MKL1888:Leichenhaus

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Leichenhaus“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 650651
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Leichenhaus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 650–651. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Leichenhaus (Version vom 20.03.2023)

[650] Leichenhaus (Totenhaus, Totenhalle, Leichenhalle), ein öffentliches Gebäude, welches der Aufbewahrung Gestorbener bis zu deren Bestattung dient. [651] Der Einführung solcher Anstalten gab ursprünglich die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden, welche unter Laien und Ärzten am Ende des vorigen Jahrhunderts noch ziemlich verbreitet war, den wirksamen Anstoß. Das erste L. wurde 1792 auf Hufelands Anregung in Weimar erbaut und mit allerlei Maßregeln zur Erkennung des Scheintodes ausgestattet. Nachdem nunmehr nebst vielem andern Aberglauben auch die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden bei allen Gebildeten endgültig beseitigt ist, da in etwa für Laien zweifelhaften Fällen jeder Arzt mit vollkommenster Sicherheit die Zeichen des eingetretenen Todes zu beurteilen versteht (aus dem Erscheinen der Totenflecke etc.; vgl. Totenschau), so ist dieser ursprüngliche Zweck der Leichenhäuser hinfällig geworden. Statt dessen legt aber die moderne Gesundheitspflege ein wissenschaftlich begründetes Gewicht für die Beschaffung von Leichenhäusern in die Wagschale, da 1) die Aufstellung jeder Leiche bis zur abgelaufenen dreitägigen Beerdigungsfrist die Luft im Wohnzimmer verdirbt und um so schlimmer wirkt, je enger und niedriger die Wohnräume sind, und da 2) bei ansteckenden Krankheiten auch durch die bereits Gestorbenen der Ansteckungsstoff weiter verbreitet werden kann. Daher ist es unter allen Umständen bedenklich, Leichen im Wohnhaus aufzubahren; diese Bedenklichkeit wächst aber zur drohenden Gefahr für die Überlebenden, wenn die Wohnräume an sich eng sind oder der Tote an einer epidemischen Seuche gestorben ist. Für die Cholera ist diese Gefahr längst bekannt, ihr ist auch in allen großen Epidemien Rechnung getragen worden; allein mit der fortschreitenden Erkenntnis der Krankheitsursachen sollte auch die Wachsamkeit der Behörden betreffs der andern kontagiösen Krankheiten, namentlich der Diphtheritis, Scharlach, Masern, Pocken, Fleckenfieber u. a., sich zu gleicher Strenge in den Vorbeugungsmaßregeln steigern. Wie sehr hier der pietätvolle Unverstand sündigt, ist nur dem erfahrenen Arzt bekannt, der es oft beobachtet, wie trotz des sicher konstatierten Todes Eltern sich nicht von der Leiche ihres Kindes trennen wollen und so die brennende Gefahr der Ansteckung für die bis dahin gesunden Kinder weit über die unvermeidliche Gebühr verlängern. Nicht jeder kleine Ort bedarf großartiger Häuser zur Unterbringung und Ausstellung von Leichen, aber jedes Dorf sollte auf seinem Kirchhof eine kleine Halle besitzen, in welcher Verstorbene sofort nach Feststellung des Todes unterzubringen wären, und jede Stadt sollte ein L. unterhalten, in welchem außer zur Aufbewahrung gleichzeitig Gelegenheit zu einer wissenschaftlichen Obduktion gegeben wäre.