MKL1888:Gymnasium

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 7 (1887), Seite 959963
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Gymnasium. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 959–963. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gymnasium (Version vom 18.04.2023)

[959] Gymnasium (griech. gymnásion), bei den alten Griechen das Lokal, in dem die gymnastischen Übungen stattfanden (s. Gymnastik), also s. v. w. Turnhalle; in der heutigen amtlichen Sprache eine höhere Lehranstalt, in der die alten klassischen Sprachen gelehrt und die Schüler für die Universität vorgebildet werden. Die Gymnasien der alten Griechen, luftige und schattige Plätze mit Vorrichtungen für Spiel, Lauf, Ringkampf etc., später meist auch mit Säulenhallen, Bädern und Räumen für gelehrte Unterhaltung (exedrae), hatten ihr Urbild in dem Dromos zu Sparta, fanden aber ihre höchste Ausbildung nach den Perserkriegen in Athen, wo damals drei große Gymnasien, die Akademie, das Lykeion und das Kynosarges, bestanden. Sie waren Lieblingsaufenthalt und Bildungsstätte der Jünglinge (Epheben), welche die Ringschule (Palästra) bereits hinter sich hatten und hier von Gymnasten und Pädotriben (Turnlehrern) unter Leitung eines Gymnasiarchen und Oberaufsicht des Sophronisten (Sittenmeisters) unterwiesen wurden. Die Gymnasien verbreiteten sich mit der griechischen Bildung in den Mittelmeerländern und galten als Merkmal derselben. In Rom fanden sie keinen rechten Eingang. Von dem geistigen Leben, das sich in ihnen neben dem Turnwesen entwickelte, gibt die Wirksamkeit des Sokrates, wie sie Platon und Xenophon schildern, und ebenso Lukian im „Anacharsis“ eine lebendige Anschauung. Auch Platon lehrte in der Akademie, Aristoteles im Lykeion.

An diese Verwendung der Gymnasien für die geistige Ausbildung der Jugend anknüpfend, nannten einzelne Städte und einzelne Privatunternehmer im Mittelalter, namentlich aber die Humanisten des 15. und 16. Jahrh., ihre in erster Reihe der Pflege der alten Sprachen gewidmeten Schulen gern Gymnasien; so wurde allmählich diese Bezeichnung der gelehrten Schulen in Deutschland gebräuchlich und verdrängte schließlich die gleichbedeutenden Namen, die nun den bestimmtern Begriff von halbakademischen Anstalten (Lyceum), von Anstalten mit Kosthäusern (Pädagogium) oder von Bildungsstätten für Lehrer (Seminarium) annahmen, während die Bezeichnung als lateinische oder gelehrte Schulen fast ganz abkam. Diesem sprachlichen Vorgang drückte für Preußen der Erlaß des Ministers v. Schuckmann vom 12. Nov. 1812 das Siegel auf, der für alle unmittelbar zur Universität entlassenden Schulen die Bezeichnung als G. amtlich einführte. Im Ausland ist diese minder gebräuchlich. Bei den Völkern romanischer Zunge ist statt derselben meist der mittelalterige Name Kollegium (span. Colegio, ital. Collegio, franz. Collège etc.) durch die Schulsprache der Jesuiten allgemein geworden; doch heißen in Frankreich die vollständigen staatlichen Gymnasien Lycées, in Belgien Athénées; in Großbritannien findet sich neben der allgemeinern Benennung Grammar Schools oder Public Schools ebenfalls der Name Colleges.

Die Gymnasien der Humanisten waren nur selten ganz neue Anstalten, die meisten entstanden durch Umbildung aus den Dom- und Klosterschulen oder aus den städtischen lateinischen Parochial- und Ratsschulen, den Heimstätten der sieben freien Künste. Bei dieser Umbildung waren in Deutschland die niederländischen Hieronymianer oder Brüder des gemeinsamen Lebens besonders thätig, unter denen wieder Alexander Hegius (gest. 1498) und seine Schüler hervorragen. Man kehrte zu den bessern lateinischen Schriftstellern des goldenen Zeitalters zurück, [960] namentlich zu Cicero, und erstrebte klassische Reinheit der Latinität in Wort und Schrift; das Griechische, im Abendland damals beinahe unbekannt, und bald auch die Anfangsgründe des Hebräischen wurden, jenes durch Hegius, diese besonders durch Reuchlin, eingeführt; auch der sachlichen Bildung der Alten in Physik, Mathematik etc., über welche die Wissenschaft damals noch nicht hinausgewachsen war, geschah ihr Recht. Im Vordergrund der Bewegung standen bald nach 1500 als anerkannte Häupter Desiderius Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin, genannt Kapnio, in Pforzheim. Durchgreifende Kraft erhielt der Umschwung jedoch erst dann, als an die Stelle der vorsichtigen Parteinahme dieser Männer für die kirchliche Reform im jüngern Geschlecht der deutschen Humanisten begeisterte Hingabe an Luther und sein Werk trat. Luthers erklärte Wertschätzung der Sprachen als der Scheide, in der das Schwert des Geistes steckt (Brief an die Ratsherren deutscher Städte, 1524), und des Pommern Johannes Bugenhagen ordnende Thätigkeit in einer Reihe vornehmer norddeutscher Städte waren hierbei von wesentlichem Einfluß. Vor allem aber gab beider Freund Philipp Schwarzerd, genannt Melanchthon, schon von seinem Jünglingsalter an als praeceptor Germaniae den deutschen Gymnasien Gesetze und drückte ihnen für Menschenalter durch seinen Schulplan von 1528 (im Visitationsbüchlein) und eine Anzahl Lehrbücher seines Geistes Stempel auf. Unter seinen Freunden und Schülern, den praktischen Schulmännern Joachim Camerarius (1500–1574) in Nürnberg, der jedoch bald zum akademischen Lehrstuhl überging, Valentin Friedland von Trotzendorf (1490–1556) in Goldberg, Johannes Sturm (1507–89) in Straßburg, Michael Neander (1525 bis 1595) in Ilfeld u. a., stand das deutsche humanistische G. bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus in höchster Blüte. Das hingebende Studium der Alten, die noch mit Recht als Lehrmeister auch der Sachen gelten konnten, die Nachahmung ihrer unvergleichlichen Weise zu reden, aber beides in den freien Dienst des wieder erweckten Evangeliums und seiner sittlichen Grundansicht gestellt, das war das Ideal jener vielbewunderten und in ihrer Art wirklich klassischen Schulmeister. Aber schon wenige Jahrzehnte später war das Vertrauen zu dem einseitig gelehrten G. wesentlich erschüttert. Die strenge Ausschließung der Muttersprache vom Lehrplan, ja vom Umgang der Lehrer und Schüler war von vornherein seine schwache Seite, und die Beschränkung auf das Wissensgebiet der Alten wurde immer mehr unnatürlich, je mehr die Keime einer neuen wissenschaftlichen Forschung erstarkten. Während in dem humanistischen Kreise selbst das vordem so frische Leben zu totem Wortkram erstarrte, erhob sich, durch ausländische Einflüsse gestärkt (Rabelais, Montaigne, Bacon), bald nach 1600 lebhafter Widerspruch gegen den Verbalismus. Die neue Richtung des pädagogischen Realismus trat auf den Schauplatz. Sie fand begabte Wortführer in Wolfgang Ratichius (Ratke, 1571–1635) und Joh. Amos Comenius (1591–1671). Aber beide waren glücklicher in der Kritik und in der Aufstellung einiger wichtiger pädagogischer Grundsätze (Ausgehen von der Anschauung, Pflege der Muttersprache etc.) als in der praktischen Ausführung ihrer Ansichten. Die Grundform des humanistischen Gymnasiums blieb daher bestehen, wenn auch allmählich eine bescheidene Pflege des Deutschen, hier und da das Französische und mancherlei Realistisches eindrangen und dafür das Griechische zurücktrat.

Als eine besondere Abart des humanistischen Gymnasiums muß das Kollegium der Jesuiten bezeichnet werden, indem die „Ratio atque institutio studiorum“ (1599) sich eng an die Schulordnung von J. Sturm in Straßburg anschloß. Schon die Namen der sechs Klassen ihrer studia inferiora, d. h. des Gymnasiums, zeigen diese Art an; sie heißen, von unten begonnen: Principia, Rudimentum, Grammatica, Syntaxis, Poetica oder Humanitas, Rhetorica und sind mit Ausnahme der zweijährigen Rhetorik auf je ein Jahr berechnet. Auch bei den Jesuiten tritt das Griechische hinter dem Lateinischen zurück und die „Erudition“, das Wissen von der äußern Welt, beschränkt sich auf eine nach dem kirchlichen Zweck der Gesellschaft getroffene und sehr begrenzte Auswahl aus den Realien. An die Stelle der alten Komödien des Terenz, der Gespräche Lukians u. a., welche die Humanisten lesen und wohl auch aufführen ließen, traten bei den Jesuiten vielfach religiöse, namentlich allegorische, Schauspiele, und auch hierin berühren sich ihre Anstalten mit dem protestantischen G. des 17. Jahrh.

In den protestantischen Gymnasien Deutschlands machten die Neuerungen seit dem Westfälischen Frieden sich immer mehr geltend und drohten, allmählich die Einheit des Lehrplans und damit die Sicherheit der Ergebnisse völlig zu untergraben. Da kam neues Leben aus der tiefern religiösen Erregung des pietistischen Kreises, dessen Häupter, vor allen A. H. Francke, warme Freunde der Schule waren. Da auf der einen Seite die alten Sprachen des theologischen Studiums wegen unentbehrlich blieben, auf der andern Seite der Pietismus das wirkliche Leben und seine Anforderungen gegenüber der kühlen Gelehrsamkeit begünstigte, erwachte zuerst in diesem Kreis eine klarere Überzeugung von der Berechtigung einer zwiefachen höhern Jugendbildung, der humanistischen, auf die alten Sprachen begründeten für diejenigen, welche sich einer gelehrten Laufbahn widmen wollen, und der realistischen für Adel und Bürgerstand, deren Lebensaufgabe mehr unmittelbar in dem Leben der Gegenwart liegt. Man errichtete an den Gymnasien Bürgerklassen für die, welche „unlateinisch“ oder wenigstens ungriechisch bleiben, d. h. nicht studieren, wollten, und bald auch gesonderte Realschulen, wie die von Chr. Semler in Halle (gest. 1740) und von J. J. Hecker in Berlin. Einem ähnlichen, obzwar auf ganz andern Voraussetzungen begründeten Bedürfnis sollten die in jener Zeit aufkommenden Ritterakademien, höhere Schulen für junge Adlige, abhelfen. Wurde in den Realschulen mehr die „mathematische, mechanisch-technologische und ökonomische“ Seite betont und in den Ritterakademien mehr das Studium der lebenden Sprachen und die körperliche Erziehung, so standen beide doch als moderne Bildungsanstalten dem altklassischen G. gegenüber. Übrigens sind die wenigen bis heute erhaltenen Ritterakademien später dem G. wieder angenähert oder, wie in Preußen, ganz in dasselbe zurückgebildet worden.

Mit der Entstehung besonderer Realschulen (s. d.), deren weitere Entwickelung hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann, war vom G. die Gefahr einer Entfernung von dem im 16. Jahrh. gelegten Grund abgewandt. Aber schon war ein gewisser Abfall von den Grundsätzen des Humanismus eingetreten, indem das Griechische sehr zurückgedrängt war und in beiden alten Sprachen statt der besten Schriften des klassischen Altertums das Neue Testament und spätlateinische kirchliche Lehrschriften zur Lesung kamen. [961] Eine gründliche, aber maßvolle Reform geschah besonders durch den Vorgang J. M. Gesners (gest. 1761), der das Griechische wieder zu Ehren brachte, aber daneben auch dem Deutschen warme Liebe entgegentrug und die Bedürfnisse solcher Schüler würdigte, die nicht der gelehrten Laufbahn folgen wollten, und seiner Nachfolger in Leipzig, J. A. Ernesti (gest. 1781), und Göttingen, Chr. G. Heyne (gest. 1812). So gefestigt, widerstand das G. den kritischen Angriffen der nach Rousseaus Grundsätzen gebildeten Philanthropen im letzten Drittel des 18. Jahrh. stolz und im ganzen siegreich, nur weniges, auch von dem Berechtigten, aufnehmend, was jene als pädagogisches Evangelium verkündeten. Nur sehr allmählich drangen in das altbefestigte Gebäude auch die bessern methodischen Grundsätze der neuen Pädagogik ein, wie sie Pestalozzi und seine Jünger trieben, und es bleibt heute noch in dieser Hinsicht viel zu thun, wenn auch die Vorwürfe der Vertreter jüngerer Schularten gegen die Gymnasiallehrer nicht immer gerecht sind und oft geringe Selbsterkenntnis verraten. Richtige Wertschätzung der körperlichen Erziehung, umfangreichere Berücksichtigung auch der Realien, freundlicheres Eingehen auf das Leben und Empfinden der Jugend hat man auch am G. den Philanthropen, methodisches Ausgehen von der Anschauung und vom konkreten Leben Pestalozzi und demnächst Herbart abgelernt, und daneben hat durch F. A. Wolf und A. Böckh die Altertumswissenschaft neues Leben u. Interesse gewonnen.

Der Streit oder wenigstens die Spannung zwischen den Vertretern der humanistischen und der realistischen Bildung hat inzwischen nicht aufgehört, und wie es in unsrer Zeit einmal liegt, hat fast jede mögliche Lösung dieses Widerstreits ihre namhaften Vertreter gefunden. Diese hängen noch immer an dem jeder Verwirklichung widerstehenden Ideal einer Einheitsschule für die höhere Bildung, dem bei der heutigen nur zu berechtigten Besorgnis vor ungesunder Überbürdung der Jugend weniger Aussicht bleibt als je. Jene sind so fest und völlig von dem Wert sogen. klassischer Vorbildung für das Leben ohne jede Rücksicht auf den künftigen Beruf durchdrungen, daß sie neben dem G. die realistische Schule höchstens (wie jetzt in Elsaß-Lothringen) in der beschränkten Form der höhern Bürgerschule dulden möchten. Von den wenigen zu schweigen, die fanatisch genug sind, um geradezu den bewährten humanistischen Bildungsgang an sich zu schmähen und zu befehden, wünschen andre wenigstens alle Bahnen des öffentlichen Berufs ganz gleichmäßig den als reif entlassenen Schülern der realistischen wie der humanistischen Anstalten von gleicher Dauer der Lehrzeit eröffnet zu sehen.

Hier kann weder in diesen Streit eingetreten, noch über die geradezu unabsehbare und täglich zunehmende Litteratur dieser Frage nur eine Übersicht geboten werden. Nur kurz sei angedeutet, wie sich durch dies Gewoge der verschiedenen Ansichten hindurch die Sache des Gymnasiums amtlich entwickelt und zu ihrer heutigen Lage gestaltet hat. Noch bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte im höhern Schulwesen Kursachsen nebst den sächsischen Herzogtümern die Führung in Nord- und Mitteldeutschland; während im Süden Württemberg durch seine eigentümlichen Klosterschulen (Seminare) hervorragte, galten hier die ähnlich entstandenen Fürsten- und Landesschulen neben einigen großen Stadtschulen (Thomasschule zu Leipzig) als Muster. Im letzten Drittel des Jahrhunderts trat Preußen, vorzugsweise infolge seines allgemeinen politischen Aufschwunges unter Friedrich II., nicht am wenigsten aber durch das Wirken des Ministers v. Zedlitz (bis 1787, gest. 1791), auch in dieser Hinsicht an die Spitze, so daß seitdem in betreff der großen Grundzüge und des bis jetzt erreichten Ziels die Geschichte des Gymnasiums in Preußen fast die des deutschen Gymnasiums überhaupt ist. Der erste Anlauf zu einer strengern Regelung der Verhältnisse an den preußischen Gymnasien geschah von dem soeben (1787) eingesetzten Oberschulkollegium durch Erlaß einer Instruktion über die Prüfung der zur Universität übergehenden Schüler (Reife- oder Maturitätsprüfung) vom 23. Dez. 1788. An ihre Stelle trat 25. Juni 1812 eine neue Instruktion und, nachdem 1832 eine entsprechende Instruktion für höhere Bürger- und Realschulen erschienen war, 4. Juni 1834 ein neues Reglement, das mit einigen Änderungen vom 12. Jan. 1856 bis zum Erlaß der jetzt gültigen Prüfungsordnung vom 27. Mai 1882 (vgl. Entlassungsprüfung) bestanden hat. Eine den ganzen Betrieb der Gymnasien regelnde Unterrichtsverfassung ward seit 1810 bearbeitet, dann von F. A. Wolf begutachtet und trat 1816 in Kraft. Unter andern wichtigen Neuerungen führte diese Unterrichtsverfassung das Klassensystem allgemein ein und damit das Amt der Klassenlehrer oder Ordinarien, während bis dahin an vielen Anstalten das Fachsystem vorgeherrscht hatte, so daß derselbe Schüler bei den einzelnen Fachlehrern in sehr verschiedenen Klassen sitzen konnte. Die Verfassung wurde 24. Okt. 1837 unter dem Eindruck des Lorinserschen Streits über die gesundheitsgefährlichen Einflüsse der Schulen abgelöst durch den „Normalplan“, der mit geringen Änderungen vom 7. Jan. 1856 bis zum 31. März 1882 gegolten hat. Durch den Normalplan von 1837 wurde das Turnen, nachdem es seit 1820 ausgeschlossen gewesen war, wieder eingeführt. Inzwischen war auch für den Nachweis einer geeigneten Vorbildung der Gymnasiallehrer gesorgt und damit ein Gymnasiallehrstand überhaupt erst geschaffen, nachdem bisher das Lehramt am G. der Regel nach Durchgang für tüchtige, oft auch Zuflucht für untüchtige Theologen gewesen war. Die wissenschaftlichen Deputationen in Berlin, Königsberg und Breslau für diese Prüfungen waren schon 4. Dez. 1809 eingesetzt und das erste Reglement 12. Juli 1810 erlassen worden. An die Stelle der genannten Deputationen traten 19. Dez. 1816 die mit jeder Universität verbundenen wissenschaftlichen Prüfungskommissionen. Das gegenwärtig maßgebende Prüfungsreglement stammt aus dem Jahr 1866 (12. Dez.), ist aber längst als reformbedürftig anerkannt und wird voraussichtlich binnen kurzem durch ein andres ersetzt werden.

Nach den jetzt geltenden Lehrplänen von 1882, wie bereits seit 1837, besteht das G. aus sechs aufsteigenden Klassen, deren drei untere einjährigen, die drei obern zweijährigen Lehrgang haben. Die Klassen werden lateinisch benannt (von unten auf Sexta, Quinta, Quarta, Tertia, Sekunda, Prima). Da an größern Anstalten die drei obern Klassen in je zwei Jahrgänge (Unter- u. Obertertia etc.) zerlegt sind und für gewisse Unterrichtszweige diese Teilung sogar geboten ist, hat das G. jedoch eigentlich neun einjährige Klassen, und diese Zählung wäre um so mehr zu bevorzugen, da anderseits auch amtlich obere (I und Ober- II), mittlere (Unter- II, III) und untere Klassen unterschieden werden und einer der praktisch wichtigsten Abschnitte des Gymnasialbesuchs, die Erlangung der wissenschaftlichen Reife für den einjährig-freiwilligen Heerdienst, mitten in die Sekunda fällt. Durch die Lehrpläne von 1882 ist die höhere Einheitsschule oder [962] das Gesamtgymnasium ausgeschlossen und das G. in seinem strengen Unterschied gegen die Realanstalten von gleicher Lehrdauer (Realgymnasium mit Latein; Oberrealschule ohne Latein) erhalten worden. Dagegen sind die Lehrgänge des Gymnasiums und des Realgymnasiums (nicht der Oberrealschule) in den untern Klassen einander so weit genähert, daß die Eltern eines Knaben erst mit dessen Übergang in die Tertia der einen oder andern Anstalt sich endgültig zu entschließen brauchen, ob derselbe den humanistischen oder den realistischen Bildungsgang einschlagen soll. Damit ist einer schon seit 1848 auf amtlichen und freien Lehrerkonferenzen wie in der Presse oft wiederholten Forderung genügt worden. Ihr zuliebe hat freilich der Beginn des Griechischen aus Quarta nach Tertia verlegt und dafür in den untern Klassen dem Französischen eine größere Stundenzahl zugebilligt werden müssen. Der gegenwärtige Lehrplan von 1882 und der von 1856 finden sich hierunter einander gegenübergestellt; in dem erstern sind für die untern Klassen die noch bestehenden geringen Abweichungen des Lehrplans der Realgymnasien in Klammern angegeben.

Lehrplan vom Jahr 1856:
  Wöchentliche Stundenzahl in: Zusam­men
VI V IV III II I
Religion 3 3 2 2 2 2 14
Deutsch 2 2 2 2 2 3 13
Lateinisch[WS 1] 10 10 10 10 10 8 58
Griechisch 6 6 6 6 24
Französisch 3 2 2 2 2 11
Geschichte u. Geographie 2 2 3 3 3 3 16
Mathematik u. Rechnen 4 3 3 3 4 4 21
Physik 1 2 3
Naturbeschreibung (2) (2) 2 6
Zeichnen 2 2 2 6
Schreiben 3 3 6
Turnen 2 2 2 2 2 2 12
  30 32 32 32 32 32 190
Lehrplan vom Jahr 1882:
  Wöchentliche Stundenzahl in: Zu­sam­men Gegen 1856
VI V IV III II I +
Religion 3 2 2 2 2 2 13 1
Deutsch 3 (3) 2 (3) 2 2 2 3 14 1
Lateinisch (8) 9 (7) 9 (7) 9 9 8 8 52 6
Griechisch 7 6 20 4
Französisch (5) 4 5 2 2 2 15 4
Geschichte u. Geographie 3 3 4 3 3 3 19 3
Rechnen u. Mathematik (5) 4 4 (5) 4 4 4 23 2
Naturbeschreibung 2 2 2 2 8 2
Naturlehre 2 2 4 1
Schreiben 2 2 4 2
Zeichnen² 2 2 2 6
Turnen 2 2 2 2 2 2 12
  30 32 32 32 32 32 190 +13 −13
¹ Wenn Ober- und Untertertia sonst gemeinschaftlichen Unterricht erhalten, müssen sie doch jedenfalls im Griechischen und in der Mathematik getrennt werden. – ² Alle Anstalten haben dafür zu sorgen, daß ohne Mehrzahlung jeder Schüler auch der obern Klassen 2 Stunden wöchentlich Zeichenunterricht nehmen kann; auch für geeignete Anleitung im Gesang ist unentgeltlich zu sorgen.

Dieser Lehrplan schließt gleichzeitig denjenigen des Progymnasiums, d. h. eines Gymnasiums ohne Prima, in sich. In den Grundzügen stimmt mit ihm auch die Einrichtung der Gymnasien in den übrigen Staaten des Deutschen Reichs überein. Da im Deutschen Reich die preußische Heerverfassung allgemein angenommen worden war, mußte folgerecht auch in den höhern Lehranstalten so weit einheitliche Ordnung hergestellt werden, daß die Berechtigung zum einjährigen Dienst etc. überall von gleichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden konnte. Auf einer Konferenz von Bevollmächtigten der deutschen Bundesstaaten in Dresden im J. 1872 wurden daher gemeinsame Grundzüge vereinbart. Die Reichsschulkommission (s. d.) wacht darüber, daß diese Grundsätze überall gleichmäßig beachtet werden. Dieselben schließen jedoch eine gewisse Mannigfaltigkeit nicht aus, wie denn z. B. Bayern die Bezeichnung der Gymnasien als Studienanstalten (bestehend aus Lateinschule und Obergymnasium) und der Progymnasien als (isolierter) Lateinschulen, Württemberg die eigentümliche Form der niedern evangelisch-theologischen Seminare und die Benennung der Progymnasien als Lyceen beibehalten haben.

In Preußen gab es nach dem vom Reichskanzleramt veröffentlichten Verzeichnis der höhern Lehranstalten, welche zur Ausstellung von Zeugnissen über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst berechtigt sind, im April 1886 im ganzen 258 Gymnasien, denen 90 Realgymnasien und 13 Oberrealschulen gegenüberstehen, während auf 34 Progymnasien 17 Realschulen, 83 Realprogymnasien und 22 höhere Bürgerschulen kommen. Im ganzen Deutschen Reiche gestaltet sich das Verhältnis der entsprechenden Zahlen, abgesehen von der Abweichung in der amtlichen Bezeichnung der einzelnen Schularten, so: 399 Gymnasien gegen 136 Realgymnasien und 16 Oberrealschulen; 47 Progymnasien gegen 67 Realschulen, 107 Realprogymnasien und 87 höhere Bürgerschulen. Diese Zahlen beweisen, daß das G. im ganzen noch die vorwaltende Form der höhern Schulen ist. Seit der Einführung der neuen Lehrpläne (1882) in Preußen hat sich das Verhältnis sogar für die Gymnasien noch etwas günstiger gestaltet. Es muß dahingestellt bleiben, ob dies Vorwalten der humanistischen Lehranstalten lediglich aus dem größern Umfang der dem G. staatsseitig eingeräumten Berechtigungen zu erklären ist, wie die rührigen Vorkämpfer des Realgymnasiums behaupten, oder ob doch bisher noch in dem gebildeten Teil unsers Volkes die Überzeugung vorherrscht, daß die Mittel, welche das G. für seinen nächsten Zweck, d. h. Vorbereitung seiner Schüler auf das Universitätsstudium der philologisch-historischen Richtung, aufwendet, nach Inhalt und Form zugleich für jede höhere Geistesbildung eine geeignete Grundlage bieten, während dies nicht ebenso umgekehrt von der zunächst dem Bedürfnis des höhern Handels- und Gewerbestandes angepaßten Vorbildung der Realanstalten gilt. Zur Ergänzung des Vorstehenden s. Höhere Lehranstalten, Realschulen, Realgymnasium, Humanismus etc.

Vgl. Wiese, Das höhere Schulwesen in Preußen (Berl. 1864–74, 3 Bde.); Derselbe, Verordnungen und Gesetze (2. Aufl., das. 1875); Keller, Deutsche Schulgesetzsammlung (fortgesetzt von Schillmann, das., seit 1872); Schmids „Encyklopädie des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens“ (2. Aufl., Leipz., seit 1876; fortgesetzt von Schrader); Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts (das. 1885); v. Raumer, Geschichte der Pädagogik (5. Aufl., Gütersloh 1877 ff., 4 Bde.); Thaulow, Gymnasialpädagogik (Kiel 1858); Nägelsbach, Gymnasialpädagogik (3. Aufl. von Autenrieth, Erlang. 1879); Roth, Gymnasialpädagogik (2. Aufl., Stuttg. 1874); K. Schmidt, Gymnasialpädagogik (Köthen 1857); Hirzel, Gymnasialpädagogik (Tübing. 1876); Schrader, Erziehungs- und Unterrichtslehre für Gymnasien [963] und Realschulen (4. Aufl., Berl. 1882); Derselbe, Die Verfassung der höhern Schulen (2. Aufl., das. 1881); „Statistisches Jahrbuch der höhern Schulen Deutschlands etc.“ (2. Abt. von Mushackes Deutschem Schulkalender, Leipz.). Zeitschriften: „Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen“ (Berl., seit 1859; amtlich); „Jahrbücher für Philologie und Pädagogik“ (hrsg. von Fleckeisen und Masius, Leipz., seit 1826); „Zeitschrift für das Gymnasialwesen“ (Berl., seit 1847); „Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien“ (Wien, seit 1850); „Blätter für das bayrische Gymnasialwesen“ (Münch., seit 1865); die schwebenden Fragen über G. und Realschule behandelt mehr vom Standpunkt der letztern aus das „Pädagogische Archiv“ (Stettin, seit 1859).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die geschweiften Klammern in dieser und der vorigen Zeile erklären sich so: „Da der lateinische und deutsche Unterricht in VI und V in der Regel Einem Lehrer zu übertragen ist […], so genügt es, für beide Sprachen zusammen wöchentl. 12 St. anzusetzen.“ (Ludwig Wiese: Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen, 2. Auflage, Berlin 1875, S. 37 Google).