MKL1888:Kleinkinderschulen
[828] Kleinkinderschulen (Kinderbewahranstalten). Die traurige Lage der kleinen Kinder, deren Eltern ihrem täglichen Broterwerb den Tag über außer dem Haus nachgehen müssen, hat schon seit langer Zeit zu vereinzelten wohlthätigen Veranstaltungen geführt, durch welche solchen Kindern Aufsicht und Pflege während des Tags gewährt werden sollte. In größerer Anzahl traten, wie es scheint, derartige Anstalten zuerst im vorigen Jahrhundert in Holland als sogen. Spielschulen auf. Die Einrichtung derselben empfahl dann besonders Pestalozzi (s. d.). Er bezeichnete sie als „Not- und Hilfskinderschulen für die armen Leute, die wegen des Tagelohns oder wegen ihres Frondienstes den Tag über ihre Wohnungen verschließen müssen“, oder als „Kinderhäuser, darin arme Mütter ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder bringen und den Tag über versorgen lassen können“. Gleichzeitig (1779) richtete der Pfarrer Oberlin (s. d.) im Steinthal (Elsaß), durch die Not und Verkommenheit seiner Gemeinde gedrängt, solche Anstalten ein. Er nannte sie Strickstuben und stellte sie unter Aufsicht seiner Magd Luise Scheppler, welche sich in seltener Treue 55 Jahre lang diesem Dienst widmete und den fünf Anstalten der Pfarre Waldbach im Steinthal den ihr durch das Institut von Frankreich zuerkannten Tugendpreis von 5000 Frank als Geschenk zuwandte (1829). Die Ideen Pestalozzis und Oberlins fanden manche warme Fürsprache. Den ersten namhaften Versuch zu ihrer Verwirklichung in Deutschland machte die Fürstin Pauline von Lippe zu Detmold (1802). Das Verdienst der allgemeinen Verbreitung und ersten systematischen Einrichtung der Kinderbewahranstalten gebührt den Briten. Im J. 1800 gründete der Schotte Robert Owen in seiner Fabrik zu New Lanark eine Pfleganstalt für die Kinder der Arbeiter. Für die Nachahmung des von ihm gegebenen Musters wußte Brougham seit 1818 Parlament und Publikum derart zu begeistern, daß unter der Beförderung der Infant-school Society viele Pfleganstalten entstanden. Seit 1825 etwa fanden diese Bestrebungen auch Anklang und Nachahmung in den übrigen europäischen Ländern. Mehrere ähnliche Unternehmungen, wie die des Professors Wadzeck in Berlin (1819), waren in Deutschland schon nach dem Muster der Detmolder Anstalten entstanden. Jetzt erwachte eine sehr erfreuliche Regsamkeit auf diesem Gebiet, dem gleicherweise die Regierungen wie die hervorragenden Pädagogen der Zeit (Niemeyer, Schwarz, Türk, Zerrenner, Diesterweg) ihr Interesse zuwandten. Die K. haben sich seitdem stets weiter ausgebreitet. Auch in ländlichen Verhältnissen, wo das Bedürfnis oft kaum geringer ist als in Fabrikstädten, haben sie hier und da Anklang gefunden. Die weiblichen Orden in der katholischen und die Diakonissenhäuser in der evangelischen Kirche haben auf diesem Gebiet eine rege Thätigkeit entfaltet. Wenn irgendwo, so hat diese gewiß hier ihre Berechtigung. Daß anderwärts die Bewahranstalten mit den Fröbelschen Kindergärten (s. d.) zusammengeflossen sind, verdient Anerkennung und Nachahmung, wenn auch von Haus aus die Aufgaben beider nicht völlig zusammenfallen. Die Einrichtung der Bewahranstalten ergibt sich der Hauptsache nach aus ihrer Aufgabe; im einzelnen müssen die örtlichen Verhältnisse entscheiden. – Eine Abart der K. sind die sogen. Krippen (crèches) oder Warteschulen, in welchen während der Arbeitstage noch der Wartung bedürftige Kinder Aufnahme finden, während die Pfleganstalten sonst etwa dreijähriges Alter und die Fähigkeit zu gehen zur Aufnahme verlangen. Sie wurden von F. Marbeau (s. d.) in Paris (1844) begründet und durch K. F. v. Savigny in Berlin eingeführt, von wo aus sie sich ebenfalls weit in Deutschland verbreitet haben. Vgl. Marbeau, Crèches pour les petits enfants des ouvrières (7. Aufl., Par. 1873); J. F. Ranke, Die Gründung, Unterhaltung und Leitung von Krippen, Bewahranstalten und K. (7. Aufl., Elberf. 1886).