MKL1888:Marathen
[216] Marathen (Maratha, Mahratten), Volk in Britisch-Indien, welches die Gegenden östlich von den Westghats, von der Tapti im N. bis zum Oberlauf der Kistna im S. und westlich bis zu den Grenzen der Besitzungen des Nizam von Haidarabad bewohnt, also außer dem letztgenannten Staat vornehmlich Indor und den mittlern Teil der Präsidentschaft Bombay. Die ethnologische Stellung der M. läßt sich mit Sicherheit nicht bestimmen; nach ihrer Sprache (s. Marathi) und Überlieferung sind sie Arier, nach ihrem Äußern aber weit mehr Drawida (s. d.); jedenfalls hat sich hier eine Mischung vollzogen. Die Traditionen der M. vermögen uns über diesen Punkt nicht aufzuklären. Frühzeitig zum Brahmanismus bekehrt, betrachten sie sich selber als zu den Hindu gehörig und haben keine andern Überlieferungen als die Mythenbildungen der Brahmanen. Indessen beweist die niedrige Stellung, welche den M. in der Hierarchie der indischen Kasten angewiesen ist, zur Genüge, daß sie zu den Bekehrten oder Unterworfenen gehören. Dennoch kann die Herrschaft der Arier nur eine nominelle gewesen sein; sie erhoben zwar Abgaben, rührten aber nicht an der politischen Organisation der M., die eine durchaus republikanische, also von dem arischen Staatssystem völlig verschiedene war, und die auch unter der britischen Regierung bestehen geblieben ist. Das Land hatte keine einheitliche Regierung, bestand vielmehr aus einer Kollektivgenossenschaft von Gemeinden, regiert von erwählten Oberhäuptern (Patel) und einer Gemeindeversammlung (Pantschajet). Man hat danach die M. auch für Dschat angesehen, beeinflußt durch eine längere Berührung mit Ariern, Bhil, Drawida. Wie jene haben sie trotz aller Wandlungen ihre politischen Institutionen aufrecht zu erhalten gewußt, das Joch der Eroberer abgeschüttelt, das Mongolenreich gestürzt und die Macht der Radschputen gebrochen. [217] Die M. sind heute Ackerbauer und fallen mit der Kaste der Kunbi zusammen, sind also Sudra. Ihrem Äußern nach sind sie von mittlerer Statur, durchschnittlich 1,6 m groß, mit mehr drawidischer Gesichtsformation, massig hervortretenden Backenknochen, kleinen Augen und oftmals aufgestülpter Nase, brauner Hautfarbe in vielen Schattierungen; die sehr kleinen Frauen sind besonders hell, aber keineswegs schön. Die M. sind stärker gebaut als die Bewohner Nordindiens, von großer Ausdauer und haben daher immer gute Soldaten abgegeben. Von großem Unabhängigkeitssinn beseelt, haben sie sich immer thatkräftig, aber wenig verlegen in der Wahl der Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke gezeigt. Die Zahl aller M. beträgt, wenn man die Sprache, das Marathi (s. d.), zur Richtschnur nimmt, nach dem Zensus von 1881: 16,966,665 Seelen, wovon 9 Mill. auf die Präsidentschaft Bombay, über 3 Mill. auf Haidarabad und etwa je 2 Mill. auf Berar und die Zentralprovinzen kommen. – In der Geschichte werden die M. zuerst 640 v. Chr. genannt; unter König Asoka (246 v. Chr.) machte ihre Bekehrung zum Buddhismus große Fortschritte, ihre Unabhängigkeit verloren sie aber seit den ersten mohammedanischen Einfällen (1294) mehr und mehr. Indes konnte die Herrschaft der Mogulkaiser nie fest unter ihnen aufgerichtet werden, und 1648 schüttelten sie unter Siwadschis Führung das Joch völlig ab und begannen ihre Eroberungszüge. Allein innere Zwistigkeiten untergruben bald die Macht der M., und als 1714 die Würde des Vorstandes (Peischwa) in einer Familie erblich wurde, führte deren Herrschsucht zum Bürgerkrieg. Die unglückliche Schlacht von Panipat gegen Ahmed Schah 6. Jan. 1761, in welcher 200,000 M. fielen, gab der Macht des Peischwa einen Stoß, von dem sie sich nie wieder erholte. Fortan waren es einzelne Große, welche gesondert die Führung übernahmen, und als in den Kriegen gegen die Ostindische Kompanie die M. 1818 endlich politisch gänzlich vernichtet waren, blieben als Trümmer des alten Reichs nur die von M. regierten Vasallenstaaten Baroda, Gwalior, Indor und einige kleinere übrig.