MKL1888:Gießen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gießen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 333334
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Gießen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 333–334. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gie%C3%9Fen (Version vom 14.04.2021)

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Wappen von Gießen.

Gießen, Hauptstadt der hess. Provinz Oberhessen, in anmutiger Lage am Einfluß der Wieseck in die Lahn, 166 m ü. M., Knotenpunkt der Linien Kassel-Frankfurt a. M. und Deutz-G. der Preußischen Staatsbahn sowie G.-Fulda und G.-Gelnhausen der Oberhessischen Eisenbahn, macht, obschon der älteste Stadtkern eng und winkelig erscheint, im ganzen durch zahlreiche Neubauten einen modernen Eindruck. Die alten Festungswerke wurden 1805 geschleift und in eine schöne Promenade, die sogen. Schoor, verwandelt. Die ansehnlichsten Plätze sind: der Brand, das Kreuz, der Kirchen- und der Marktplatz; von Gebäuden sind zu nennen: die alte Stadtkirche St. Pancratii, die neue kath. Kirche, die Synagoge, die Gebäude der Universität und verschiedener dazu gehöriger Anstalten, das ehemalige Schloß (jetzt Kanzleigebäude), der Justizpalast etc. Die Zahl der Einwohner beträgt (1885) mit Garnison (1 Infanterieregiment Nr. 116) 19,001, meist Evangelische. Industrie und Handel sind sehr rege. Hervorzuheben sind: Tabaks- und Zigarettenfabrikation (3000 Arbeiter), Textilindustrie, Bierbrauerei, Eisengießerei und Maschinenfabrikation, Müllerei, Korsett-, Geldschrank-, Erdfarben-, Lack- und Firnisfabrikation etc., Mehl-, Wein-, Getreide-, Vieh- und Kolonialwarenhandel, Ackerbau und Viehzucht. In der Umgegend ist viel Bergwerksindustrie und eins der bedeutendsten Braunsteinbergwerke der Welt. G. ist Sitz der Provinzialverwaltung von Oberhessen, eines Kreisamtes, eines Landgerichts (für die 20 Amtsgerichte zu Alsfeld, Altenstadt, Büdingen, Butzbach, Friedberg in Hessen, G., Grünberg, Herbstein, Homberg in Oberhessen, Hungen, Laubach, Lauterbach, Lich, Nauheim, Nidda, Ortenberg, Schlitz, Schotten, Ulrichstein und Vilbel), einer Reichsbanknebenstelle, einer Filiale der Bank für Süddeutschland und einer Handelskammer. Unter den Lehranstalten der Stadt steht die 7. Okt. 1607 vom Landgrafen Ludwig V. gegründete Universität (Ludoviciana) obenan. Die Zahl der Studierenden betrug 1885/86: 650. Mit ihr verbunden sind eine wertvolle Bibliothek, ein anatomisches Theater, ein zootomisches und Veterinärinstitut, ein chemisches Laboratorium, physiologisches und pharmakologisches Institut, Entbindungsinstitut, ein botanischer Garten, verschiedene wissenschaftliche Sammlungen, ein Kunst-, Münz- und Antikenkabinett, eine Sammlung von Sanskrit- und Zendtypen, eine Sternwarte etc. An sonstigen Lehranstalten besitzt G. ein Gymnasium, ein Realgymnasium und eine Forstlehranstalt. – Der Punkt, an welchem G. liegt, ist eine charakteristische Stelle des Lahnthals, durch welche seit alten Zeiten die große Völkerpassage aus der Wesergegend in das Untermain- und Rheingebiet hindurchzog, und nach der Menge germanischer Totenhügel, ausgegrabener Aschenkrüge etc. zu schließen, war derselbe ein geweihter Ort mit [334] einem heiligen Hain und einer Priester- und Totenstätte der alten Katten. Später, aber ehe die Stadt bereits aufblühte, gruppierten sich um das Thalbecken auch die Burgen mittelalterlicher Dynasten, unter deren Trümmern noch jetzt der Gleiberg, der Vetzberg (1646 zerstört), der Staufenberg (mit ansehnlicher Ruine) und die ehemalige Deutsch-ordenskomturei Schiffenberg (letztere vollständig erhalten) besonders hervortreten. G. selbst (bei den Alten oft »Zu den Gissen« genannt, wahrscheinlich von den zahlreichen Flüßchen, welche hier ihr Wasser in die Lahn »gießen«) gehörte ursprünglich zur Grafschaft Gleiberg, kam 1203 an den Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen, erhielt um die Mitte des 13. Jahrh. Stadtrecht und ward 1265 mit der zugehörigen Grafschaft G. an Hessen verkauft. Landgraf Philipp der Großmütige versah G. 1530–33 mit Festungswerken, die zwar 1547 auf Befehl Kaiser Karls V. geschleift, doch 1560–64 wieder errichtet und 1571 noch erweitert wurden. Mit dem Aussterben der Marburger Linie fiel G. 1604 an Hessen-Darmstadt. Während des Siebenjährigen Kriegs ward G. 1759 den Franzosen eingeräumt, welche es bis 1763 besetzt hielten. Auch 1796 und 1797 wurde die Stadt wiederholt von den Franzosen besetzt. Vgl. Buchner, G. und seine Umgebung (Gieß. 1880); Derselbe, G. vor 100 Jahren (das. 1879); Derselbe, Aus Gießens Vergangenheit (das. 1886); Kraft, Geschichte von G. bis 1265 (Darmst. 1876); Nebel, Geschichte der Universität G. (Marburg 1829).