die Geschichtschreibung erst im letzten Jahrhundert der Republik zu künstlerischer Vollendung, und Sallustius, Livius und besonders Tacitus können trotz mancher Mängel ihren griechischen Vorbildern zur Seite gestellt werden. Auch in den spätern Geschichtswerken des Suetonius, Vellejus, Josephus, Ammianus, Dio Cassius u. a. sind die Nachwirkungen der Blütezeit sowohl der Form als der geschichtlichen Auffassung nach bemerkbar.

Im Mittelalter schien die historische Kunst erloschen. Nur einige Biographien, wie die Karls d. Gr. von Einhard, und Memoirenwerke (s. oben) sowie wenige universalhistorische Werke, so das des Otto von Freising, machen eine Ausnahme. Einen Aufschwung nahm die Geschichtschreibung erst wieder im humanistischen Zeitalter und zwar zunächst in Italien, wo Machiavelli grundlegend wirkte. Es entstanden nicht nur Geschichtswerke, welche ihren Stoff nach bestimmten Gesichtspunkten und Ideen behandelten, nach Wahrheit strebten und der Darstellung eine künstlerische Form zu geben versuchten, sondern es wurde auch zuerst für die gelehrte Forschung gesorgt durch Errichtung von historischen Lehrstühlen und Edition von Sammelwerken. Die verschiedenen Formen der geschichtlichen Darstellung, Annalen, Memoiren, Historien, pragmatische Geschichtswerke, endlich Universalhistorien, wurden bei den Kulturnationen, Italienern, Spaniern, Franzosen, Niederländern, Engländern und Deutschen, alle gepflegt (Genaueres bei der Litteraturgeschichte dieser Völker). Betrachtet man aber die Gesamtentwickelung der Geschichtschreibung bei den drei Hauptvölkern der neuern Zeit, so findet man wohl, daß die Franzosen auch pragmatische Geschichtschreiber, wie Montesquieu, Guizot u. a., aufzuweisen haben, aber vorzugsweise Memoiren, Biographien und rhetorische Geschichtswerke erzeugen. Bei den Engländern wird die Biographie auch sehr gepflegt; bei ihnen ist die erste größere Weltgeschichte von Guthrie und Gray entstanden; vornehmlich aber hat die englische Litteratur Meisterwerke der pragmatischen Geschichtschreibung von Hume, Robertson, Gibbon, Macaulay u. a. hervorgebracht. Deutschland dagegen hat das Höchste geleistet in der historischen Kritik, für die Niebuhr und Ranke die maßgebenden Grundsätze aufstellten, und in der Weltgeschichte, welche von Spittler, Joh. v. Müller, Herder, Heeren, Schlosser, Weber u. a. bis zum neuesten Werk von Ranke das gesamte Gebiet der G. zu beherrschen und zu verarbeiten bemüht ist. Auch Werke, die einzelne Perioden der G. behandelten, wie die verschiedenen Werke von Ranke, die G. der Revolution von v. Sybel, die deutsche G. von Häusser u. a., stellen sich auf einen universalhistorischen Standpunkt, und es ist nicht zufällig, daß, während von den deutschen Geschichtsforschern die G. aller Zeiten und Völker durchwühlt und bearbeitet wird, es an einer würdigen G. des deutschen Volkes bis jetzt fehlt.

Vgl. Bolingbroke, Letters on the study and use of history (Lond. 1751, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1794); Mably, De la manière d’écrire l’histoire (Par. 1783; deutsch, Straßb. 1784); Rühs, Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums (Berl. 1811); Wachsmuth, Entwurf einer Theorie der G. (Halle 1820); W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (Berl. 1822); M. Duncker, De historia ejusque tractandae varia ratione (das. 1834); Gervinus, Grundzüge der Historik (Leipz. 1837); v. Sybel, Über die Gesetze des historischen Wissens (Bonn 1864); Trächsel, Über das Wesen und Gesetz der G. (Bern 1857); J. G. Droysen, Grundriß der Historik (3. Aufl., Leipz. 1882); Freeman, The methods of historical study (Lond. 1886); Lazarus, Über die Ideen in der G. (Berl. 1865); Derselbe, G. als Erziehung des Menschengeschlechts (das. 1866); Jodl, Die Kulturgeschichtschreibung, ihre Entwickelung und ihr Problem (Halle 1878); Flint, The philosophy of history in France and Germany (Lond. 1874); R. Mayr, Die philosophische Geschichtsauffassung der Neuzeit (Wien 1877); R. Rocholl, Die Philosophie der G. (Götting. 1878); Biedermann, Philosophie der G. (Prag 1884); Wachler, G. der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterarischen Kultur in Europa (Götting. 1812–20, 2 Bde.); Wegele, G. der deutschen Historiographie (Münch. 1885); Scherrer, Übersicht der vaterländischen deutschen Geschichtschreibung (Heidelb. 1886). – Von periodischen Werken und Zeitschriften für allgemeine G. sind zu nennen: „Historisches Taschenbuch“ (hrsg. von Raumer, Leipz. 1830 ff., seit 1870 von Riehl, seit 1880 von Maurenbrecher); „Allgemeine Zeitschrift für G.“ (hrsg. von A. Schmidt, Berl. 1844–48); „Historische Zeitschrift“ (hrsg. von v. Sybel, Münch. 1859 ff., mit reichhaltigem Litteraturbericht); „Zeitschrift für allgemeine G., Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte“ (hrsg. von v. Zwiedineck-Südenhorst, Stuttg. 1884 ff.); „Forschungen zur deutschen G.“ (hrsg. von der Historischen Kommission der bayrischen Akademie der Wissenschaften, Götting. 1859 ff.); „Historisches Jahrbuch“ (hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Münster 1880 ff.); für Frankreich die „Revue historique“ (seit 1876) und die „Revue des questions historiques“ (seit 1867); für Italien die „Rivista storica italiana“ (seit 1884); für Spanien die „Revista histórica“ und die „Revista de ciencias históricas“; für Dänemark die „Historisk Tidsskrift“. Eine Übersicht über die gesamte Geschichtsforschung geben die „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft“ (hrsg. von der Historischen Gesellschaft in Berlin, seit 1878); eine Bibliographie die „Bibliotheca historica“ (Götting. 1862–82, halbjährlich).