MKL1888:Pädagōgik

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Pädagōgik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 597601
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Pädagōgik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 597–601. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:P%C3%A4dag%C5%8Dgik (Version vom 21.03.2022)

[597] Pädagōgik (griech.), der Wortbedeutung nach die „Kunst oder Wissenschaft des Pädagogen (s. d.), d. h. der Knabenführung“, „Knabenerziehung“; nach dem jetzt gewöhnlichen Sinn des Worts die gesamte Erziehungslehre, [598] d. h. die Theorie der Erziehung und zumal des Unterrichts als des wichtigsten Mittels der Erziehung (s. d.). Von einer Theorie der Erziehung oder Erziehungswissenschaft kann erst bei höherer Kulturentwickelung in einem Volk die Rede sein. Mittelbar kommt das Erziehungs- und Unterrichtswesen aller Völker für die Geschichte der P. in Betracht, die sich, wie jede Wissenschaft, auf dem Grunde der Erfahrung aufbauen muß. Wirklich vorhanden ist die P. als Wissenschaft aber erst seit der Blütezeit der griechischen Philosophie. In Griechenland waren durch die dorische und die ionische Stammessitte (jene durch die Lykurgische, diese durch die Solonische Verfassung zur Reife entwickelt und festgestellt) wie durch die herrliche Begabung des hellenischen Volkes für leibliche und geistige Bildung (Gymnastik und Musik), welche in der künstlerischen Thätigkeit zusammenfließen, die empirischen Voraussetzungen der P. in der glücklichsten Weise gegeben. Auf dorischer Grundlage erwuchsen die ersten Ansätze dieser Wissenschaft in den Lebensregeln des Pythagoreischen Bundes, in dem es sich indes mehr um Einwirkung älterer Männer auf jüngere als um eigentliche Erziehung der Kinder handelte. Tiefer und nachhaltiger war auch auf diesem Gebiet der Einfluß des Sokrates, dessen gesamte Philosophie ein pädagogisches Gepräge hat, indem sie, an die griechische Sitte der Knabenliebe anknüpfend, das sinnliche Verhältnis des Liebhabers zum Geliebten zur Seelenleitung und zum gemeinsamen Streben nach wahrer Weisheit veredelt. Indem er die Weisheit als die erste Tugend und daher die Tugend für lehrbar erklärt, wird ihm die Erziehung, d. h. die Führung der Jugend zur Weisheit und Selbsterkenntnis, eine sittlich notwendige Lebensaufgabe. Daneben verdankt ihm die Unterrichtskunst die Methode, welche noch heute unter dem Namen der Sokratischen einen bedeutenden Platz in unsrer Didaktik einnimmt. Es ist dies die heuristische, entwickelnde Art des Unterrichts, bei welcher der Zögling durch geschickte Fragen auf induktivem Weg zur selbständigen Erkenntnis angeleitet wird. Sokrates selbst nannte sie, nach dem Geschäft seiner Mutter, geistige Hebammenkunst (Mäeutik). In verschiedener Weise bauen auf diese Grundlage die beiden großen Nachfolger des Sokrates, Platon und Aristoteles, fort. Die P. bildet bei ihnen einen Teil der Politik oder Staatslehre. Platon knüpft an die dorische Sitte an, doch führt ihn sein Idealismus weit über diese hinaus. Das wahrhaft Gute, zu dem die Jugend angeleitet werden soll, fällt ihm zusammen mit dem Schönen; Harmonie zwischen Leib und Seele wie zwischen den einzelnen Seelenkräften ist ihm das Ziel der Erziehung. Diese denkt er sich so ausschließlich als öffentliche und gemeinsame, daß die Kinder wenigstens der obern, für den Staat besonders wichtigen Stände der Krieger und der Philosophen, womöglich ihre leiblichen Eltern nicht kennen sollen. Für die ersten drei Jahre verlangt er vor allem leibliche Pflege, vom 3.–6. Jahr tritt Mythenerzählung, vom 7.–10. gymnastische Übung, vom 11.–13. Lesen und Schreiben, vom 14.–16. Dichtkunst und Musik, vom 16.–18. Mathematik, vom 18.–20. kriegerische Übung in den Vordergrund. Die Krieger schließen damit ab, die Herrscher oder Philosophen dagegen verwenden noch fernere zehn Jahre auf das tiefere Studium der Wissenschaften. Aristoteles, der besonnene realistische Forscher, entfernt sich minder als Platon von dem gebahnten Weg der griechischen, zumal der athenischen, Weise der Erziehung. Er verlangt eine doppelte Erziehung: durch Gewöhnung zu den ethischen (Gemüts-), durch Belehrung zu den dianoetischen (Vernunft-) Tugenden. Die Tugend und die durch sie bedingte Glückseligkeit bilden das Ziel, Grammatik und Gymnastik, Musik und Zeichenkunst die wichtigsten Mittel der Erziehung, der aber vor allem auch der Kunstgenuß durch reinigende Entladung der Affekte dienen soll. In der Zeit nach Aristoteles überwog immer mehr die encyklopädische, wissenschaftliche Belehrung gegen die Pflege der Tugend, und die Erziehung nahm eine einseitig rhetorische Färbung an. Bei den Stoikern trat daneben der Gedanke einer allgemein menschlichen Erziehung in den Vordergrund, während bis dahin der national griechische Gesichtspunkt der herrschende gewesen war. In dieser Gestalt wurde die P. der Griechen nach Rom übertragen, das bis dahin manches leuchtende Beispiel patriarchalischer, sittenstrenger Erziehung, aber keine systematische P. aufgestellt hatte. Auch die P., welche sich in Rom unter dem Einfluß der griechischen Bildung allmählich herausbildete (Cicero, Quintilian), übertrifft die griechische nur in der praktischen Anbequemung an die Bedürfnisse des öffentlichen Lebens, zumal in der Schulung des künftigen Redners, erreicht sie aber nicht in der Tiefe der Grundgedanken.

Das Christentum übernahm das Interesse an der Jugenderziehung schon aus dem Alten Testament. Aber sein Stifter erhob die israelitische Grundidee des auserwählten Volkes Gottes zu dem Ideal eines Reichs Gottes, das die Auserwählten aller Völker umfassen soll. In diesem fanden die besten unter den Anhängern der alten Weisheit die von der Stoa gepflegte Idee der Einheit des Menschengeschlechts verklärt und veredelt wieder, und dies Reich Gottes bezeichnete namentlich auch das Ziel aller Erziehung, das damit in glücklichster Weise an der Grenze der sinnlichen und der geistigen, der diesseitigen und der jenseitigen Welt aufgestellt war. Ohne eine systematische P. auszubilden und im Kampf mit der Welt zu asketischer Einseitigkeit geneigt, stellte die alte Kirche im ganzen doch das Muster einer edlen, menschlichen Erziehung auf. Später verengerte sich der religiöse Gesichtskreis durch die Ausbildung der hierarchischen Kirchenverfassung und durch den Zusammensturz der alten Kultur in der Völkerwanderung. Daher der tiefe Verfall der anfänglich segensreich wirkenden Kloster- und Domschulen in äußerliche und oberflächliche Beschäftigung mit den sogen. sieben freien Künsten (artes liberales), dem weder in der weltförmigern und freiern ritterlichen Erziehung ohne tiefern Unterricht noch in den städtischen Schulen, welche in der letzten Hälfte des Mittelalters das Bedürfnis der erwerbenden Stände hervorrief, ein genügendes Gegengewicht die Wage hielt. Aus dieser Barbarei erhob sich die P. seit dem 15. Jahrh. durch die Rückkehr zu den Schriften der Alten, denen zuerst in Italien wieder tiefer eingehende Beachtung gewidmet ward. Enge Verbindung der Philologie mit der Religion ist das auszeichnende Merkmal der P. im Kreis der deutschen Humanisten und Reformatoren, ihr typischer Vertreter Philipp Melanchthon, neben ihm Joachim Camerarius und Johannes Bugenhagen, der Organisator der Kirchen und Schulen. Dem Gedanken einer allgemeinen Vorbildung, der im Mittelalter einzelnen erleuchteten Geistern, wie z. B. Karl d. Gr., vorgeschwebt hatte, trat man vom religiösen Standpunkt aus näher. Luther schuf den Boden und streute die Saat der spätern deutschen Volksschule in seiner deutschen Bibel und im Kleinen Katechismus. Doch galt das Hauptinteresse des Zeitalters [599] den gelehrten Schulen, für welche V. Friedland von Trotzendorf in Goldberg (Schlesien), Johannes Sturm in Straßburg, Michael Neander in Ilfeld u. a. Lehrbücher, Lehrpläne etc. lieferten. Der Widerspruch gegen die einseitig gelehrte Abkehr der Schule vom Leben fand den kräftigsten Ausdruck in den Franzosen Rabelais (gest. 1553), Ramus (gest. 1572), Montaigne (gest. 1592) und dem Engländer Baco von Verulam (gest. 1626), mit denen das Prinzip des Realismus in die Geschichte der P. eintrat und den Kampf gegen den bloß grammatischen Humanismus (Verbalismus) heftig aufnahm; zumal auf Baco von Verulam stützten sich die pädagogischen Neuerer Wolfg. Ratichius (Ratke, gest. 1635) und Joh. Amos Comenius (gest. 1671), welche engen Anschluß der Erziehung an den natürlichen Entwickelungsgang des Geistes, Voranstellung der bisher zu gunsten des Lateinischen verstoßenen Muttersprache, Begründung des Sprachunterrichts auf Beispiele und Ausgehen von der sachlichen Anschauung, nicht vom Namen und Wort, für allen Unterricht verlangten. Nüchterner als der prahlerische Ratke und der prophetisch tiefsinnige Comenius wirkte in gleicher Richtung, besonders auf die Erziehung der höhern Stände, John Locke (gest. 1704) durch seine „Gedanken von der Erziehung der Kinder“, in denen er auf verständige Körperpflege, naturgemäßen Unterricht und allseitige, praktische Vorbildung für das wirkliche Leben dringt.

Die humanistische P. hatte indes eigentümliche Fortbildung gefunden in den Schulen der Jesuiten, welche sich im 16. und 17. Jahrh. großes Ansehen zu verschaffen wußten und nicht wenig zur Wiederbefestigung des Katholizismus beitrugen. Das Studium der Sprachen und die Pflege der Religion traten bei ihnen in den Dienst des hierarchischen Prinzips. Dagegen schloß der Pietismus, jene auf innerliches Glaubensleben dringende Bewegung, die ihre nachhaltigsten Wirkungen im protestantischen Deutschland durch Spener und Francke entfaltete, fast überall einen engen Bund mit der realistischen P. Aus ihrem Kreis gingen die ersten Realschulen und Lehrerseminare hervor. Doch hat es der Pietismus zu einer folgerechten Durchführung seiner religiös-pädagogischen Grundsätze auf die Dauer nur in der Brüdergemeinde des Grafen Zinzendorf gebracht, welche das Erziehungswesen in einer höchst eigentümlichen und wirksamen Weise dem Gemeindeleben einzugliedern wußte. In die Volksschule, welche durch Pflege einsichtiger Fürsten und Geistlichen nach dem Westfälischen Frieden in manchen deutschen Gebieten einen kräftigern Aufschwung nahm, drang nur hier und da ein belebender Strahl der neuen pädagogischen Erkenntnis ein, wie z. B. in der Schulordnung („Schulmethodus“) des Herzogs Ernst von Sachsen-Gotha (gest. 1675).

Zu einer großen und für die bestehenden Verhältnisse gefahrdrohenden Macht brachten es die neuen realistischen Ideen, frei von diesem religiösen Einfluß, durch Jean Jacques Rousseau (gest. 1778). Der Unnatur der Rokokozeit gegenüber war schon hier und da das Stichwort: „Rückkehr zur Natur“ ausgegeben worden; Rousseau macht Ernst mit demselben. Eine ausführliche Darlegung seiner pädagogischen Ansichten gab er in seinem „Émile, ou de l’éducation“ (1762), einem Buch, das bei vielen Einseitigkeiten und Übertreibungen dennoch viele fruchtbare Keime birgt. Man soll sich nach Rousseau zuvörderst klar sein, ob man einen Menschen oder einen Bürger, ob man den Zögling für das Leben in der Natur oder für das Leben in der naturwidrigen Gesellschaft erziehen will. Man muß nach dem verschiedenen Alter der Kinder sie verschieden behandeln; jedes seiner Natur gemäß, damit es als Naturwesen heraufwachse und sich bilde. Die Entwickelung beschleunige man nicht, lieber schiebe man sie weiter hinaus. Die erste Erziehung ist bloß abwehrend (negativ), sie gedeiht am besten in ländlicher Stille und Einfachheit. Die natürlichen Folgen thörichter Handlungen, die er an sich und an andern beobachtet, sollen den Zögling über Recht und Unrecht belehren; die Wahrnehmung des Erfolgs im kleinen und einzelnen soll zum verständigen Handeln anspornen und ermutigen. Bestärken muß ihn darin das Beispiel des Erziehers. Aber nur keine unnatürliche Einengung der natürlichen Freiheit, die zur Lüge und zum Eigensinn führt! Was man lehren will, das darf man nicht zwangsweise aufgeben; dafür muß man vor allem Lust und Liebe erwecken. Mit dem Einsehen muß dann praktische Übung verbunden, mit der geistigen stets die körperliche Entwickelung gleichzeitig gefördert werden. Aller Unterricht gehe von der eignen Anschauung des Zöglings aus. Die Kinder sollen nichts auf Autorität annehmen. Der Religionsunterricht für Kinder ist Unnatur; vor dem Jünglingsalter lasse man den jungen Menschen nichts von Gott hören. Der Glaube der Kinder und vieler Erwachsenen ist eine Sache der Geographie; es kommt darauf an, ob sie in Rom oder in Mekka geboren sind. Rousseaus gewaltiger Einfluß machte sich rasch auch in Deutschland auf allen Lebensgebieten geltend. In der P. waren es die sogen. Philanthropen, Johann Bernhard Basedow (gest. 1790) an der Spitze, welche seine Grundsätze in Deutschland verbreiteten und ins Leben einzuführen suchten. Die Philanthropen polemisieren entschieden gegen das zu ihrer Zeit herrschende Unterrichts- und Erziehungswesen; die Unterrichtsweise der Grammatici (Philologen) charakterisieren sie als ein blindes Herumtappen ohne Weg und Ziel. Sie versprechen nicht etwa eine verbesserte Methode, da sie vielmehr behaupten, es gebe noch gar keine Methode in den Schulen; sondern Methode als etwas ganz Neues. Dieselbe soll den Zögling von der Anschauung und Erfahrung aus naturgemäß ohne allen Zwang und Gedächtniskram zur vollendeten Wissenschaft führen. Weil ihre Methode naturgemäß, sagen die Philanthropen, so lernen die Kinder freiwillig, mit Lust und Liebe; daher nach ihrer Versicherung Strafen, besonders körperliche, von selbst wegfallen. Sie berücksichtigen die Muttersprache, ja bevorzugen dieselbe und kämpfen gegen die tyrannische Herrschaft des Latein. Sie führen die Realien ein und empfehlen die Leibesübungen. Sie dringen darauf, daß nichts Unverstandenes von den Schülern angeeignet werden soll, lassen sich aber durch diesen an sich richtigen Grundsatz zu einseitiger Pflege des Verstandes (Aufklärung) auf Kosten der Phantasie und des Gemüts fortreißen. Darin, wie in ihrer Betonung der Nützlichkeit und Glückseligkeit (Eudämonismus), berühren sie sich mit der rationalistischen Richtung der damaligen Theologie, mit welcher sie auch die Vorliebe für die abstrakte Natur- oder Vernunftreligion und die verschieden abgestufte Gleichgültigkeit gegen das positive Element in der christlichen Religion gemein haben. Neben Basedow sind besonders J. H. Campe, Verfasser des deutschen „Robinson“, und Salzmann, Begründer der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal, unter den Philanthropen hervorzuheben; ferner wegen seiner Verdienste um den gymnastischen Unterricht Guts Muths. [600] Angeregt von den Philanthropen war auch der Domherr F. E. v. Rochow, der sich aber bei der berühmten Schulverbesserung auf seinem Gut Reckahn bei Brandenburg enger als jene an die wirklichen Bedürfnisse des Lebens anschloß und sich auf das Gebiet der Volksschule beschränkte. Die meisten praktischen Unternehmungen der Philanthropen (Philanthropine) waren von kurzer Dauer; die von ihnen ausgegangene Anregung auf die P. der Zeit erwies sich dagegen als sehr wirksam. Als verwandt und mehrfach verbunden mit der Richtung der Philanthropen kann die der sogen. Sokratiker bezeichnet werden, welche hauptsächlich eine zeitgemäße verständige Erteilung des Religionsunterrichts nach Sokratischer Methode anstrebten, dabei aber oft vergaßen, daß die Religion keineswegs bloß Erkenntnis Gottes ist, und daß es namentlich für Kinder weit wichtiger ist, lebhafte Eindrücke und lebendige Anschauungen von wahrer Frömmigkeit zu erhalten, als verständig und aufgeklärt über Gott und göttliche Dinge zu urteilen. Aus diesem Kreise sind J. L. v. Mosheim (gest. 1755), G. F. Dinter (gest. 1831) und der Kantianer Gräffe (gest. 1808) zu nennen.

Von den Grundideen Rousseaus und teilweise von denen der Philanthropen ging endlich der Begründer der neuern P., Joh. Heinr. Pestalozzi (gest. 1827), aus; nur wollte er die allgemeine Menschenerziehung, welche allein der Natur folgen darf und in allen Menschen den Grund der höhern Bildung legen muß, neben der besondern Standes- und Berufsbildung, nicht im feindlichen Gegensatz gegen diese pflegen. Allgemeine Emporbildung der natürlichen Menschenkräfte war ihm für die erstere, welche er vorzugsweise bearbeitet hat, das Ziel und die Aufgabe; das Ausgehen von der Anschauung, der lückenlose Fortschritt bei fester Einprägung des durchgearbeiteten Lehrstoffs, stets parallele Entwickelung des Erkenntnis- und des Sprachvermögens sind die Grundzüge seiner Methode. Zahl, Form und Sprache bezeichnet er als die Grundformen der geistigen Anschauung, aus denen er die großen Gebiete des Unterrichts ableitet. Unterricht und Erziehung werden überall in die engste Beziehung gesetzt. Das eigentliche Gebiet, auf dem Pestalozzis P. unmittelbaren Einfluß gewonnen hat, ist der niedere, bez. der erste Jugendunterricht; hier aber ist sein Einfluß geradezu unberechenbar groß gewesen, obwohl seine eignen praktischen Unternehmungen es nie zu dauernder Blüte gebracht haben. Neben dem gesunden Kern in seinen oft paradox eingekleideten pädagogischen Ideen trug zu diesem Erfolg die aufopfernde Begeisterung Pestalozzis für das leibliche und geistige Wohl der Jugend das meiste bei. Als Verbreiter und teilweise Fortbildner seiner Ideen sind besonders Zeller, v. Türk, Plamann, Fröbel, Blochmann, Harnisch, Diesterweg auf praktischem, Fichte und Herbart auf theoretischem Gebiet zu nennen. Fichte (gest. 1814), welcher im Winter 1807–1808 seine berühmten Reden an das deutsche Volk hielt, empfahl in diesen die P. Pestalozzis als die beste Anweisung, der gesunkenen Nation wieder zu neuem und gesünderm Leben zu verhelfen. Er betonte dabei aber zugleich das nationale Element in der Erziehung, welches bei Pestalozzi hinter dem philanthropischen und kosmopolitischen zurücktritt. In dieser Gestalt fand die P. Pestalozzis einen empfänglichen Boden in dem tief gedemütigten preußischen Volk, dessen Lenker, besonders die Königin Luise und der Reichsfreiherr vom Stein, schon vorher auf Pestalozzi aufmerksam geworden waren.

J. F. Herbart (gest. 1841) erweiterte die P. Pestalozzis nicht bloß dadurch, daß er das gesamte Gebiet der Erziehung nach dessen Grundideen zu gestalten unternahm, sondern vertiefte sie, indem er sie auf die Ethik und die Psychologie als ihre natürlichen wissenschaftlichen Unterlagen gründete. Seine pädagogischen Ansichten legt er im Zusammenhang dar in den Büchern: „Pestalozzis Idee eines Abc der Anschauung, untersucht und wissenschaftlich ausgeführt“ (Götting. 1802, 2. Aufl. 1804), „Allgemeine P., aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet“ (das. 1806) und „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ (2. Aufl., das. 1841) sowie in einer Reihe von kleinern Abhandlungen, unter welchen besonders die über „die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ hervorragt. Er teilt die ganze Erziehung in drei Thätigkeiten: Unterricht, Regierung und Zucht, oder auch in Unterricht und Erziehung im engern Sinn und verlangt das innigste Zusammengehen zwischen Erziehung und Unterricht, welche, voneinander getrennt, beide ihr Ziel verfehlen müssen. Dies Ziel ist, zugleich Charakterstärke der Sittlichkeit und Vielseitigkeit des Interesses zu erwecken und so die Anlagen des Geistes nach seinen beiden natürlichen Hauptrichtungen zur gesunden Entwickelung zu bringen. Herbart kann mit Fug als der Begründer der spekulativen P. bezeichnet werden; er zählt unter den Pädagogen der Gegenwart weit über Deutschlands Grenzen hinaus eine treu ergebene Schule, wenn auch anderseits die Begründung der P. auf die ihm eigentümlichen ethischen und psychologischen Ansichten viel Widerspruch und im Kreis der eignen Jünger verschiedene Auffassung erfahren hat. Neben ihm hat unter den großen Philosophen Deutschlands besonders Schleiermacher (gest. 1834) die P. angebaut („Erziehungslehre“, hrsg. von Platz, Berl. 1849). Nach beiden hat E. Beneke (gest. 1856) im engen Zusammenhang mit seinem psychologischen System die spekulative P. fortzubilden gesucht in seiner „Erziehungs- und Unterrichtslehre“ (4. Aufl., Berl. 1877). Wie Herbart, bekämpft Beneke die herkömmliche Lehre von den sogen. Seelenvermögen und lehrt, daß sich die Anlagen aus wenigen, zunächst nur sinnlichen Grundvermögen durch die Spuren der äußern Eindrücke bilden, eine Lehre, die ohne Zweifel einen Kern bedeutsamer Wahrheit enthält und geeignet ist, das Geschäft der Erziehung und des Unterrichts, d. h. der planmäßigen Einwirkung auf das Heranwachsen der sinnlichen Grundvermögen zu geistigen Anlagen und Vermögen, in seiner ganzen Bedeutung erscheinen zu lassen.

Neben diesen Vertretern der philosophischen P. ist eine Reihe von Männern zu nennen, welche, mehr oder minder abhängig von den verschiedenen philosophischen und theologischen Richtungen der Zeit, das Gesamtgebiet der P. systematisch und praktisch bearbeitet haben. So die Schellingianer J. J. Wagner, der die Erziehung als Erregung des jugendlichen Geistes auffaßt, und J. B. Graser mit seinem Buch „Divinität oder Prinzip der einzig wahren Menschenerziehung“ (Bair. 1811; 3. Aufl. 1830, 2 Bde.). So die mehr auf das Praktische gerichteten Pädagogen A. H. Niemeyer in seinen „Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts“ (Halle 1796, 9. Aufl. 1834–39; neue Ausg. von Rein, Langens. 1878–79, 3 Bde.), F. H. C. Schwarz in seinem „Lehrbuch der Erziehung und des Unterrichts“ (8. Aufl. von Curtman, Leipz. 1880–82, 2 Bde.), H. Gräfe in seiner „Allgemeinen P.“ (das. 1845). So die Theologen K. Palmer in der „Evangelischen P.“ (5. Aufl., Stuttg. 1882), G. Baur und der Hegelianer K. Rosenkranz. Auch das katholische [601] Deutschland hat in J. I. v. Felbiger in Schlesien und Österreich, F. Kindermann in Böhmen, J. Overberg in Münster, J. M. Sailer in Bayern u. a. seine ehrwürdigen Vertreter zu dieser Schar von Pädagogen gestellt.

Die Früchte dieser regen Geistesarbeit auf dem Felde der P. für die verschiedenen Gebiete des praktischen Schul- und Erziehungswesens können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. In dieser Beziehung muß der Hinweis auf die Artikel genügen, welche diese einzelnen Gebiete besonders behandeln. Doch muß anerkannt werden, daß der Erfolg dieser Arbeit ein überaus bedeutender für das Leben der modernen Völker und zumal für die leibliche und geistige Erziehung des deutschen Volkes gewesen ist. Besonders ist die Volksschule, bis dahin fast nur eine Forderung, seit den letzten 100 Jahren zu einer geistigen Macht im deutschen Volksleben geworden und zu selbständigem Leben erstarkt, wenn auch noch viele wichtige Fragen, z. B. nach ihrem Verhältnis zu Staat, Gemeinde, Kirche wie zu den Ansprüchen eines weiter gehenden Bildungsbedürfnisses im Volk, der völligen Lösung harren und kärgliche Ausstattung noch an vielen Orten ihr segensreiches Wirken hemmt. Neuerlich sind auf dem Gebiet des höhern Schulwesens die Realschulen und neben ihnen die gewerblichen und landwirtschaftlichen Fachschulen den ältern humanistischen Gymnasien an die Seite getreten. Wenn auch ihre Organisation bis dahin noch nicht alle Schwankungen überwunden hat, so ist doch ihre Grundform an sich als bewährt und gesichert anzusehen. Die Gymnasien, als wesentlich hervorgegangen aus dem Humanismus der frühern Jahrhunderte, haben sich den neuern pädagogischen Bewegungen gegenüber am meisten zurückgehalten und selbst hier und da feindlich gestellt. Sie halten noch immer entschieden an der Beschäftigung mit dem klassischen Altertum als der Grundlage ihrer unterrichtlichen und erziehlichen Thätigkeit fest. Aber einerseits ist dieses Gegengewicht gegen die Überstürzungen der theoretischen P. oft sehr heilsam gewesen, anderseits hat sich auch die Auffassung des klassischen Altertums geschichtlich vertieft und dadurch dem Leben der Neuzeit angenähert, dem überdies auch nach realistischer Seite hin nicht unerhebliche Zugeständnisse (durch Aufnahme der Physik, der neuern Sprachen, Abschaffung des Lateinsprechens etc.) im Lehrplan der Gymnasien gemacht worden sind. Auch für die Mitarbeit an den ganz der Neuzeit angehörigen Naturwissenschaften, den gewerblichen Bestrebungen der Gegenwart etc. hat sich diese gemäßigt humanistische Vorbildung noch immer als der realistischen mindestens ebenbürtig bewiesen. Für diejenigen Berufsarten, welche ihre Wurzeln weiter zurück in die Vergangenheit erstrecken, darf sie noch immer als unerläßlich bezeichnet werden. Ganz besonders ist die neuere Zeit fortgeschritten auf dem Gebiet der weiblichen Erziehung; wenn auch Maß und Richtung der Ausbildung, welche der weiblichen Jugend vorzüglich in den auf Erwerb angewiesenen mittlern Ständen gegeben oder wenigstens zugänglich gemacht werden soll, noch vielfach Gegenstand streitiger Verhandlung sind, so ist doch, während die weibliche Jugend des niedern Volkes an allen Wohlthaten der öffentlichen Schule teilnimmt, auch für die höhere Ausbildung der Mädchen in Deutschland ein sicherer Grund gelegt, der eine gesunde Fortentwickelung zuversichtlich erwarten läßt. Einen folgenreichen Bund ist die neuere P. mit der Heilkunde eingegangen, aus dem für jede der beiden Wissenschaften neue Zweige (Schulhygieine, Erziehungshygieine; Heilpädagogik für Viersinnige, Schwachsinnige etc.) erwuchsen. – Nach allen Seiten hin zeichnet das die P. unsrer Zeit vor allen ihren bisherigen Erscheinungsformen aus, daß sie überall und zumeist in Deutschland als eine Angelegenheit von hervorragender nationaler Bedeutung auftritt und daneben doch nach einer allgemein wissenschaftlichen, anthropologischen Grundlage sucht. Das rege Leben auf dem Gebiet der P. bekundet neben der allerwärts gesteigerten Fürsorge der Regierungen für das Schulwesen die vielverzweigte Vereinsthätigkeit des Lehrerstandes, die freilich oft die Interessen des einen Zweigs des Erziehungswesens in Spannung gegen die andern zeigt, aber doch auch einen freien Austausch der pädagogischen Ideen in weitern und weitesten Kreisen (internationale Kongresse für das Unterrichtswesen zu Brüssel 1880, zu London 1884) zu vermitteln strebt. Nicht minder spiegelt sich der Aufschwung der modernen P. in der pädagogischen Litteratur, wenn auch eingeräumt werden muß, daß unter der fast übergroßen Menge pädagogischer Schriften neben dem Trefflichen und Tüchtigen recht viel Oberflächliches und Ephemeres sich findet (vgl. „Pädagogischer Jahresbericht“, begründet von Nacke u. Lüben, Leipz. 1846 ff.; seit 1871 hrsg. von Dittes, seit 1886 von Richter).

Außer den bereits erwähnten Schriften über P. führen wir hier noch folgende als bemerkenswert an: Kant, Über P. (hrsg. von Rink, Königsb. 1803); Denzel, Einleitung in die Erziehungs- und Unterrichtslehre (Stuttg. 1825–35, 3 Tle.); Schwarz, Das Leben in seiner Blüte, oder Sittlichkeit, Christentum und Erziehung in ihrer Einheit (Leipz. 1837); Strümpell, Die P. der Philosophen Kant, Fichte, Herbart (Braunschw. 1843); Derselbe, Erziehungsfragen (Leipz. 1869); Derselbe, Psychologische P. (das. 1879); Ziller, Die Regierung der Kinder (das. 1857); Derselbe, Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht (2. Aufl., das. 1883); Th. Waitz, Allgemeine P. (2. Aufl., Braunschw. 1875); Stoy, Encyklopädie der P. (2. Aufl., Leipz. 1878); H. Kern, Grundriß der P. (4. Aufl., Berl. 1887); Vogel, Systematische Encyklopädie der P. (Kassel 1881); Schumann, Lehrbuch der P. (8. Aufl., Hannov. 1887, 2 Tle.); Schiller, Handbuch der praktischen P. (Leipz. 1886); K. v. Raumer, Geschichte der P. seit dem Wiederaufblühen klassischer Studien bis auf unsre Zeit (5. Aufl., Gütersloh 1877–80, 4 Bde.); K. Schmidt, Geschichte der P. (4. Aufl. von Dittes und Hannak, Köth. 1886 ff., 4 Bde.); Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland (Leipz. 1885); Specht, Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland (Stuttg. 1885); Schiller, Lehrbuch der Geschichte der P. (Leipz. 1887); Schmid, Encyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens (Gotha 1857 bis 1876, 11 Bde.; 2. Aufl., Gotha u. Leipz. 1877 ff., fortgesetzt von Schrader); Buisson, Dictionnaire de pédagogie (Par. 1880–87, 4 Bde.); Sander, Lexikon der P. (2. Aufl., Bresl. 1888); Vogel, Geschichte der P. als Wissenschaft (Gütersl. 1877).