MKL1888:Kleinrussische Sprache und Litteratur

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kleinrussische Sprache und Litteratur“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 829831
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Kleinrussische Sprache und Litteratur. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 829–831. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kleinrussische_Sprache_und_Litteratur (Version vom 11.09.2022)

[829] Kleinrussische Sprache und Litteratur. Wie die Kleinrussen (Reußen, in Galizien Ruthenen genannt) einen von den Großrussen verschiedenen Volksstamm bilden (s. Russen), so sprechen sie auch ihre besondere Sprache, die mit dem eigentlichen Russischen (Großrussischen) zwar nahe verwandt ist, aber sich doch als selbständige Mundart neben demselben behauptet (s. Russische Sprache), und haben in derselben eine eigne Litteratur ausgebildet. Ein charakteristischer Unterschied zwischen beiden Sprachen besteht unter anderm darin, daß das Kleinrussische durchgehends h setzt, wo das Großrussische g gebraucht, z. B. horod, „Stadt“ (großruss. gorod), ebenso i statt ě, z. B. hrich, „Sünde“ (großruss. grěch). Das Kleinrussische zerfällt selbst wieder in zahlreiche Dialekte, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen: 1) die südkleinrussische oder ukrainische Gruppe, in den Gouvernements Charkow, Poltawa, Jekaterinoslaw, Kiew, in den östlichen Teilen von Wolhynien und Podolien, in Tschernigow, Woronesh, Kursk, in Cherson und am Asowschen Meer; 2) die nordkleinrussische oder Mundart von Polesje, in den Gouvernements Minsk und Grodno, in Teilen von Wolhynien, Kiew und Tschernigow; 3) die rotrussische oder ruthenische Gruppe, im westlichen Teil von Podolien und Wolhynien, in Galizien und Ungarn. Grammatiken der kleinrussischen Sprache lieferten unter andern Pavlowskij (Petersb. 1818) und Osadca („Grammatika ruskoho jazyka“, 3. Aufl., Lemb. 1876); ein deutsch-kleinrussisches Lexikon gab A. Partyckij (1867), ein kleinrussisch-deutsches neuerdings Zelechowskij (das. 1882–86) heraus.

Die Litteratur der Kleinrussen fällt in ihrer ersten Periode, die vom 11. bis 14. Jahrh. reicht, mit der ältesten Periode der russischen Litteratur überhaupt zusammen. Sie hatte, beeinflußt von der mit dem Christentum (seit 988) eingedrungenen byzantinischen Kultur, zunächst einen kirchlichen Charakter, und die Schriftsprache war infolgedessen auch das Kirchenslawische oder Altbulgarische, wobei auch mitunter Wortformen und Wendungen aus der kleinrussischen Volkssprache aufgenommen wurden. Unter den Werken des 11. Jahrh. ragt die „Prawda ruskaja“ hervor, ein Denkmal des reußischen Kriminal- und Zivilrechts, die altherkömmlichen gesetzlichen Bestimmungen enthaltend, welche die Häupter der einzelnen slawischen Föderativstämme, die den reußischen Staat zusammensetzten, vereinbart hatten. Aus dem 12. Jahrh., in dem sich das geistige Leben des Volkes ziemlich vielseitig entwickelte, stammt die älteste reußische Chronik, die gewöhnlich Nestor, einem Mönch des Höhlenklosters zu Kiew, beigelegt wird; noch wichtiger ist das „Lied vom Heereszug Igors“, die Schöpfung eines hochbegabten Dichters, der die Vorbilder der Nationalpoesie mit Glück und Erfolg ausgebeutet hat (s. Igor). Indes gaben um die Mitte des 13. Jahrh. die Einfälle der Mongolen der Entwickelung des intellektuellen und politischen Lebens im jetzigen Südrußland den Todesstoß; zu erwähnen aus dieser Zeit ist nur die Wolhynisch-Haliczer Chronik, die durch poetische Färbung der Sprache sowie durch lebhafte Schilderung der geschichtlichen Ereignisse ausgezeichnet ist.

Eine neue Periode der kleinrussischen Litteratur wurde durch die politische Trennung Südrußlands von Nord- oder Großrußland herbeigeführt, welche dem ganzen geistigen Leben des Volkes eine andre Richtung gab. Schon im Beginn des 14. Jahrh. hatte die Eroberung des südwestlichen Rußland durch die litauischen Fürsten begonnen (Eroberung Kiews 1321), und wenige Jahrzehnte später (1386, unter den Jagellonen) erfolgte die Vereinigung des Fürstentums Litauen mit dem Königreich Polen, die drei Jahrhunderte, bis zur Rückgabe Kiews an Moskau (1686), dauerte. Während dieses Zeitraums erhielt die polnische Kultur einen vorwiegenden Einfluß auf die Weiterentwickelung der kleinrussischen Litteratur. Die Wiedergeburt der klassischen Studien sowie die deutsche Reformation übten insofern eine Einwirkung auf das südwestliche Rußland, als daselbst Bibelübersetzungen und grammatisch-lexikalische Schriften unternommen wurden. Um die reinere Lehre zu verbreiten, unternahm Franz Skoryna aus Polozk eine Übersetzung der Bibel aus der Vulgata in ein kleinrussisches Idiom, das ein Gemisch des weißrussischen Dialekts mit kirchenslawischen Formen und Konstruktionen darstellt, und ließ einzelne Bücher derselben (1517–19) in Prag, andre zu Wilna (1525–28) drucken. Auf dem Gebiet des Sprachstudiums ist das Lexikon von Laurentius Zizanij-Tustanowskij (Wilna 1596) hervorzuheben, worin kirchenslawische Wörter mittels kleinrussischer Ausdrücke und Redeweisen erklärt werden. Unter den übrigen litterarischen Produkten des 16. Jahrh. ist das litauische Statut („Statut lytowskij“) von großer Wichtigkeit, ein Gesetzbuch, das von den polnischen Königen zu gunsten des mit Litauen vereinigten südwestlichen Rußland bewilligt ward und, in drei Redaktionen (1529, 1566, 1588) abgefaßt, lange Zeit hindurch (bis 1783) Rechtskraft behielt. Weil aber die Aufklärung des Volkes im 16. Jahrh. von der Geistlichkeit vernachlässigt wurde, so übernahmen kirchliche Laienbrüderschaften die Pflege des Schulwesens. Zuerst befaßten sie sich mit den Werken christlicher Liebe; demnächst erwarben sie die Befugnis, Schulen und [830] Buchdruckereien zu gründen sowie eine Art Gerichtsbarkeit über die pflichtvergessene Geistlichkeit auszuüben. Infolge ihrer Fürsorge entstanden Schulen in Ostrog, Lwow (Lemberg), Wilna, Kiew, Brest, Minsk und in andern Städten. Einen Aufschwung erhielt jedoch das geistige Leben in Kleinrußland erst, als der kiewsche Metropolit Peter Mohyla (Mogila, 1632) ein höheres Lehrinstitut, das sogen. Kollegium, nach dem Vorbild der Krakauer Akademie mit lateinischer Unterrichtssprache errichtete und damit die westeuropäische Kultur in Kiew einführte. Namentlich hielt man im Kollegium die mittelalterliche scholastische Gelehrsamkeit in hohen Ehren, weil man durch sie die jesuitische Propaganda in Südrußland erfolgreich zu bekämpfen hoffte. Unter den Schriftstellern, welche diese neue Richtung verfolgten, ist besonders Joannicius Galatowskij zu nennen, der nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch gegen Juden, Mohammedaner, Heiden und fast sämtliche Häretiker mit der Feder zu Felde zog. Kiewsche Gelehrte, wie Epiphanius Slawyneckij, Demetrius Rostowskij u. a., haben hierauf die abendländische Kultur in das Großfürstentum Moskau verpflanzt, welches bisher in starrer Abgeschlossenheit verharrte und sich von jeglichen Neuerungen im Kirchen- und Staatsleben fern hielt. Der Einfluß der abendländischen Geistesrichtung zeigte sich auch bald in der Abfassung von dramatischen Mysterien und Krippenliedern. Gleichwohl erhielten die Mysterien im sogen. Intermezzo eine nationale Färbung, und die dramatisierten Krippenlieder lehnten sich nach und nach an die Weise der Volkspoesie an. Ein weiteres Kennzeichen dieser damals aufkommenden Bildung und Gelehrsamkeit ist darin zu erblicken, daß einige schriftgelehrte Kosaken geschichtliche Annalen vom Standpunkt des kleinrussischen Patriotismus verfaßten. So schrieb zunächst im 17. Jahrh. ein Anonymus, der sich Samowydec („Augenzeuge“) nannte, Annalen über Chmelnizkijs Befreiungskrieg sowie über die Fehden, welche in Kleinrußland nach dessen Tod fortdauerten. Im Anfang des 18. Jahrh. beschrieben ebenfalls zwei Kosaken, Gregor Hrabjanka und Samuel Welyczko (Veličko), dieselben Kriege. Dennoch konnte sich weder in den mit Rußland vereinigten noch in den bei Polen verbliebenen Gebieten Kleinrußlands die heimatliche Litteratur frei entwickeln. Russisch und Polnisch waren die einzig berechtigten Sprachen, nur ihrer durfte man sich während des 18. Jahrh. in der Schrift bedienen. Die 20 Millionen betragende Seelenzahl der Kleinrussen wurde von Staats wegen zum geistigen Tod verurteilt, und demzufolge war die kleinrussische Sprache nur ein Gemeingut des in Leibeigenschaft schmachtenden gemeinen Volkes.

Dieser Zustand dauerte, bis Ende des 18. Jahrh. die gegenwärtige dritte Periode der Litteratur begann, die mit der allgemeinen Wiederbelebung des Slawentums und dem Aufkommen der Volkslitteraturen zusammenfällt. Iwan Kotlarewskij (1769 bis 1838) war es, welcher die schöne, wohlklingende Volkssprache der Ukraine zur Schriftsprache zu erheben wagte. Er schrieb die travestierte „Äneide“ und zwei dramatische Sittenbilder: „Natalka Poltawka“ („Natalie von Poltawa“) und „Moskal czariwnyk“ („Der Soldat als Zauberer“). Nächst ihm förderte die Hebung des tief gesunkenen Volkes der geniale Gregor Kwitka, pseudonym Osnowjanenko (1778 bis 1843). Er schilderte in seinen 14 Erzählungen, unter denen namentlich der Roman „Marusja“ ausgezeichnet ist, das Naturleben der Landbewohner, eine den höhern Ständen unbekannte ideale Welt. Seiner Richtung gehört auch Marko Wowczok (Pseudonym der Marie Markowycz) an. Während die genannten Schriftsteller durch populäre Schilderung der sozialen Zustände ihre Landsleute moralisch zu heben trachteten, feierte der größte kleinrussische Dichter, Taras Szewczenko (Schewtschenko, 1814–61), als abgesagter Feind der Tyrannei und des Despotismus Freiheit und Aufklärung auf nationaler Grundlage und verfocht die erhabensten Ideen der Vaterlandsliebe. Demnächst erschien eine ganze Reihe namhafter Schriftsteller, unter denen der Dichter und Geschichtschreiber Kulisz (geb. 1819) und die Novellisten Iwan Lewickij (geb. 1838) und Al. Koniskij (geb. 1836) den ersten Rang einnehmen. Doch diese seit 1860 beginnende segensreiche Wirksamkeit zu gunsten der vaterländischen Aufklärung in Kleinrußland wurde von der russischen Regierung kraft einer kaiserlichen Verordnung (Mai 1876) gewaltsam niedergeschlagen und streng untersagt; somit ist gegenwärtig die Weiterentwickelung der kleinrussischen Litteratur auf Galizien angewiesen. Hier behauptet Marcìan Szaszkewycz (Schaschkewitsch, 1811–43) im litterarischen Leben dieselbe Stellung, welche Iwan Kotlarewskij in der Ukraine eingenommen hat. Im Verein mit Jak. Holowackij (Golowatzkij) und Iwan Wahylewycz (Wagilewitsch) gab er in Ofen (1837) den ruthenischen Almanach „Rusalka Dnistrowaja“ heraus und erhob hierdurch die Volkssprache zur Schriftsprache. Die begeisterten lyrischen Dichtungen Szaszkewyczs verklangen in Galizien zunächst spurlos, bis 1848 das Aufkommen des Nationalitätprinzips in Österreich auch das Aufleben der ruthenischen Litteratur veranlaßte. Es zeichneten sich Nikolaus Ustyjanowycz (1811–85) als lyrischer und Anton Mohylnyckij (Mogilnitzkij, 1811–73) als epischer Dichter („Skyt Manjawskij“) aus. Auch Prosaschriftsteller in verschiedenen Fächern der Wissenschaft sowie in der Belletristik traten auf. So hat Isidor Szaranewycz auf dem Gebiet der vaterländischen Geschichte viele gediegene Quellenstudien geliefert, A. Barwinskij eine Reihe von populären Geschichtswerken, I. Werchratskij, der außerdem Dichter und Kenner des kleinrussischen Sprachschatzes ist, mehrere naturgeschichtliche Werke und Aufsätze. E. Partyckij hat sich namentlich durch Herausgabe der litterarischen Zeitschrift „Zorja“ (1880–85) verdient gemacht; nebenbei war er, wie auch Eugen Zelechowskij, als Lexikograph thätig (s. oben). Basil Ilnyckij schrieb Novellen und populäre geschichtliche Erzählungen, Kornilo Ustyjanowycz (geb. 1840) schöne epische und dramatische Gedichte, Gregor Hryhorjewycz (Ceglińskij) gute Lustspiele. Zur Förderung der Volksaufklärung trägt viel der 1868 gestiftete Verein Proświta bei, seit 1877 unter Leitung E. Ogonowskijs, der außer mehreren populären Schriften auch wissenschaftliche Werke, namentlich einen Kommentar zum „Igorlied“ (1876) und Studien über ruthenische Sprache, veröffentlicht hat. – In der von Rumänen stark durchsetzten Bukowina traten zwei Dichter auf: Joseph Fedkowycz (Fedkowitsch) und Danilo Mlaka (Isidor Worobkewycz). Des erstern zwischen 1860 und 1862 geschriebene Gedichte zeichnen sich durch hohen poetischen Schwung sowie durch kraftvolle Sprache aus; seine Novellen sind originell und volkstümlich.

Die reiche und anziehende kleinrussische Volkspoesie ist heute Gegenstand einer allgemeinen Bewunderung. Zu den ältesten Produkten derselben gehören die sogen. Weihnachtslieder (koladky), in denen [831] häufig Reminiszenzen an den ehemaligen heidnischen Naturkultus auftauchen. Mythischen Inhalts sind unter anderm die Frühlingslieder (hahilky), welche ursprünglich die Auferstehungsfeier der Sonne als Gottheit zum Gegenstand hatten und gegenwärtig am Festtag der Auferstehung Christi gesungen werden. Die schönsten Schöpfungen aber der kleinrussischen Volksphantasie sind unbestritten die Lieder, welche den häuslichen Herd besingen, und die Liebeslieder. Die historischen Lieder (dumy) stammen zumeist aus dem Heldenzeitalter der Kosaken und sind von so hohem poetischen Werte, daß sie auf dem Gebiet der slawischen Volkspoesie nur den serbischen Heldenliedern an plastischer Kraft der Darstellung nachstehen. Außer diesen Liedern gibt es noch einen großen Schatz von Märchen, Sprichwörtern und Sagen, welch letztere ein sehr altertümliches Gepräge haben und häufig mythische Zustände einer fernen Epoche schildern. Größere Sammlungen von Volksliedern lieferten Waclaw z Oleska (Lemb. 1833), Zegota Pauli (das. 1839 bis 1840, 2 Bde.), Golowatzkij (Mosk. 1878, 4 Bde.), Antonovič und Dragomanow (Kiew 1874, 2 Bde.). Eine Sammlung von Märchen veröffentlichte Rudčenko (Kiew 1869–70, 2 Bde.). Vgl. Pypin und Spasovič, Geschichte der slawischen Litteraturen, Bd. 1 (deutsch, Leipz. 1880).