MKL1888:Offenbarung
[336] Offenbarung (Revelatio), ein unentratsamer Begriff aller Theologie, sofern O. und Religion als Wechselbegriffe ein und dasselbe Verhältnis nach den beiden Seiten bezeichnen, die es der Betrachtung darbietet. Auf den untersten Stufen der religiösen Entwickelung kommt der Offenbarungsglaube in der Gestalt roher Vorstellungen von Orakeln, Traumgesichten, Vorzeichen etc. und andern schlechthin übernatürlichen göttlichen Kundgebungen an die Menschen vor. Noch das Alte Testament kennt Gottes- u. Engelerscheinungen, himmlische Stimmen, Träume und Verzückungen als vereinzelt auftretende, gegeneinander abgegrenzte Offenbarungsformen, während das Neue Testament seiner Anschauung von Christus den Begriff einer stetigen, in der Entfaltung eines normalen religiös-sittlichen Personenlebens sich vollziehenden O. zu Grunde legt. Gleichwohl eignet dem später in die kirchliche Lehre übergegangenen Begriff von O. eine einseitige Beziehung auf übernatürliche Belehrung oder übernatürliche Mitteilung übervernünftiger Wahrheiten, so daß der Begriff einer übernatürlichen O. in engste Verbindung mit dem der Inspiration (s. d.) trat und insbesondere auf die Bibellehre und das aus derselben gezogene kirchliche Dogma angewandt, von diesem aber eine sogen. natürliche O. unterschieden wurde. Den Begriff einer übernatürlichen O. bekämpften dann der Deismus, die Aufklärung und die ganze rationalistische Verstandeskritik, während ihn die Restaurationstheologie wieder in modernisierter Gestalt aufrichtete. Im außertheologischen Sprachgebrauch dagegen erhalten sich Name und Begriff der O. im Sinn einer originalen Geistesthat, einer genialen Entdeckung, besonders auch einer schöpferischen Idee auf künstlerischem Gebiet.