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MKL1888:Mittelalter

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Mittelalter“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 689690
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Mittelalter. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 689–690. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Mittelalter (Version vom 11.09.2024)

[689] Mittelalter (lat. Medium aevum, franz. Moyen-âge, engl. Middle-age), der große Zeitraum der Geschichte, welcher zwischen dem klassischen Altertum und der neuern Zeit liegt, und dessen Dauer vom Untergang des weströmischen Reichs (476) oder schon vom Beginn der Völkerwanderung (375) an bis zur Entdeckung von Amerika (1492), wohl auch bis zum Beginn der deutschen Reformation (1517) angenommen wird. Der Name M. ist als die Bezeichnung einer Übergangsperiode von der antiken Welt mit ihrer großartigen geistigen Kultur und der Schöpfung des römischen Weltreichs zu der modernen Kultur und dem jetzigen Staatensystem aufzufassen. Als allgemeines geschichtliches Merkmal des Mittelalters tritt uns zunächst die beginnende Entwickelung der Germanen und Slawen in Europa und der morgenländischen Völkerstämme in Asien und Afrika auf den Trümmern der römischen Macht vor Augen, dort unter dem Geleit des Christentums, hier des Islam, die an die Stelle des untergehenden Heidentums treten. Die Geschichte der Menschheit erweitert ihren Schauplatz nach Norden und Osten, verlegt aber zugleich ihren Schwerpunkt, indem nach wechselvollen Kämpfen schließlich der Orient dem religiös-kriegerischen Despotismus der Osmanen erlag, welcher alles geistige und materielle Leben ertötete, während im Westen, im Abendland, unter dem Einfluß des Christentums und der erwachenden antiken Kultur aus der romanisierten alten Bevölkerung und den frischen Kernvölkern der Germanen neue Nationen sich bildeten und eine neue Bildung erwuchs. Dies Eintreten der Germanen in die Geschichte und die Verschmelzung ihres Volkstums mit den vorgefundenen Formen des Lebens zu neuen [690] Schöpfungen nimmt vorzugsweise unser Interesse in Anspruch. In den einzelnen Perioden des Mittelalters treten verschiedene eigentümliche Richtungen hervor. Die erste Periode, von dem Umsturz des weströmischen Reichs bis zur Teilung der fränkischen Monarchie (843), zeigt uns noch den gewaltigen Kampf zwischen den alten römischen und den neuen germanischen Elementen des Lebens, aber auch bereits die Anfänge des mittelalterlichen Staatswesens. Die zwei größten Bildungen, welche hieraus hervorgegangen, sind das Kaisertum mit dem damit zusammenhängenden Lehnswesen und das Papsttum mit seiner vielgegliederten, mächtigen Hierarchie. Beide Bildungen gingen von der Idee politischer und kirchlicher Einheit aus. Die bald folgenden Übergriffe der Hierarchie in das Gebiet des Staats führten aber zu langen, heftigen Kämpfen zwischen Kaisertum und Papsttum, welche den ganzen zweiten Zeitraum (bis gegen das Ende des 13. Jahrh.) ausfüllen. In diese zweite Periode fallen die bedeutendsten Gestaltungen des mittelalterlichen Lebens. Aus der Umgestaltung des Heerwesens bildete sich das Ritterwesen, dessen Blüte in die Zeit der Kreuzzüge, eine der eigentümlichsten Erscheinungen des Mittelalters, fällt. Schiffahrt und Handel erhielten durch die Kreuzzüge neuen Aufschwung. Der Reichtum, welcher dadurch in die Städte floß, erhöhte das Selbstgefühl der Bürger, und während dieselben den Bedrückungen der Ritter entgegentraten, erwachte in ihnen, zuerst in den lombardischen, das Streben nach größerer Freiheit und Selbständigkeit. So trat in den Städten ein bedeutsames Element neben die feudalistische Aristokratie, und es entstand ein gewisses Gleichgewicht der Gewalt und der Macht zwischen Königtum, Aristokratie und Volk, welch letzteres indes fast ausschließlich durch die Städte repräsentiert wurde. In den letztern herrschte aber ebenfalls noch das aristokratische Element vor, und nur sehr allmählich errangen sich die Zünfte eine Stimme in den städtischen Angelegenheiten. Es entstanden Städtebündnisse (Hansa), Landfriedensgesetze und Femgerichte. Mit der fortschreitenden Bildung des Zeitalters begann auch die Kultur der Nationalsprachen, und namentlich wandte sich das Rittertum der Poesie und dem Gesang (Troubadoure, Minnesänger) zu. Zugleich entstand eine neue bildende Kunst; namentlich war es die Baukunst, welche am Ausgang dieses Zeitraums in ihrer schönsten Blüte stand. Die geistige Thätigkeit auf den Gebieten der Religion, Geschichte, Philosophie (Scholastik) der Naturkunde und Mathematik war auf die Geistlichkeit, namentlich einige Mönchsorden, beschränkt. Alle freiern Regungen unter dem Volk wurden dagegen von der Hierarchie unterdrückt (Inquisition). In der dritten Periode, bis zu Ende des 15. oder zu Anfang des 16. Jahrh., bildeten sich die Nationen als selbständige Individualitäten und ständische Staatsformen zu höherer und allgemeiner Freiheit aus, und es begann, wie in Frankreich, über den Gegensatz zwischen Aristokratie und Ständen das autokratische Königtum sich zu erheben. Im allgemeinen sank der überwiegende Einfluß der feudalistischen Aristokratie, und der Bürgerstand trat in den Vordergrund. Aus den alten Gewohnheitsrechten entstanden allmählich geschriebene Gesetzbücher, wie der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel, und mit dem Eindringen des römischen Rechts bildete sich ein ganz neuer Rechtszustand heraus. Die Entdeckung und immer allgemeiner sich verbreitende Anwendung des Schießpulvers, die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Entdeckung von Amerika und des Seewegs nach Ostindien trugen wesentlich zu diesen Umwandlungen bei. In der Kirche aber riefen die schreienden Mißbräuche eine immer mächtiger werdende Opposition hervor, welche endlich in der Reformation ihren Gipfelpunkt fand, mit der die Neuzeit und die aus der Verschmelzung des Christentums mit dem Wesen der nordischen Völker und den Resten der alten Bildung hervorgegangene moderne Kultur beginnt. Das griechische Kaisertum kennt kein M. in dem angegebenen Sinn; im Orient läßt sich der Zeitraum bis zum Sturz des Kalifats und dem Aufkommen der Osmanen nur entfernt damit vergleichen.

Selbständige Darstellungen der Geschichte des Mittelalters schrieben unter andern Rühs (Berl. 1816), Rehm (Marb. 1820–34, 3 Bde.), Tillier (2. Aufl., Frankf. 1833), Leo (Halle 1830, 2 Bde., und in Bd. 2 seiner „Universalgeschichte“, 3. Aufl., das. 1851), Kortüm (Bern 1836, 2 Bde.), H. Rückert (Stuttg. 1853), Aßmann (2. Aufl., Braunschw. 1875–80, 2 Bde.), H. Prutz (Berl. 1885 ff.). Vgl. Chevalier, Répertoire des sources historiques du moyen-âge, Teil 1: „Bio-Bibliographie“ (Par. 1877–83, 4 Bde.); Osterley, Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters (Gotha 1883); Ebert, Allgemeine Geschichte der Litteratur im M. (Leipz. 1874–87, 3 Bde.); Reuter, Geschichte der religiösen Aufklärung im M. (Berl. 1875–77, 2 Bde.); v. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung (Stuttg. 1887); „Archiv für Litteratur und Kirchengeschichte des Mittelalters“ (hrsg. von Denifle und Ehrle, das. 1885 ff.).