MKL1888:Kirchmann
[783] Kirchmann, Julius von, publizistischer und philosoph. Schriftsteller, geb. 5. Nov. 1802 zu Schafstädt bei Merseburg, studierte die Rechte zu Leipzig und Halle, wurde 1828 Gerichtsassessor in Naumburg, 1834 Kriminalrichter in Halle, 1835 Gerichtsdirektor in Querfurt und 1846 erster Staatsanwalt bei dem Berliner Kriminalgericht. Seit 1848 fungierte er in gleicher Wirksamkeit bei dem Kammergericht zu Berlin und wurde hier zum Abgeordneten in die preußische Nationalversammlung gewählt. Er nahm seinen Sitz im linken Zentrum, wurde aber bald als Vizepräsident des Appellationsgerichts nach Ratibor versetzt, womit sein Mandat erlosch. Im Juli 1848 erschien er, von dem Kreis Tilsit gewählt, wieder in der Nationalversammlung und fungierte bei dem Antrag auf Steuerverweigerung als Berichterstatter. Wegen Ablehnung der Anklage gegen den Frankfurter Abgeordneten Grafen Reichenbach wurde er 1850 einem Disziplinarverfahren unterworfen; von 1856 bis 1863 beurlaubt, blieb er bis 1867 in seiner Stellung zu Ratibor. Ein Vortrag im Berliner Arbeiterverein über die Notwendigkeit der Bevölkerungseinschränkung gab, als gegen die sittlichen Prinzipien verstoßend, die Veranlassung zu seiner disziplinarischen Amtsentsetzung ohne Pension. K. lebte seitdem in Berlin, teils philosophischen Studien, teils politischer Thätigkeit als Abgeordneter zum preußischen Landtag und deutschen Reichstag sich widmend. Er starb 20. Okt. 1884. Seine schriftstellerische Thätigkeit galt ursprünglich der Jurisprudenz, in deren Kreisen das Pamphlet: „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1.–6. Aufl. Berl. 1848) besonderes Aufsehen machte. Als philosophischer Schriftsteller trat K. mit einer „Philosophie des Wissens“ (Berl. 1864, Bd. 1) sowie einer anregenden Schrift: „Über Unsterblichkeit“ (das. 1865), und einer „Ästhetik auf realistischer Grundlage“ (das. 1868, 2 Bde.) auf. Grundlage derselben ist ein Realismus, welcher im Gegensatz zum Idealismus am Realen, im Gegensatz zum Materialismus am Idealen, im Gegensatz zur Identitätsphilosophie am Unterschied zwischen Wissen und Sein festhält, zwischen welch letztern die (sinnliche) Wahrnehmung und das daran sich anschließende Denken die Brücke bilden soll. Als Herausgeber der unter dem Titel: „Philosophische Bibliothek“ seit 1868 erschienenen Sammlung der Hauptwerke der Philosophen alter und neuer Zeit hat K. Schriften von Aristoteles, Bacon, Grotius, Hume, Leibniz und Spinoza übersetzt und kommentiert und besonders eine Ausgabe der Werke Kants mit Erläuterungen (8 Bde.) veröffentlicht. Auch übersetzte er Hobbes „De cive“ (Leipz. 1873). Von seinen kleinern Schriften sind noch zu erwähnen: „Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral“ (Leipz. 1873); „Katechismus der Philosophie“ (das. 1877, 2. Aufl. 1881); „Zeitfragen und Abenteuer“ (das. 1881); „Die Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium der Philosophie“ (4. Aufl., Heidelb. 1886); mehrere Vorträge („Über die Wahrscheinlichkeit“, Leipz. 1878; „Die besondere Natur des öffentlichen Rechts“, Berl. 1881; „Über den Kommunismus in der Natur“, 3. Aufl., Leipz. 1882). Vgl. Lasson und Meineke, J. H. v. K. als Philosoph (Halle 1885).